Eine handliche kleine Schmiergeld-Preisliste

Wir müssen mal über Korruption reden. Nicht, weil Russland mit diesem Problem auf der Welt alleine da stünde – wer aus dem Rheinland kommt, kennt die Redensart „Mer kennt sich, mer hilft sich“, mit der der Kölsche Klüngel umschrieben wird. Eine Hand wäscht die andere, in Mülheim wie in Moskau. Aber das Ausmaß ist hier dann doch ein anderes. 

Im Korruptionsindex von Transparency International steht Russland auf Platz 131 von 176. Das klingt abstrakt, bedeutet aber konkret: Jeder, den du hier ansprichst, kann eine Geschichte erzählen zum Thema Filz, Bestechung, Schmiergeld. Eine Geschichte von „Lässt sich das vielleicht auch anders lösen?“ und von „Na, dann sagen Sie doch mal, was Sie sich so vorstellen.“ Eine Geschichte von „Das geht auch einfacher, aber das kostet dann.“

Gut, erzählen kann jeder. Darum habe ich in der folgenden Liste nur die Fälle verbloggt, die meine unmittelbaren Freunde, Bekannte, Kollegen erlebt haben. Kein Hörensagen, kein „der Kollege eines Schwagers“. Nur ein paar Anekdoten aus dem unmittelbaren Umfeld, gesammelt in allerlei Gesprächen. Anonymisiert, zwangsläufig. Aber vielleicht ja trotzdem ganz interessant, was die verschiedenen Preisklassen und die Abwicklung angeht. Oder wüsstet ihr, wie das funktioniert, wenn man einen Streifenpolizisten bestechen will?

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Problem: Du möchtest beim Moskauer Marathon starten. Dazu braucht man ein Gesundheitszeugnis, aber es ist schon Samstag und der Lauf ist am Sonntag.

Du suchst bei Spravka.ru eine Adresse in deiner Nähe raus, gehst in einen Hinterhof, eine Treppe herab in einen Keller. Dort sitzt eine Frau im weißen Kittel. Sie fragt dich, ob du gesund bist. Wenn du das bestätigst, stellt sie dir ein Gesundheitszeugnis aus. Untersuchung: keine. Preis: 400 Rubel (5,70 Euro).

Problem: Ein Jahr später, wieder Marathon. Du hast aber keinen Bock, für das Gesundheitszeugnis so viel Aufwand zu betreiben wie letztes Mal. Geht das nicht auch ohne Aus-dem-Haus-Gehen?

Klar. Für 700 Rubel (10 Euro) kommt jemand vorbei und bringt dir ein ausgefülltes, abgestempeltes Gesundheitszeugnis. (Für ein paar hundert Rubel mehr gibt es übrigens auch die Blanko-Variante, auf der du den Namen selber eintragen kannst. Falls mal ein Freund zu Besuch kommt und mitlaufen möchte.)

Problem: Auf deinem Weg zur Arbeit ist eine Baustelle, die Fahrbahn ist deshalb dort im Moment schmaler als sonst. Nun haben dich zwei Polizisten rausgewunken, die gesehen haben wollen, dass du mit einem Rad über die Fahrbahnmarkierung drüber warst. Sie wollen deinen Führerschein behalten.

Du hast gerade nicht so viel Bargeld dabei? Kein Problem, die beiden vertrauen dir. „Kennst du dich hier in der Gegend aus?“ – „Ja, ich fahr hier jeden Tag lang.“ – „Na, dann weißt du ja auch, wo ein Geldautomat ist.“ Den Führerschein halten sie so lange fest, bis du wieder da bist, mit 5000 Rubel (72 Euro) für jeden. Jetzt schön nebeneinander im Auto sitzen und das Geld auf Schoßhöhe rüberreichen, damit die Transaktion von außen nicht zu sehen ist. Fertig, gute Fahrt noch. 

Problem: Du möchtest als Freiberuflerin von zuhause aus arbeiten – legal, also musst du ein Gewerbe anmelden. Das geht aber nicht von einer Privatadresse.

Du suchst dir jemand, der eine Bürofläche hat. Für 3000 Rubel (43 Euro) pro Monat bestätigt er dir schriftlich, dass du in seinem Büro einen Schreibtisch hast und von da aus deinem Gewerbe nachgehst.

Problem: Es ist vier Uhr morgens, ihr wart feiern und seid alle ziemlich angezählt. Vermutlich solltest du dich nicht mehr ans Lenkrad setzen, stattdessen kommst du auf die Idee: Einfach ganz langsam fahren, dann kann ja nichts passieren. Klar, dass das der Polizei auffällt. Sie winkt dich raus, lässt dich pusten, und du bist über dem Erlaubten. Dabei brauchst du dein Auto doch jeden Tag beruflich!

Für eines bist du dann doch noch klar genug im Kopf: Um zu merken, dass die Polizisten nichts dagegen hätten, das hier auf dem kleinen Dienstweg zu regeln. Der eine weist dich auch sofort an, wieder einzusteigen und zum nächsten Geldautomaten zu fahren. Alkoholtest oder nicht, du sitzt wieder am Lenkrad, aber dafür hast du ja jetzt eine Polizei-Eskorte, die hinter dir herfährt. Über 100.000 Rubel (1435 Euro) sind es am Ende, die du abhebst und den beiden übergibst. Viel Geld – aber ein Jahr ohne Führerschein, das hätte dich den Job gekostet.

Problem: Du möchtest heiraten, hast aber unterschätzt, wie viel Vorlauf es braucht, einen Standesamttermin in Moskau zu bekommen.

Wer schwanger ist, bekommt auch kurzfristig noch einen Termin. Also: Umhören, welcher Arzt einem auch unbefruchtet bescheinigt, dass man schwanger ist, ihm 900 Rubel (13 Euro) für eine Bescheinigung geben und sie beim Standesamt vorlegen. Leider fehlt dann ein entscheidender Stempel – wie ärgerlich, denn für die gefälschte Bescheinigung gibt’s kein Geld zurück. Aber bei einem anderen Arzt und für 1200 Rubel (17 Euro) bekommst du schließlich das richtige Attest für die falsche Schwangerschaft. Jetzt wird geheiratet!

Problem: Du bist eigentlich noch nicht alt genug, um Bier trinken zu dürfen. Nun hat eine Polizeistreife einen Freund und dich dabei erwischt, wie ihr auf einem Spielplatz sitzt und genau das tut. Alkoholkonsum im öffentlichen Raum, ihr seid unter 18 – die beiden drohen mit 1000 Rubel Bußgeld, vor allem aber wollen sie eure Eltern informieren.

„Lässt sich das nicht vielleicht auch anders lösen?“ Die beiden Streifenpolizisten zeigen sich durchaus zugänglich für die Idee, die 1000 Rubel (14 Euro) selber einzustecken, statt sie als Bußgeld zu verbuchen. Dein Kumpel hat auch 1000 Rubel dabei, aber noch keine Erfahrung im Bestechen und versucht deshalb, dem einen Mann das Geld direkt in die Hand zu drücken. Großes Hallo, was machen Sie denn da? Der Polizist erklärt: Fallen lassen auf den Boden muss man den Schein. Kurz darauf bückt sich einer der beiden Beamten – ach schau, ein Fundstück. Sowas. Immerhin: Eure Eltern erfahren nichts.

Problem: Deine Zeit in Moskau geht vorbei, du ziehst zurück nach Deutschland und dein Kater soll mit. Doof nur: Haustiere brauchen zur Ausreise allerlei Papiere. Und die bekommt nur, wer in diese eine Klinik weit draußen im Süden von Moskau fährt, dort eine Wartenummer zieht, wartet, das Tier vorzeigt, wieder wartet…. Und du hast mit der Umzugsplanung gerade echt genug um die Ohren.

Gut, dass du dich schon vor einiger Zeit nach einem Tierarzt erkundigt hast, der solche Probleme löst. Damals sollte der Kater kastriert werden – das hat der Arzt dann bei euch auf dem Küchentisch gemacht, nachdem er den mit Mülltüten abgeklebt hatte. Kostenpunkt: 5000 Rubel (72 Euro). Die Bescheinigung bringt der Arzt jetzt sogar für deutlich weniger vorbei: 3000 Rubel (43 Euro), und schon hast du alle nötigen Papiere in der Hand, damit aus dem Haustier ein Reisetier werden kann. 

Problem: Noch eine Auslandsreise, diesmal geht es um Mensch, nicht Tier. Der Urlaub ist gebucht, in ein paar Tagen geht es los – nur der Reisepass ist nicht mehr zu finden. Als russischer Staatsangehöriger weißt du: ein neuer Pass, das dauert einen Monat, außerdem hast du gar nicht die nötigen Unterlagen zur Hand. Und jetzt? Kein Urlaub?

Ein bisschen Recherche im Internet und es findet sich eine Frau, die behauptet, solche Probleme lösen zu können. Ein Anruf, eine Absprache, zur vereinbarten Zeit gehst du zur zuständigen Behörde. Dort nimmt dich deine Kontaktperson in Empfang, unter ihrer Betreuung darfst du an den diversen Warteschlangen stets vorbei zu den Schaltern. Formular hier, Stempel dort, fertig. Dann überweist du deiner Möglichmacherin 30.000 Rubel (430 Euro), quasi als inoffizielle Expressgebühr. Fünf Tage später ist der fertige Pass da.

Tür auf, einer raus, einer rein

Attest Visum Moskau Skoromed

Eine Dönerbude, daneben eine Stahltür ohne Türschild. Durch den neonbeleuchteten Gang, vorbei an dem Verschlag, in dem man Schuhe reparieren lassen kann. Im Lösungsmittelgeruch die Treppe rauf: Zweiter Stock, Anmeldung. Hallo, ich brauche ein Gesundheitszeugnis für ein Visum. Ja, Russlandvisum. Ja, auch einen AIDS-Test. Pass und Meldebescheinigung hier, bitte – da hinten steht mein Name auf Kyrillisch.

Und jetzt? Ah, ein Laufzettel. Die Ärzte warten in ihren Räumen, auf dem Gang davor stehen die Kunden, um sich begutachten zu lassen und dann eine Bescheinigung zu bekommen. Rein in die Plastik-Schuhüberzüge und los.

Vierter Stock, Zimmer vier

– „Guten Tag.“
– „Guten Tag. Die Jacke bitte ausziehen.“
– (…)
– „Sie stellen sich da rein, und dann nach links.“
– (…)
– „Nach links.“
– „Ich steh doch links.“
– „Nach links drehen. Und dann (unverständliche Verben im Imperativ)!“
– „Ich weiß nicht, was das heißt.“

Die Frau im blauen Kittel grinst und stellt sich so vor die Tür der Röntgenkabine, dass ich sie sehen kann. Sie guckt mich an, atmet tief ein und hält dann die Luft an. Ah, danke. Alles klar. Die Röntgenmaschine röntgt den Oberkörper, ich atme aus und komme wieder raus.

– „Sind Sie verheiratet?“
– „Ja.“
– „Hatten Sie schon mal Tuberkulose?“
– „Nein.“
– „Okay, fertig.“

Ein Jahr lang gelten die Visa für uns ausländische Mitarbeiter der Moscow Times, und die einzige Konstante von einem Visum zum nächsten ist, dass sich die Vorgaben und Abläufe jedes Mal ändern. Bisher zum Beispiel musste ich selber mich immer nur um den AIDS-Test kümmern, den Rest hat die Personalabteilung organisiert. Warum das diesmal anders ist? „Die Regeln haben sich geändert.“ Das ist fast so schön wie die Rundmail neulich: „Die Einladungsschreiben für eure neuen Visa verzögern sich wegen einer Verspätung.“

Auf der To-do-Liste, gemailt von der Personalabteilung zusammen mit den Adressen drei autorisierter Kliniken, stehen Krankheiten, die nach anderen Zeiten klingen. Tuberkulose. Syphillis. Lepra, ganz biblisch. Eine Freundin übersetzt die Testliste ins Englische, ich erkenne obskure Begriffe aus dem „Medical Love Song“ von Monty Python. „Weicher Schlanker“ – klingt nach Wiener Kaffeehausspezialität. Weitere Gründe, eventuell kein Russland-Visum zu bekommen: Chlamydien und psychische Probleme.

Vierter Stock, Zimmer neun

– „Sie sind aus Deutschland? Ich hatte in der Schule Deutsch, Moment, ein Wort weiß ich noch: ‚der Zug‘!“
– „Ah, ja, toll, ‚der Zug‘. Und ‚der Arzt‘ sicher auch, oder?“
– „Nein, das Wort kenne ich nicht.“
– „Das heißt врач. Doktor. Wie Sie.“
– „Hm. Haben Sie Allergien?“
– „Ja.“
– „Gegen was?“
– „Staub.“
– „Was für Staub?“
– „Hausgemachter.“ (Was weiß ich, wie „Hausstaub“ auf Russisch heißt. Aber „hausgemacht“, damaschni, das Wort steht hier auf jeder Speisekarte. Also: einmal Stauballergie nach Hausmacherart.)
– „Hausgemacht? Also wie hier im Zimmer?“
– „Ja.“
– „Okay, ich schreibe mal ‚keine Allergien‘. Zeigen Sie mal Ihre Hände.“
– (…)
– „Hände umdrehen.“
– (…)
– „Zeigen Sie mal Ihren Bauch.“
– (…)
– „Zeigen Sie mal Ihren Rücken.“
– (…)
– „Hatten Sie schon mal Hautkrankheiten?“
– (Hatte das nicht jeder? Pubertäre Ekzeme in den Armbeugen. Hitzepickel. Zählen Windpocken?) „Nein.“
– „Okay. Sie schreiben hier Ihren Namen hin, ihr Geburtsdatum, das heutige Datum. Und dann hier unterschreiben.“

Das Zögern bei „Arzt“ da gerade, hieß das jetzt, dass sie gar keine Ärztin ist? Edel geschminkt, weißer Kittel – kann auch eine Kosmetikerin gewesen sein, Händezeigenlassen gehört ja nun zu beiden Berufsbildern. Und so ein Türschild, auf dem „Dermatovenerologe“ steht, ist schnell angefertigt. Vielleicht sogar bei dem Schuster im Erdgeschoss, nebenberuflich.

Andererseits: Macht’s einen Unterschied, so lange ich hinterher meine autorisierte Bescheinigung einer autorisierten Klinik bekomme? Immerhin kostet der Spaß hier bloß 1500 Rubel, also 20 Euro. Beim European Medical Center, wo die Ärzte garantiert Ärzte sind und fließend mehrsprachig noch dazu, sollten dieselben Diagnosen 300 Dollar kosten.

Zweiter Stock, Zimmer sechs

– „Guten Tag.“
– „Guten Tag.“
– „Bitte da hin.“
– (…)
– „Einmal eine Faust machen.“
– (…)
– „Festhalten.“
– (…)
– „Moment noch, das Pflaster. So. Das ist alles.“

Das Röhrchen mit dem Blut bleibt im Zimmer, die blauen Plastikschluppen kommen in den Mülleimer an der Rezeption. Was bleibt? Drei Zimmer, drei Frauen – eine blau bekittelt, eine weiß, eine türkis. Eine Bescheinigung, hoffentlich, in ein paar Tagen.

Über die Strahlendosis dieser Röntgenkiste denke ich jetzt jedenfalls nicht nach, sondern lieber darüber, was an diesem Vormittag wohl der Test auf psychische Probleme war. Die Frage nach der Ehe? (Fliegt raus, wer in Tränen ausbricht, hysterisch lacht oder ein Foto von Putin aus der Handtasche holt?). Oder einfach der ganze Prozess?

klinik gesundheitszeugnis füße moskau