Auf den billigen Plätzen: Promming

  

Erste Male: Promming. Also, nicht einfach ein Konzert der Proms anhören, sondern von da, wo es die echten Fans tun, die Prommers: ganz oben unterm Dach der Royal Albert Hall. Stühle gibt es hier nicht, darum nutzen manche Leute ihre Jacken oder eine Zeitung als Unterlage. Die meisten aber sitzen einfach auf dem Boden – oder stehen vorne am Geländer, bei dem in jedem Metallstab das goldene A für Albert glänzt.

Unten spielt das Mahler Chamber Orchestra Stravinsky, hier oben schlüpfen ein paar Spätankömmlinge noch schnell aus den Schuhen, es hat den ganzen Tag geregnet. Ein älterer Mann knistert vorbei – er trägt statt Strümpfen Plastiktüten in seinen Schuhen. Wahrscheinlich hängen die Socken irgendwo an einem Treppengeländer, vielleicht da hinten, wo die drei aufgespannten Schirme auf dem Boden stehen und ihre Besitzer darunter liegen als hätten sie Angst vor Sonnenbrand. 

Der Klang hier oben ist kein Stück schlechter als auf einem der regulären Plätze – genau so rund, genau so klar. Aber wir hier oben (und die zweite Gruppe Prommers, auf Stehplätzen direkt vor der Bühne) haben nur £5 für unsere Karten bezahlt. Stundenlang stellen sich manche am Tag des Konzerts dafür an; ich hab wegen des Regens einfach kurz vor Beginn vorbeigeschaut – und Glück gehabt: kein Anstehen, nur fünf Pfund bezahlen und vier Stockwerke hochlaufen.

Umbaupause von Stravisnky zu Beethoven, ein paar Meter weiter hantieren zwei Mädels mit ihren Stäbchen über den Resten ihres Sushi-Picknicks hin und her. „Neulich saß ich hinter jemandem, der hatte eine Partitur dabei und hat die ganze Zeit mitgelesen,“ erzählt der Mann, der neben mir an der Wand lehnt. 

Bücher und Strickzeug sind keine Seltenheit, auch ein Schachbrett würde mich nicht überraschen. Schließlich kann diese Mischung aus Hochkultur und Rumfläzen kaum jemand so gut wie die Engländer: Shakespeare in einer Schlossruine mit Wein aus Plastikbechern. BYOB-Sinfoniekonzert im Park, mit Picknickdecke und Regencape. Musiker in Abendgarderobe spielen für Zuhörer in Jeans und ohne Schuhe. 

Unten schlägt der Konzertmeister am Flügel einen Ton an, damit das Orchester stimmen kann – ein „Bravo“-Ruf auf den billigen Plätzen, Gelächter und Applaus in der ganzen Halle. Dann kommt Leif Ove Andsnes, setzt sich an den Flügel und es wird wieder ruhig. Beethoven, Klavierkonzert Nr. 3. Großartig, ob im Sitzen, Stehen oder Liegen; ob vorgebeugt oder zurückgelehnt. 

Ich zieh mir auch mal die Schuhe aus.

It’s complicated

georgsband chor ipad

Der 9. Mai mag vorbei sein, aber das Nachdenken über das Kriegsende und wie man es in Russland feiert noch nicht. Denn am 19. hat mein Chor hier sein erstes Konzert der Saison, und seit Probenbeginn im Januar bedeutet das: viel Textübersetzen, viel Nachdenken und manchmal auch ganz schön schlucken müssen.

Denn in der zweiten Hälfte (erste Hälfte allerlei Rachmaninow, kannte ich vorher als Chorkomponist gar nicht, dabei ist „W Molitwach neussypajuschtschuju“ wirklich schön und auch erfreulich komplex) singen wir Lieder über den Zweiten Weltkrieg. Siegeslieder, Partisanenlieder, Lieder von der Sehnsucht, der Krieg möge endlich aufhören.

„Das sollen nicht nur russischen Lieder sein, wir sind ja ein internationaler Chor,“ hatte unser Dirigent Anfang des Jahres gesagt, „also bringt mal alle was mit, was da zu der Zeit in eurem Land populär war – auch Katrin.“ Wir kennen uns jetzt ein gutes Jahr, und ich weiß, das ist sein Humor, seine Art zu zeigen: Du bist hier nicht „die Anderen“, egal, woher Du kommst.

„Eure Hitler-Attentäter, was haben die denn so gesungen?“

Überhaupt hört man hier Russen sehr viel öfter von „den Faschisten“ reden oder von „Nazi-Deutschland“, wenn das Gespräch auf den Krieg kommt. Immer schön mit Präfix. Das habe ich, zum Beispiel in England, oft ganz anders erlebt. Und sicherheitshalber kommen in der Probenpause auch noch ein paar Mitsängerinnen vorbei und sagen: „Versteh ihn nicht falsch, das war ein Scherz, ihr hattet ja sicher auch Lieder gegen die Nazis.“ – „Genau, eure Hitler-Attentäter, was haben die denn so gesungen? Bringste halt ein Lied von denen mit.“ Ich möchte sie alle umarmen.

Dass das Ganze dann doch nicht so flauschig und einfach ist, wird klar, als mehr Lieder zusammenkommen. „Wetscher na Rejdje“ singen ist einfach, „Zhuravli“ auch. Schwieriger wird es schon bei „Swjaschtschennaja wojna„, dem Lied vom „Heiligen Krieg“, mit drastischen Sprachbildern und viel Heldenpathos. Das Lied, bei dessen Titel Google Translate der Einfachheit halber schlicht „Dschihad“ ausspuckt.

“Wir können doch Lili Marleen nicht auf Deutsch singen.“

Und parallel das Hin und Her über den Chor-Mailverteiler, von „Wir können doch Lili Marleen nicht auf Deutsch singen, ich weiß, dass das auch SS-Männer gesungen haben“ – „Aber im Text geht es um Kriegsmüdigkeit, Marlene Dietrich hat es für die alliierten Truppen gesungen“ bis zu „Konzertkleidung: schwarz und lang, im zweiten Teil wäre es schön, wenn alle ein Georgsband anstecken“. Oh.

Das Georgsband, schwarz und orange, ist aus einem Militärorden entstanden. Es war lange Zeit ein Symbol für die Leistung der sowjetischen Armee im Zweiten Weltkrieg und für den Sieg allgemein. Dann kam der Krieg in der Ukraine, und plötzlich trugen es die putintreuen Politiker, die Separatisten in der Ostukraine, die Krimnaschisten, ganz demonstrativ. Letzten Mai hat eine Cafékette jedem Kassenbon einen halben Meter Bändel beigelegt. Wodkaflaschen bekommen es um den Hals geknotet, damit sie sich besser verkaufen. Es weht auf dem offiziellen Kalender, den der Kreml an Journalisten verteilt. Viele Gründe für Unbehagen. Ich möchte das nicht tragen.

„Willst Du die Veteranen nicht ehren?“

Es folgen Gespräche, in zwei Varianten. Die mit anderen Ausländern sind kurz: „Ich möchte das nicht tragen.“ – „Klar, würde ich auch nicht.“ Die mit Russen sind meist länger: „Ich möchte das nicht tragen.“ – „Aber bist Du nicht froh, dass Du nicht im Faschismus aufwachsen musstest? Willst Du die Veteranen nicht ehren? Ist das nicht schöner, wenn’s einheitlich aussieht? Ist doch egal, wer es sonst noch trägt, solange wir das Richtige damit meinen.“ Doch. Gerne. Weiß nicht. Nein.

Dass Uniformität etwas Erstrebenswertes ist – der Glaube endet bei mir kurz nach Chorkleidung. Die kann ich mir noch herleiten aus „liebes Publikum, ihr sollt nicht gucken, ihr sollt hören.“ Aber schon das britische Klima, bei dem sich rechtfertigen muss, wer keine Mohnblume ans Revers (oder Trikot) steckt, ist mir suspekt. Genau wie „wir feiern den Sieg über ein totalitäres Regime mit einer Runde Gruppenzwang“, schon vor Ukraine, Krim und Putin-Propaganda.

„kleinstmögliches Zeichen von Opposition“

Das Ganze ist nicht gelöst. Die Diskussion geht weiter, vor kurzem hat zum ersten Mal eine Russin aus dem Sopran diplomatisch-vorsichtig gemailt, dass das Bändel vielleicht negative Reaktionen im Publikum auslösen könnte aufgrund dessen, wie es in jüngster Zeit verwendet wurde.

Eine Bekannte, ebenfalls Russin, erzählt, dass sie und ihre Freunde aus Prinzip kein Georgsband tragen, „als kleinstmögliches Zeichen von Opposition“. Und ich erinnere mich regelmäßig daran, dass auch das hier schon ein Wert an sich ist: Dass wir diese Debatte führen, und dass wir, mit Bändel oder ohne, im Jahr 2015 alle zusammen da vorne stehen können und zusammen Musik machen.

Chorprobe in Babylon

Kraniche Pixabay

Wer glaubt, dass es bei einer Chorprobe ums Musizieren geht, um die richtigen Harmonien, Artikulation, Dynamik, der hat Recht, aber halt nur halb. Es geht auch und vor allem um die Pausen. Das unterscheidet Sänger nicht groß von Bolzplatzhelden und Golfern am 19. Loch.

Beim Moscow International Choir sind die Pausen erst recht wichtig, weil sich da die russischen Sänger Zeit nehmen, uns anderen noch mal zu erklären, was der Dirigent eben gewollt hat, wie ein Wort auf drei U-Laute enden kann oder was Бемоль (beMOLL) bedeutet. (Natürlich nicht b-Moll, das wäre ja einfach.)

Sprachlich treffen wir uns dazu meist im Englischen, auch wenn die wenigsten von uns Muttersprachler sind. Und dann kommt, was ich in all seiner Kreativität und Absurdität liebe: Der Versuch, aus Vokabeln und Anekdoten, aus gemeinsamen Bezügen (also bei Dirty Dancing… also in der Bibel…), aus Pantomime und Ausdruckstanz, aus „Sag das Wort mal in Deiner Sprache“ und „Kennst Du das Wort noch in einer anderen Sprache?“ ein gemeinsames Verständnis zu erreichen. Der folgende Dialog ist echt:

Katja: „Hey, Katrin, I’m trying to explain to Cathérine what this song is about. Are storks and cranes the same birds?“

Katrin: „Don’t think so, no – storks bring babies. Putin flew with cranes.“

Cathérine: „But what are they in French, do you know?“

Katrin: „No idea.“

Cathérine: „Can you say the German words?“

Katrin: „Storch und Kranich.“

Cathérine: „Never heard those before.“

Katja: „There is also a third kind, they are grey and walk on the shore to find food.“

Katrin: „Yes, aren’t they herons? They’re called ‚Reiher‘ in German.“

Cathérine: „Ah, heron, that’s actually the same in French, héron. Is the song about them?“

Katja: „No, the bird on the shore is ‚tsapplya‘ in Russian, but this song is about a flock of zhuravli. May be cranes, may be storks. Can you look it up?.“

Katrin: „Sure… it says ‚grue‘, does that make any sense?“

Cathérine: „Ah, grue – yes of course. And what about them?

Katja: „They fly past and remind the singer of friends who have died in the War.“

Kein Problem, wenn der Lösungsweg komplexer ist als die Ausgangsfrage. Darum sind wir ja hier (und wegen der Musik).

 

Endlich Impftag!

Neulich nachmittags bei Freunden: Wir reden über Bücher, welche sich aktuell so lohnen, wo man sie in Moskau am besten kauft. Der Blick schweift über die Schrankwand, dann kommen wir auf Kinderbücher zu reden, und schließlich liegt auf dem Tisch ein Liederbuch für Schulkinder. Aus Sowjetzeiten, die Schwester des Gastgebers hatte es damals im Tornister. Und darin ein Lied übers Impfen.

impfsong russland 1976

2015 hat Anti-Vaxxers in den USA und einen tödlichen Masern-Ausbruch in Berlin. 1976 hatte Lieder, in denen Musterschüler von Moskau bis Wladiwostok sehnsüchtig darauf warteten, endlich mit der Impfung dran zu sein.

Wenn man unterstellt, dass der Impfkalender in Russland seitdem zumindest in seinen Grundzügen konstant geblieben ist, war das entweder die Impfung gegen Masern/Mumps/Röteln, oder eine Auffrischungsimpfung gegen Tuberkulose bzw. Diphtherie und Tetanus. So oder so sind die Drittklässler im Buch natürlich begeistert hingerannt, den Text auf den Lippen:

Zur Impfung!
Dritte Klasse, dritte Klasse, dritte Klasse!
Habt ihr es gehört?
Das sind wir, das sind wir, das sind wir!

Ich habe keine Angst vor Spritzen
Wenn es nötig ist, lass ich mich impfen
Zur Impfung! Sie rufen uns, Brüder!

Nur ein Feigling hat Angst davor
Zur Impfung zum Arzt zu gehen.
Ich lächle und scherze,
Wenn ich eine Spritze sehe.

Zur Impfung!
Dritte Klasse, dritte Klasse, dritte Klasse!
Habt ihr es gehört?
Das sind wir, das sind wir, das sind wir!

Ich habe keine Angst vor Spritzen
Wenn es nötig ist, lass ich mich impfen
Zur Impfung! Sie rufen uns, Brüder!

Trauer

Fresien

Die „Trauer“ und den „Marsch“ haben sich die Russen aus dem Deutschen entlehnt. „Траурный марш“ [traurni marsch] heißt also einer der vielen Facebook-Termine, der am Samstag Morgen die Runde macht: Zum Gedenken an Boris Nemzow, der am Abend vorher erschossen worden ist, werden sich später Zehntausende Menschen treffen – während ich am Rechner sitze, arbeite und über Trauer nachdenke. Über die große, sichtbare um Nemzow, und über die sehr viel weniger öffentliche in den Tagen zuvor.

Anfang der Woche ist Sascha gestorben, unser Pianist beim Moscow International Choir. Tot umgefallen, keiner weiß warum. Eine bedrückende Probe, ein wenig Rat von russischen Freundinnen (Blumen in gerader Zahl, Kopftuch), und dann ist es Freitag und wir stehen in der Auferstehungskirche, zwei Fußminuten von der St. Andrew’s Church, in der Sascha den Chor durch unzählige Abende begleitet hat, beim Üben und im Konzert. Und nicht nur uns, auch andere Ensembles, außerdem hatte er seine Schüler am Konservatorium. Viele junge Gesichter also hier im Gottesdienst. Sascha selbst war noch keine 30.

Fast 200 Menschen stehen um den offenen Sarg; in russischen Kirchen gibt es keine Bankreihen, wie wir sie kennen – höchstens am Rand ein, zwei Sitzgelegenheiten für alte Menschen. Die Gemeinde singt auch nicht, stattdessen wechseln sich der Priester und ein Chor ab. Im Alltag sind das oft gerade mal drei Sänger, heute aber ein ganzes Dutzend. Profimusiker aus seinem Freundeskreis, in eine Ecke gequetscht, die erkennbar für deutlich weniger Leute gedacht ist. Zwischen ihren ersten Tönen und den letzten, zu denen sie später singend den Sarg aus der Kirche tragen, bin ich vor allem eines: überwältigt.

Nicht, weil ich nicht gewusst hätte, wie wichtig Inszenierung und Mystik in der orthodoxen Kirche sind – die Wände voll dunkler Ikonenmalerei, das Gold überall, das Kerzenlicht, die dicken Weihrauchschwaden, immer wieder. Aber jetzt, wo die russischen Chormitglieder uns „Internationals“ dezent und wortlos durch den Gottesdienst dirigieren, hier noch ein Kopftuch leihen, da ein kleines Blatt Papier anreichen, damit einem die Kerze nicht auf die Hand tropft; jetzt, wo diese urtümlichen Harmonien durch den Raum klingen, wo so viele Blumen auf dem Sarg liegen, dass sie herabzurutschen drohen, jetzt, wo wir nicht nur gegen die Kälte die Arme um uns verschränken – jetzt frage mich, ob das alles wohl hilft.

Der Familie, vor allem den Eltern, die hier nun seit fast zwei Stunden ihren toten Sohn ansehen müssen. Den Freunden, die noch mehr mit ihm verband als ein, zwei mal die Woche gemeinsame Musik – und die nun nach und nach zum Sarg gehen, Sascha auf die Stirn küssen und sich bekreuzigen. So offen sichtbare Trauer, ein so lang hingezogener Abschied, vor den Augen der anderen, ohne Rückzugsraum. Spendet das Trost, wenn es das ist, was man kennt und wo man hineingewachsen ist?

Ein paar Tage später kommt die Frage wieder hoch. Eine Woche ist es her, dass wir von Saschas Tod erfahren haben. Heute war es ein anderer offener Sarg, an dem eine andere Mutter stand – Dina Eidman, die sich mit 88 Jahren von ihrem Sohn, Boris Nemzow, verabschiedete.

Von der Redaktion fahre ich direkt zur Probe, natürlich reden wir über Sascha – seine Konzertreisen, noch vor kurzem, seine Geduld mit uns Amateuren. Zu meinem Ausländer-Blick auf die Trauerfeier sagt eine russische Freundin mit viel Europa-Erfahrung: „Ich weiß, anderswo ist vieles verdeckter, dezenter. Für mich fühlt sich das an wie Verdrängung, als wollte man alles schnell hinter sich bringen. Wir trauern wie die Italiener – intensiv und offen.“

Den Flügel hat jemand vor den Altar geschoben. Wo sonst Sascha saß, steht heute ein aufgeschnittener Wasserkanister mit weißen Blumen.

Ich liebe Öl, ich liebe Gas

Vor nicht einmal zwei Jahren hat einer der bekanntesten DJs Russlands ein Musikvideo namens Нефть (Öl) veröffentlicht. Damals war das Lied von DJ Smash Comedy, eine humorvolle Anspielung darauf, wie wichtig Öl für den russischen Staatshaushalt ist.

Hört man sich die Spaßmucke heute noch mal an, drängen sich ernstere Töne auf. Denn seit der Veröffentlichung des Videos geschah, nur zur Erinnerung, das hier:


source: tradingeconomics.com

Vor dem Einbruch des Ölpreises jedenfalls sah musikalischer Humor in Russland so aus: Eine Frau singt, wie sehr sie Öl liebt, und ist damit nicht alleine. Shoppingtrips, Partys und Teestunden auf dem Lande, alles nichts ohne Öl. Bankräuber erbeuten pralle Ölsäcke. Bettler freuen sich über einen Hut voll Öl. Öl in Champagnergläsern und in Lipglossfläschchen.

Der großen poetischen Tragweite wegen sei hier auch noch in Auszügen der Text der Szene wiedergegeben, in der sich unsere Heldin zwischen zwei Männern wiederfindet. Natürlich löst sie den Konflikt dank Patriotismus. Auch das kommt einem, 2015 in Russland, nicht komplett unbekannt vor.

Mann 1: Liebst du mich?
Frau: Ich liebe Öl.
Mann 1: Öl, das bin ich!
Frau: Ich liebe dich!

Mann 2: Ich habe Gas.
Frau: Ich liebe Gas!

Mann 1: Du liebst aber doch schon Öl!
Frau: Ich liebe Öl! Öl? Gas? Öl? Gas? Öl? Gas? Öl? Gas? Öl? Gas? – Ich liebe Russland!

(Wer das Video wegen seiner Ländereinstellungen nicht sehen kann, hat vielleicht hier mehr Glück.

Putin der Woche (V)

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Gesehen: Im Musikvideo der sibirischen Sängerin Maschani. Auch wenn sie darin eine Doppelrolle hat – als allegorisches Russland in idyllischer Sonne und als Ukraine in höchster Not zwischen Backsteinmauern – ist Putin die eigentliche Hauptfigur.

Begleitung: Die Zeichnung bleibt auf der Bank zurück, nachdem das Original (mehr oder weniger) auf dem Motorrad herbeigerollt ist und die Heldin als Sozia mitgenommen hat.

Text: „Du bist Putin, du bist so Putin/Ich will bei dir sein/Ich schreie nach dir/Mein Putin, mein lieber Putin/Nimm mich mit/Ich will bei Dir sein.“ Den ganzen Text gibt es hier; in Interviews hat Maschani außerdem noch ein paar Weisheiten zu Krim und Ukraine (Überraschung: Nur Putin kann ihr helfen) nachgelegt.

Subtext: Erlöser! Held! Heiland! Wer die Krim russisch macht, der kann auch meine Albumverkäufe in die Höhe treiben. Putin, mein Putin – komm, die dritte Million Youtube-Aufrufe schaffen wir jetzt auch noch!

Oben-Ohne-Punkte: 0/10. Aber beim Eurovision Song Contest wären zwölf Punkte aus Weißrussland eine ziemlich sichere Sache.

Eine Konzert-Saison mit ForScore

Die Mitsängerinnen hatten Fragen, als die neue Saison begann. Denn auf den Tipp eines holländischen Dirigenten-Bekannten hin (Danke, Danny!) hatte ich diesmal keine Chormappe dabei, sondern nur das iPad Mini, und darauf die App „ForScore“. 5,99 Euro für das Privileg, nicht jede Woche anderthalb Kilo Noten zur Arbeit und dann zur Probe zu schleppen? Definitiv den Versuch wert. Hier eine kleine Bilanz.

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„Hast Du keine Angst, dass die App abstürzt?“

Nein, jetzt nicht mehr. Aus dem Stand wäre ich sicher nicht von analog zu digital gewechselt, aber nachdem in den Proben immer alles gut ging, hat sich ForScore auch in den vier Konzerten zum Ende der Saison bewährt. Die größten Schwierigkeiten hatte ich anfangs noch mit dem schlichten Umblättern, denn wer wischt, landet damit schon mal in einer anderen Ansicht.

Der Trick ist – vorher mal die Anleitung lesen hätte geholfen – einfach auf die Seite zu tippen. Rechts blättert vor, links zurück, fehlerfrei.

„Woher weißt Du dann, welche Takte wir gestrichen haben?“

Eine Stärke von ForScore ist, wie leicht man Anmerkungen machen kann. Denn damit aus einem Notenblatt in einer Sängerhand auch Musik wird, braucht es in der Praxis viele Ergänzungen: Wo atmen wir? Wie artikulieren wir ab, also: Sprechen wir die Schlusskonsonanten auf die Eins oder auf Eins-und? Ist das Forte ein Forte oder doch eher ein Fortissimo? Diese 16 Takte Überleitung brauchen wir aber nicht, oder? Deutsches Latein [Ag-nus dee-i] oder italienisches Latein [An-jus dää-i]? (Oder, Gott behüte, russisches Latein, eine inoffizielle, aber populäre Mischung aus italienischen Vokalen und prinzipiell deutschen, aber im Hals weiter nach hinten gerutschten Konsonanten?)

Eine Textmarker-Funktion, um die eigene Stimme hervorzuheben, eine Tastatur für ausformulierte Anmerkungen und eine große Kollektion gängiger Musikzeichen hat ForScore als Menüpunkte. Und wer seine Legatobögen nun partout gefettet und türkis haben will, kann sich selbst das einstellen.

forScore App Preview from forScore App on Vimeo.

„Und wenn im Konzert der Akku plötzlich leer ist?“

Selbst mit Bildschirm auf hellster Stufe braucht das Notenblättern nicht viel Strom. Mit 100 Prozent zum Konzert kommen, kurz noch mal ein paar Stellen ansingen, später das ganze Konzert, und noch nicht mal die 70 Prozent erreicht – so war das diese Saison, und unser Programm war nicht gerade kurz.

„Fühlt sich das nicht komisch an?“

Jetzt nicht mehr. Klar ist alles Gewohnheit, und manche Anmerkungen hätte ich mit dem Bleistift sicherlich besser hinbekommen als mit dem Finger auf dem Display. Dafür ist es extrem einfach, die Noten in die App zu laden und für verschiedene Konzert-Abläufe Setlists mit dem jeweiligen Ablauf der Titel zu machen.

Außerdem ist das iPad nicht nur leichter, sondern auch leiser: „Nicht in die Pianostellen reinblättern“ muss jedenfalls kein Dirigent mehr zu mir sagen.

Scratch Messiah in der Royal Albert Hall

Royal Albert Hall Scratch Messiah 2014 panorama 

Einmal das Foto großklicken. Von der Orgel nach rechts, bis da, wo die Logen anfangen. Jetzt ein Stück nach unten, noch ein bisschen, stop: Da irgendwo stehen wir, Katharina und ich, in roten Outfits, dem Dresscode für den Alt beim „Scratch Messiah“ in der Royal Albert Hall. Und ja, es fällt mir auch ein paar Tage danach noch schwer, nicht jedes Mal „Royal Fucking Albert Hall“ zu sagen, so grandios war das Gefühl, dort zu stehen und zu singen.

Über das Scratch-Prinzip hab ich hier schon mal ausführlicher gebloggt – Musiker studieren zuhause ein Stück ein und treffen sich dann, um es aufzuführen. Manchmal gibt es auch noch eine einzige gemeinsame Probe, aber nicht bei der Londoner Version von „The Really Big Chorus„. Jacken abgeben, noch mal zum Klo, Sitzplatz finden, sich den Nebenleuten vorstellen, Trinkflasche
unter den Stuhl stellen und los. Scratch as scratch can.

Völlig richtig natürlich, dass die ersten Chor-Noten vom Alt gesungen werden. Das Orchester ist unerschütterlich – muss es auch sein, denn 3000 Sänger, das ist keine Anzahl, die zum Allegro oder gar zur spontanen Tempoverschärfung neigt. Erst recht nicht, wenn sich manche in die schwierigen Stellen dann doch noch ein bisschen reinfühlen müssen. Aber auch das kennen Chorleute, nicht nur vom Scratch: Manchmal markiert man eben nur und verlässt sich auf die anderen.

Katharina und ich haben beide schon ein paar Messiasse hinter uns, es fluppt also an diesem Abend meistens, auch bei frickeligen Sätzen. Wie viel da jetzt Können ist, wie viel Adrenalin und wie viel Inspiration durch die heiligen Hallen, den genius loci? Komplett egal. Was bleibt, sind das Gefühl beim Schlussapplaus und die Bilder.

(Danke an Anja für das Panorama-Foto obendrüber!)