Herr Ober, da ist ein Ladebalken auf meinem Dessert

Ein paar Monate war hier Blogstille, aus technischen Gründen. Es war etwas kaputt, und ich wusste nicht, wie man es repariert – bis mich die geduldigen und auch sonst famosen Leute von Uberspace an die Hand genommen haben und es laientauglich erklärt haben. Danke dafür! Und dann passt es ja auch, dass es im ersten Blogpost nach der technischen Pause um ein Technikthema geht.

Wir waren in Moskau, diesmal nur zu Besuch, und dort an einem Ort, der mich vorher nie gereizt hatte: im White Rabbit, einem Restaurant mit allerlei Auszeichnungen und mit einem Chefkoch, dem man bei Netflix dabei zuschauen kann, wie er Elchlippen zubereitet. Spitzenküche und dann auch noch in Moskau – ich hatte schlimmstes Chichi erwartet, alle Gäste Insta-ready und die Kellner mit auf Kinnhöhe festgetackerten Mundwinkeln. Dass wir es trotzdem versucht haben, liegt an einer Freundin, die dort schon mehrfach gut, aber vor allem auch entspannt gegessen hatte.

„Kontrast“ heißt das Probiermenü, die Gänge „Weder Fisch noch Fleisch“ (Speck-Ersatz aus Kokos mit einer kandierten Lindenblüte oben drauf), „Reich – Arm“ (angebratener Weißkohl in einer Sauce aus Champagner und Kaviar) oder „Ende – Anfang“ (mit einer Wachtel und einem Ei, Variation des „Was war zuerst da“). Es ist unglaublich lecker und das Ambiente für Moskauer Verhältnisse auch nur normal schick: sehr gestylte Einheimische, aber auch das Bewusstsein, dass man Touristen und anderen Ausländern halt nicht dasselbe Niveau abverlangen kann, leiderleider.

Eine freundliche Kellnerin erklärt die Gänge und ihre Zutaten, außerdem bringt sie Regieanweisungen aus der Küche mit: „Our chef suggests that you eat this in one bite“ – „Our chef suggests that you eat this together“ – „Our chef suggests that you eat this with emotion“. Zwischendurch baut sie gelegentlich Spökes ein: Anfangs pipettiert sie uns Schnaps auf die Handflächen, zum Verreiben und Einatmen. Später verschenkt sie hauseigene Parfüms in Lebensmittelduftnoten – ein schöner Gedanke, demnächst den Kolleginnen am Newsdesk als Schokoladentrüffel entgegenzuriechen.

Der Kohl und der Kaviar, die Wachtel mit dem Ei, das sind zwei von acht herzhaften Gängen. Es folgen vier Desserts (Respekt für diese Gewichtung) und die Erkenntnis, dass ich keine kandierten Salatblätter mit Aloe-Glibber mag. Sowas. Dafür klingt die Komibination aus Birkenbast und süßer, eingedickter Kondensmilch super, aber ehe wir die serviert bekommen, möchte die Kellnerin wissen, ob wir denn auch unsere Handys dabei haben. Dann bitte hier mal gerade diese App runterladen, die wird jetzt gleich wichtig.

Es folgt: ein eckiges Tellerchen für jeden, auf dem eine Art Kondensmilch-Taler liegt, zwischen Oblaten aus Birkenbast mit einem Blütenlogo. App öffnen, mit der Kamera auf die Blüte zielen, und auf dem Nachtisch erscheint erst ein Ladebalken und dann:

Metka heißt die App, das bedeutet so viel wie Markierung oder Tag (im Sinne von tagging). Sie soll als „Augmented-Reality-Browser Informationen in einem völlig neuen Format präsentieren“, ihre Macher dachten demnach vor allem an Kleinwagen, Flugzeuge oder auch animinierte Raumschiffe. Aber hier, im White Rabbit, beim elften von zwölf Gängen, wächst dank der App nun also eine bunte Blume aus meinem Nachtisch.

Das Ganze ist so gut gemacht, dass sie ihre Blüte mir sogar ein bisschen entgegenneigt, als ich mit dem Löffel versuche, ein Stückchen vom Nachtischtaler abzutrennen. Blume im Blick, Kondensmilchcreme im Mund, ob man nächstes Mal wohl auch einfch nur dieses Dessert bestellen kann?

kscheib moskau white rabbit augmented reality metka

Braucht man die Augmented Reality zum Dessert? Nein. Man braucht auch keinen Schnaps auf den Handflächen, kein Schokotrüffelparfum, kein White Rabbit und keine Spitzenküche als solche. Macht es Spaß, es auszuprobieren und damit rumzuspielen? Aber ja. Der ÖPNV-Ring, das Cappuccino-Selfie, die Riesenschneeräummaschine: Moskau ist halt die Technik-Staunen-Stadt Nummer 1.

Odessa oder Odesa?

Odessa oder Odesa, wie heißt das nun richtig? Die Russen schreiben es mit zwei S, die Ukrainer nur mit einem, die Deutschen dafür aber wieder mit zwei, die Briten auch, eigentlich, nur auf den Glastüren am Flughafen steht dann irgendwie doch „Odesa International Airport“.

Ein S, zwei S, vielleicht ist das gar nicht so wichtig. Hauptsache, wir sind hier, was von Moskau aus gar nicht so einfach war. Direktflüge zwischen Russland und der Ukraine gibt es seit drei Jahren nicht mehr, unsere Anreise war also ein Umweg mit zwischenzeitlichem Rumsitzen in Warschau. Der Preis für eine Woche in der Stadt, die bei allen Freunden, die schon mal hier waren, das große Hach auslöst. „Hach, Odessa – da kann keiner einen Satz sagen, ohne dass Humor drin steckt.“- „Hach, Odessa – wie Italien, nur näher.“ – „Hach, Odessa, ich hab selten so gut gegessen.“

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Am ersten Abend direkt mal in die Oper, das wohl schönste Gebäude der Stadt. Groß und opulent, rote Samtsitze und -vorhänge, dazu vergoldete Lampen, vergoldete Decke, vergoldete Brüstungen – vielleicht sollte man besser aufzählen, was nicht vergoldet ist. Trotzdem sind die Karten günstig: 200 Hrywnja, also 6 Euro, für die teuersten Plätze.

Draußen sind es immer noch 28 Grad, drinnen nicht viel weniger. Ein Blick runter in den Orchestergraben: viele Tops mit Spaghettiträgern, einige Hemden, die bis zum dritten Knopf offen sind. Eine Erinnerung, dass Musizieren bei solcher Hitze harte Arbeit ist – auch, wenn man es dem Orchester nicht anhört.

Gespielt wird heute Abend Donizettis „L’elisir d’amore“, allerdings nur im Prinzip, mit umgedeuteter Handlung. Statt um Liebe auf einem italienischen Landgut geht es um Menschen, die verrückt sind nach Aufmerksamkeit, Fernsehruhm, Selfies. Mit großen Tablets machen die Sänger auf der Bühne permanent Fotos voneinander. „Wir haben hier auch eine sehr schöne Treppe“, sagt die Platzanweiserin, als die Pause beginnt, „da können Sie sich gut fotografieren.“

Odessa Opernhaus Treppe Selfies

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Es gab Zeiten, da war jeder dritte Mensch, der in Odessa lebte, Jude. Im Handel, in der Kultur und im intellektuellen Leben der Stadt spielte die jüdische Bevölkerung eine wichtige Rolle. Erste Pogrome gab es schon zur Zarenzeit, während des Zweiten Weltkriegs wurden mehrere Hunderttausend Juden in Odessa ermordet. Von „Odessa Mama“ wurde in den Vorkriegsjahren auf Jiddisch so gesungen:

Ver es iz nor nit geven
In der sheyner shtot Odess
Hot di velt gor nit gezeyn
Un er veyst nit fun progress.

Vos mir Vin un vos Pariz,
Blotte, khoyzik, kayn farglaykh,
Nor Odess ot dortn iz
A Gan Eydn, zog ikh aykh.

(Wer noch nicht gewesen ist/in der schönen Stadt Odessa,/hat die Welt nicht gesehen/und weiß nichts vom Fortschritt. Was sind mir Wien und Paris/Unsinn, ein Scherz, kein Vergleich./Nur in Odessa ist/ein Garten Eden, sag ich euch. Eine englische Nachdichtung gibt es hier.) Und weiter: Oy, Odessa Mama, du bist mir endlos lieb und teuer. Oy, Odessa Mama, ach, ich sehne mich nach dir.

Heute begegnet einem das jüdische Erbe in Odessas Gebäuden, in seinen Denkmälern und Museen, aber vor allem in seiner Küche. Hummus, Falafel, Forschmak stehen auf vielen Speisekarten, in manchen Restaurants wird man mit Musikvideos auf Hebräisch beschallt. Pizza Makkabi, anyone?

odessa pizzeria makkabi

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Wie sieht Odessas berühmter Humor aus, wenn man ihn auf die Architektur anwendet?

Vielleicht so: „Ach komm, ich bau jetzt mal ein Haus, das aussieht, als hätte es nur eine Wand.“ (Unbekannter Architekt, achtzehnhundertdunnemals).

odessa haus mit nur einer wand kscheib

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„Ich separiere Sie mal“, sagt Irina, die ältere Dame, die uns durch die Stadt führt. „Separatismus ist ja sehr populär in diesen Tagen, also machen wir das jetzt auch.“ Spricht’s und stellt sich zwischen uns, damit wir trotz der Bauarbeiten kurz vorm Stadtgeburtstag beide hören können, was sie über Odessa erzählt. Von dem Haus mit der weiß-rosa Fassade, das sich eine reiche Familie einst bauen ließ. In welchem Stil, wollte der Architekt wissen, Antwort: „Wir haben Geld genug, machen Sie einfach alle Stile.“

Die Straße, an der das Haus liegt, nennen manche Bewohner von Odessa übrigens die schamlose Straße, erzählt Irina. Das liegt an den Platanenbäumen, die hier stehen und deren Rinde abblättert, wenn darunter neue nachgewachsen ist. „Die ziehen sich einfach so hier um, wo es jeder sehen kann“, sagt Irina und lächelt. „Darum ’schamlose Straße‘.“

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Das mit dem Strand allerdings, das haben sie hier nicht so drauf. Man muss aus der Stadt rausgondeln mit dem Bus nach Arcadia, was nach einem dystopischen Staat klingt. Tatsächlich hat das Allgemeinwohl hier keine allzu große Priorität: Nur ein schrabbeliger, kleiner, betonbegrenzter Teil des Strandes ist kostenlos und für alle zugänglich. Für alle weiteren Abschnitte muss man Eintritt in einen Beach Club zahlen – mit Glück findet man einen, in dem man nicht beschallt wird. Sonne ist Sonne, Meerblick ist Meerblick, auf einer Liege unterm Sonnenschirm ist gut Liegen. Aber mehr als einmal muss man das nicht erleben.

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Was sie hingegen hier können: Blickkontakt, Lächeln, kleines Schwätzchen. Kopfsteinpflaster, Fußgängerzone, Wind, der vom Wasser her weht. Und Stuck, den können sie auch.

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Die korrekte Schreibweise, das versteht man spätestens mit der Abschiedswehmut am letzten Abend, ist übrigens weder Odessa noch Odesa. Richtig schreibt man es: Ohdessa.

Die Menschenkette von Tomsk

Da stehen wir nun also bei Viktor im Garten und bewundern seine Dahlien. Während er erzählt, dass seine Frau gerade verreist ist – den neuen Enkelsohn besuchen! – pflückt Viktor eine Hand voll kleiner, roter Äpfel für uns und packt sie in eine Tüte. Dann noch eine unterschenkelgroße Zucchini. Drei Tomaten. Noch ein paar Äpfel.

Anschließend gucken wir gemeinsam auf Viktors Handy ein Video, in dem der kleine Enkel zum ersten Mal in ein Stück Melone beißt. „Ihr könnt auch noch Möhren haben,“ ruft Viktor uns nach, als wir uns verabschieden.

tomsk sibirien aepfel

Zu Viktor hat uns Ekaterina geführt. Morgens um zehn holt sie uns ab – los geht‘s, Stadtrundgang! Sie ist Historikerin, Expertin für Tomsks alte Holzhäuser, für deren Erhalt sie vor ein paar Jahren selber mitgekämpft hat.

Sie führt uns durch Hinterhöfe und in Treppenhäuser, erzählt von den Leuten, die hier wohnen und davon, wie das war, als vor langer Zeit der Wald noch bis an die große Straße reichte und an ihr entlang Soldaten lebten, um Reisende vor Räubern und Bären zu schützen. Zwei Stunden sollte unser Rundgang dauern, am Ende sind es fast vier.

tomsk holzhaus sommer sibirien kscheib

Ekaterina hat sich für uns Zeit genommen, weil Dmitry sie angesprochen hat. Persönlich lernen wir ihn erst an unserem letzten Tag in Tomsk kennen – da ist die Flasche sibirischer Beerenwein, die er zusammen mit einem sibirischen Käse und ein bisschen sibirischem Gebäck an der Hotelrezeption für uns hinterlassen hatte, schon leer. Dmitry führt uns mitten rein in den Festsaal des alten Unigebäudes, quer durch den botanischen Garten, über Trampelpfade, durch Hinterhöfe und Trödelläden.

Mit dem Bus raus aus der Stadt in ein Waldstück, bis wir schließlich auf den Tom herabblicken, den Fluss, der Tomsk seinen Namen gegeben hat. Im Vorbeilaufen treffen wir: die oppositionelle Bürgermeisterkandidatin, diverse Uni-Mitarbeiter, eine Galeristin, drei Mitarbeiterinnen eines Trödelladens, eine armenische Restaurantbesitzerfamilie und einen Taxifahrer, die Dmitry alle, alle kennt.

Am nächsten Morgen noch ein Abschiedskaffee, Dmitry hat Tomsker Souvenirs mitgebracht – und Gurken von der Datscha seiner Eltern. Mit Grüßen, unbekannterweise.

tom tomsk fluss sibirien kscheib

Unser Kontakt zu Dmitry ist entstanden, weil Inna gerade nicht in Tomsk ist. Dabei hatte sie sich schon so viel für uns überlegt: einen Stadtrundgang, ein Abendessen bei Freunden von ihr, zu deren Haus eine echte russische Banja gehört. Dazu hatte sie allerlei Tipps für Vegetarier geschickt, wo man in Tomsk gut essen kann.

Leider kam es dann so aus, dass bei ihr genau dann, als wir nach Tomsk wollten, ebenfalls eine Reise anstand. Also hat sie eine Vertretung organisiert.

tomsk magnete kscheib

Inna hat sich unserer angenommen, weil wir Alice erzählt haben, dass wir nach Tomsk wollen. „Ich kenn da wen“, hat sie gesagt, „soll ich euch mal zusammenbringen?“ Dann hat sie uns per Chat einander vorgestellt. Alice ist der einzige Mensch in dieser Geschichte, den wir schon kannten, ehe wir nach Tomsk kamen.

Alles andere hat sich entwickelt, indem ein Mensch uns angereiste Fremde an den nächsten weitergereicht hat. Inna, Dmitry, Ekaterina, Viktor. Sibirische Gastfreundschaft als Menschenkette.

Mission Fallobst in Kolomenskoje

Kolomenskoje Apfelbaeume Kirche kscheib

Dass der Weg über die Wiese überhaupt erträglich ist, liegt am bedeckten Himmel. Nur, weil der Moskauer Sommer heute eine kleine Pause einlegt, muss ich mir den Park in Kolomenskoje nicht mit tausend Menschen und zehntausend Wespen teilen. An Sonnentagen ist es hier voll, Moskauer und Touristen genießen das Grün, bewundern die alte Holzkirche und den Blick hinab zur Moskwa.

Heute ist das anders: Der Himmel sieht schon seit einer Stunde aus, als ob es in fünf Minuten anfängt zu regnen. Die Menschen, die hier trotzdem herumlaufen, ignorieren die weiße Kirchturmspitze, die zwischen den Ästen hindurchscheint. Wer heute in Kolomenskoje ist, hat eine Mission, und meist auch einen Beutel in der Hand. Die Mission heißt: Fallobst.

Kaum Menschen also, keine Wespen, dafür aber dieser Geruch. Als wate man durch ein Kneippbecken voller Cidre, der kurz davor ist, zu Apfelessig zu kippen. Alle paar Meter zertritt man einen braunen Apfel zu Matsch oder tritt in den Matsch, den ein Vorgänger hinterlassen hat. Aber der Apfel da vorne, der sieht noch gut aus, der wird aufgehoben. Der da auch, und der, und der, wobei – na, das kann man wegschneiden. Ab in den Beutel damit.

Die Apfelbäume von Kolomenskoje in voller Blüte oder als Schattenspender im Sommer, das habe ich beides schon erlebt. Viele Instagrammer sind dann hier unterwegs, es wird posiert und sich an die Bäume drapiert, was das Zeug hält. Jetzt, im Spätsommer, sieht das anders aus. Gebückte Menschen sammeln die verschiedenen Apfelsorten vom Boden auf – die großen, knatschgrünen und die kleinen, ganz zart rotgestreiften. Wobei, da vorne lehnt tatsächlich ein Mann an einem Baum, allerdings nicht für ein Selfie: Als die Gärtnertruppe, die nebenan den Rasen mäht, vorbei ist, greift er mit beiden Händen fest zu und rüttelt an dem Baum. Was ist besser als Fallobst? Mehr Fallobst.

kolomenskoje kleiner apfel kscheib

Äpfel von den Bäumen zu pflücken scheint verpönt oder, wer weiß, sogar verboten zu sein – auch, wenn viele Äste unter ihrem Obstgewicht bis zum Boden hängen. Aber was auf der Erde liegt, das ist Allgemeingut, manchmal sogar als Nest: Mehrfach stoße ich auf sechs, sieben gute Äpfel, weder angefault noch angefressen, die gemeinsam im Gras liegen – vielleicht hat da jemand gemerkt, dass sein Beutel doch zu voll ist zum Tragen, und ein paar Fundstücke für den nächsten zurückgelassen.

Beim Sammeln fällt mir ein Fallobstgedicht aus der Grundschule ein: Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah/die Luft ist still, als atmete man kaum/und dennoch fallen raschelnd, fern und nah/die schönsten Früchte ab von jedem Baum. Schön, passt aber halt nur bedingt: Es ist noch kein Herbst, die Regenwolken haben Wind mitgebracht, und es sind auch nicht die schönsten Äpfel, sondern die leicht ramponierten, die hier runterfallen.

Aber was macht das schon. Das hier ist vielleicht mein letzter Besuch in Kolomenskoje, eh es im Winter zurück nach Deutschland geht. Und diese Äpfel – vier Kilo wird die Küchenwaage später anzeigen – werden zu einem Andenken verkocht. Apfelchutney vielleicht, Apfelmus oder Apfelgelee. Kolomenskojer Ernte.

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Russball, Folge 51: Ein russischer Verein lockt Ronaldo

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Zum Start muss ich kurz etwas richtigstellen: In der letzten Russball-Folge sind mir bei einem verlinkten Text Spartak und ZSKA durcheinandergeraten – das kommt davon, wenn man parallel mit zu vielen offenen Tabs hantiert. Netterweise hat sich Witali Leonow, der den Artikel über ZSKA geschrieben hat, gemeldet und auf meinen Fehler hingewiesen. In der Blog-Version ist er bereits korrigiert, ich wollte aber heute auch noch alle Newsletter-Leser darauf hinweisen – sorry!

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⚽ Nun steht also auch der russische WM-Kader, weder Konstantin Rausch noch Roman Neustädter haben es reingeschafft. Die 23 Namen, die man bis zum Turnierbeginn kennen sollte, hier also im Überblick. Und nein, natürlich gibt es solch eine Entscheidung nicht ohne Kritik – die Mehrheit der Leser von Bombardir.ru zum Beispiel ist unzufrieden, wie die Umfrage unter diesem Artikel hier zeigt. Ähnlich klingen die Kommentare, die Championat.com gesammelt hat. Tenor: „Die Titanic ist auf Kurs.“

⚽ Wie teuer ist die russische Nationalmannschaft, und wieviel Geld bringt sie ein? Sport Express beantwortet diese Fragen in zwei separaten Artikeln und geht dort jeweils die großen Turniere der vergangenen Jahre durch. Aussagekräftiger wäre das ja, wenn man Ausgaben und Einnahmen pro Jahr jeweils auf einen Blick sähe, ohne von einem Text zum anderen springen zu müssen.

Darum hier zum Vergleich: Für die WM 2014 in Brasilien kommt Sport Express auf Kosten von rund 17 Millionen Euro, wovon das Gehalt von Trainer Fabio Capello allein 7 Millionen ausmachte. Eingenommen habe die Mannschaft im Gegenzug etwas über 8 Millionen Euro, der Artikel nennt die Zahlen in Dollar: 1,5 Millionen für die geschaffte WM-Quali, weitere 8 Millionen für die Teilnahme an der Gruppenphase. Wer sich noch weiter in das Thema reinlesen will: Hier gibt es die Ausgaben seit 2011, hier die Einnahmen ab 2002.

⚽ Christiano Ronaldo will ja wechseln, hört man, weg von Real Madrid. Der FK Jenissei Krasnojarsk ist jetzt kein russischer Spitzenclub im klassischen Sinne, hebt aber schon mal die Hand und macht mit einem Tweet auf sich aufmerksam, in dem er sich als Alternative zu Madrid und Manchester positioniert:

Die Botschaft der Bilder kann man vielleicht so zusammenfassen: Ja, okay, bei den Top-Vereinen gibt es große Stadien, du gewinnst Trophäen, kannst dir schicke Autos und ne Villa leisten. Bei uns fährt man Lada (man beachte das Nummernschild), wohnt in einfachen Häuschen – aber dafür zahlt du hier auch weniger Steuern! Tatsächlich liegt der Steuersatz in Russland bei gerade mal 13 Prozent, und wir wissen ja alle, wie wichtig das Thema für Christiano Ronaldo ist.

⚽ Langweilige Überblicke über die WM-Stadien haben wir inzwischen ja alle genug gesehen und gelesen. Bei diesem hier hat der Autor hingegen mal so richtig auf die Sahne gehauen. Schon der Einstiegssatz gibt die Richtung vor: „Es ist eine wenig bekannte Tatsache, dass Fußballfans zu den intelligentensten Menschen auf dem Planeten gehören.“

Im selben Stil dann auch die Einzelkritik, so blumig, dass man sie im englischen Original wiedergeben muss: „a bit of a stinker“ ist das Stadion in Jekaterinburg, „your classic Allianz Arena knock-off“ das in Saransk und die Arena in Rostow ganz einfach „booooooooring“. Okay, beim Fischt-Stadion liegt er mit seiner Einschätzung komplett falsch – das sage ich mal so als Fußballfan, also als einer der intelligentesten Menschen auf diesem Planeten.

⚽ Die Stuttgarter Kinderzeitung wollte ihren Lesern kurz vor der WM mal erzählen, wie ein Tag eines russischen Schülers aussieht. Also war ich an der Moskauer Schule Nummer 1955 und habe dort Dmitrij durch seinen Schultag begleitet. Er ist Spartak-Fan, lernt Deutsch, diskutiert gerne – wir mussten also nicht lange nach Gesprächsthemen suchen.

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Wenn es gut klappt, entstehen beim Schreiben für Kinder manchmal Texte, die klarer sind als die für Erwachsene. Ich bin bestimmt nicht die einzige, die schon mal in einer Redaktionskonferenz gesessen hat, wo vorgetragen wird, was welche Agentur zu einem Thema berichtet – und am Ende jemand sagt: „Also, die beste Meldung ist eigentlich die vom dpa-Kinderdienst.“) Wenn’s schief geht allerdings, dann sind Journalistentexte für Kinder albern, betulich, von oben herab und irgendwie dutzidutzidutzi.

Ich hab also an Patenkind 1 und 2 gedacht, was die wohl gerne lesen würden und auch gut selber lesen können. In kurzen Sätzen, anschaulich, das war der Anspruch. Ob’s geklappt hat, könnt ihr hier nachlesen. Ich freu mich über Feedback, von euch oder von euren Kindern.

⚽ Was man nicht unterschätzen darf, ist übrigens, wie sehr sich die Moskauer Metro in die WM-Vorbereitungen stürzt. Durchsagen, Schilder, Personal, alles wird da auf Englisch getrimmt, die Mitarbeiter sollen außerdem lernen, höflich zu sein und auch mal zu lächeln. Englisch, höflich, wer fällt einem dazu ein? Genau, Kanada. Journalisten von CBC waren es also, die sich mal genauer angesehen haben, wie dieses Training für Metromitarbeiter funktioniert.

Ergebnis: eine Reportage und ein Foto vom Lehrmaterial, zum Genießen. Denn da werden die englischen Floskeln kyrillisch verlautschriftlicht. (Danke an Pascal Dumont, dass ich das Bild hier verwenden darf.) Wenn euch in der Moskauer U-Bahn demnächst also jemand ein fröhliches „Ju a welkem“ entgegenschleudert, ein leises „Ekskju mi“ oder ein hellwaches „Gud moning“, wisst ihr, woher das kommt!

#5

⚽ Anderes Verkehrsmittel, gleicher Ansatz: Moskaus Taxifahrer werden auch geschult in Sachen Englisch. Jedenfalls diejenigen, die eine besondere Lizenz bekommen wollen, mit der sie nah ans Stadion heranfahren dürfen, um dort Passagiere abzusetzen oder aufzusammeln. Knapp 5000 Fahrer sollen sich darum beworben haben.

Hübsch in der Reportage aus diesem Kurs: Die These eines Fahrers, dass man eigentlich nur eine Floskel beherrschen müsse: „One thousand“, Rubel nämlich, das sind 14 Euro. Für Fahrten in der Innenstadt ein ziemlich hoch angesetzter Preis, die Reporterin fragt also nach, ob das keine Abzocke sei und somit schlecht für das Image der Stadt. Einer der Fahrer hält dagegen: „Wenn ein Mensch zur Arbeit geht, worum geht es ihm dann – um Moskaus Image oder ums Geldverdienen?“

⚽ Fragen, von denen ich auch nicht dachte, dass sie hier mal gestellt werden: Wie sieht eigentlich ein Fallrückzieher in der Schwerelosigkeit aus? Die Antwort kommt von der russischen Raumfahrtbehörde Roscosmos. Der Ball, mit dem in dem Video auf der ISS gespielt wird, ist inzwischen wieder auf der Erde, rechtzeitig zum WM-Beginn. Er soll nämlich beim Eröffnungsspiel zwischen Russland und Saudi-Arabien verwendet werden.

⚽ Panama ist dieses Jahr zum ersten Mal für die WM qualifiziert. Der Präsident hat daraufhin den Trainingsanzug der Nationalmannschaft angezogen und ein Gesetz unterschrieben, wobei dieses Ereignis ab sofort mit einem eigenen Feiertag gewürdigt wird. Ich stell mir das jetzt mal kurz mit Angela Merkel vor – die hätte in ihrer Amtszeit schon so einiges zu unterschreiben gehabt, und wir ein paar Feiertage mehr. Die Panama-Anekdote stammt aus einem Projekt von 120 Minuten, das zu jedem WM-Teilnehmerland eine Geschichte gesammelt hat.

Wie Schweizer Fußballer gegen Chiracs Atomtests protestiert haben, wie italienischstämmige Austalier zu ihrer Fußball-Nationalmannschaft stehen, dass der Iran seinen bisher einzigen Sieg bei einer WM ausgerechnet gegen die USA holte – hab ich alles vorher nicht gewusst und mir bei 120 Minuten mit viel Spaß erlesen. Egal, welches Team ihr bei der WM unterstützt – hier gibt es eine hintergründige Geschichte zu ihm.

⚽ Vom schwarzen Humor, mit dem russische Fußballfans ihrer Nationalmannschaft gegenüberstehen, war hier ja schon öfter die Rede, wir erinnern uns an die Sache mit dem Slogan für den Bus. Daraus kann man ableiten, dass es kein ganz einfacher Job ist, Social-Media-Mensch der Sbornaja zu sein. Ab und zu gelingt es einem vielleicht, zu vermeiden, dass man eine ungewollte Vorlage liefert. Aber dann gibt es halt doch immer wieder mal ein Bild, wo es unvermeidbar ist.

„Die Puppen spielen sicher auch nicht schlechter“ – „Gesprächspartner gefunden“ – „Was? Gegen die habt ihr auch verloren?“ – „Da ist die Verstärkung.“ Es war eine Vorlage, und die Fans haben sie verwandelt.

⚽ Thielko Grieß war für den Deutschlandfunk draußen in Watutinki, sich das WM-Quartier der deutschen Nationalmannschaft ansehen. Geht natürlich nicht, alles abgesperrt, oder Baustelle, oder abgesperrte Baustelle. Trotzdem ist es ein anschauliches Stimmungsbild geworden über Moskau, ganz kurz vor der WM: „Bauunternehmen verdienen viel an dieser WM. Und für viele andere ist Fußball nicht die größte Leidenschaft, aber wenn das Turnier schon mal im eigenen Land stattfindet, kann man es sich ja auch anschauen. Wer weiß, vielleicht wird es ja doch ganz interessant, diese Sache mit dem Ball und den Stadien und den Spielern und Fans von überall her.“

⚽ Ihr erinnert euch an die Studenten der Lomonossow-Universität, die gegen die Fanzone direkt vor ihrer Haustür protestieren? Sie haben Angst, vor vollgepinkelten Grünflächen, vor betrunkenen Fans, vor allem aber vor dem Lärm an allen Spieltagen, mitten in der Prüfungsphase. Wie nah an der Uni das Party-Areal hochgezogen wird, zeigt diese Fotostrecke hier ganz gut.

Drei Studierenden droht nun ein Prozess. Sie sollen auf eine Litfaßsäule nahe der Uni den Slogan „Keine Fanzone!“ geschrieben haben. Das fällt unter Vandalismus, das Strafmaß reicht laut Vedomosti von einer Geldstrafe bis hin zu drei Jahren Haft. Aktuell sind die drei nach ihrer Festnahme vorläufig wieder auf freiem Fuß.

⚽ Das hier hat die eine oder der andere von euch vielleicht schon gesehen, ein paar deutsche Websites hatten das Video ja auch. Aber es ist so cool und mit seinen simplen physikalischen Gesetzen so Sendung-mit-der-Maus-würdig, dass es auch hier noch mal mit rein darf. Frage: Was passiert, wenn man einen fußballrunden Wasserkanister entwirft? Antwort: das hier.

Wasser, das ein Feuer entfacht. Vielleicht sollten wir uns bei WM-Gimmicks doch auf die fußballrunde Fleischwurst beschränken.

⚽ Wer die Fußball-WM im Fernsehen verfolgen will, kann sich schon mal auf ziemlich viel Bandenwerbung chinesischer Sponsoren einstellen. Klingt jetzt erst mal unspektakulär, wenn da plötzlich „Wanda“, „Mengniu“ oder „Yadea“ steht, aber dahinter steckt eine spannende Geschichte. Über einen Weltfußballverband, der so korrupt ist, dass viele westliche Marken nicht mehr mit ihm in Verbindung gebracht werden wollen. Über Chinas Hoffnung, eine Fußball-Supermacht zu werden und dann bitte auch gerne direkt Weltmeister. Und über die Kalkulation chinesischer Firmen, sich auf dem Weltmarkt zu etablieren: China Won’t Play in This World Cup. It Still Hopes to Profit.

⚽ Steve Rosenberg ist BBC-Korrespondent in Moskau, der ein oder andere kennt ihn vielleicht, weil er rund um den Eurovision Song Contest bei Social Media immer ziemlich aufdreht. 2016 hat er mal ganz groß aufgedreht und bei einem Facebook-Live auf Zuruf alle Eurovision-Titel am Klavier gespielt, die die Zuschauer sich gewünscht haben. „Peter wünscht sich den Siegertitel von Dänemark aus dem Jahr 1964. Peter, du meinst sicherlich 1963.“ Sprachs und spielt los. Ganz großes Tennis.

Zur WM hat Rosenberg nun einen kleinen Clip bei Twitter veröffentlicht, in dem er typisch russisches Essen empfiehlt. Das ist nicht nur super, weil er die langweiligen Klassiker von Borscht bis Kaviar ignoriert, sondern weil wir offenbar beide große Fans von Syrok sind, einem zuckersüßen Quarkriegel. Die Liebe zu Buchweizen hingegen – Steve, Steve, Steve. Ich weiß ja nicht.

⚽ Seit Wochen warte ich darauf, dass das Calvert Journal endlich mal mit seinem WM-Guide in die Pötte kommt. Weil das eben eine Redaktion ist, die anders auf Russland und die Region blickt: Mit einem speziellen Fokus auf Kultur, Architektur, Zeitgeschichte und Alternatives. Nun ist das Ding online, am besten stöbert ihr mal selbst darin rum.

Was mir beim ersten Durchgucken aufgefallen ist: Ein Stadtrundgang durch die Moskauer Fußballgeschichte (der allerdings deutlich leichter zu lesen wäre, wenn man anstelle der ganzen ausformulierten Wegbeschreibungen einfach eine Karte integriert hätte), und ein Rückblick in die Geschichte des Stadions von Jekaterinburg, einschließlich Baueinsätzen deutscher Zwangsarbeiter. Für einige WM-Städte sind die Texte schon online, die restlichen folgen im Laufe der Woche nach und nach.

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Zum Schluss noch was in eigener Sache: Im März habe ich angefangen, für n-tv.de einen täglichen WM-Countdown zu bloggen. Nun sind nur noch wenige Tage über, aber es gibt immer noch viele Fragen rund um den Alltag hier in Russland und die WM. Wenn ihr also Lust habt: Morgen, am Donnerstag, übernehme ich ab 15 Uhr den Twitter-Account der Sportredaktion.

Wenn ihr wissen wollt, ob man für Russland einen Adapter braucht, warum in der Bahn Aufkleber mit Hasen an der Wand kleben oder ob ihr es riskieren könnt, für russische Freunde trotz Sanktionen ein bisschen Parmesan ins Land zu bringen – dann twittert das doch. Der Hashtag heißt #WMFragen und ich werde morgen versuchen, so viele wie möglich davon zu beantworten. Bis dann!



 

Wer gut massiert, macht auch gute Pelmeni

Ein kleines Rätsel zum Start: Wofür könnten diese Dinger hier gedacht sein?

kscheib pelmeni pelmeniza

Buntes Plastik, vielleicht so 30 mal 30 Zentimeter groß, leicht gewölbt, mit Löchern. Das Ding, von dem auf dem Bild gleich drei sind, ist eine Pelmeniza – also ein Gerät, mit dem man Pelmeni macht. Immer noch nicht schlauer? Okay: Pelmeni sind das, was für Italiener Ravioli sind, für Deutsche Maultaschen, für Chinesen Jiaozi: lecker gefüllter Nudelteig. Ein einfaches, traditionelles Essen, mit dem man viele Leute satt kriegt.

Mit „einfach“ ist allerdings nicht die Herstellung gemeint. Wer Pelmeni nicht tiefgekühlt kaufen, sondern sie selber machen will, der nimmt sich für diesen Tag besser nichts anderes vor – die verschiedenen Schritte brauchen ihre Zeit. Über Pelmeni zu reden ist deshalb auch eine der einfachsten Arten, russischen Bekannten Anekdoten zu entlocken. „Letztes Jahr haben meine Mutter und ich über 1000 Stück auf einmal gemacht, dann eingefroren und Monate davon gegessen.“ – „Also wir haben das früher immer auf der Datscha gemacht, einen ganzen Tag lang, wie am Fließband. Jede von uns wusste, was ihre Aufgabe war.“ Ich habe Freundinnen, die verabreden sich zu „Pelmeni-Partys“. Heute bin ich zum ersten Mal zu einer eingeladen.

Alles beginnt mit dem Teig. Die Zutaten sind unspektakulär – Mehl, Wasser, Salz, ein Ei. Die Mengen? „Musst du halt ausprobieren“, sagt Wilena, die heute den Nichtrussen in ihrem Freundeskreis das Pelmenimachen beibringt. 300 Gramm Mehl, schätze ich den Hügel auf dem Tisch. In die Mitte des Hügels das Ei, dann eine Prise Salz und einen Schuss Wasser. Und jetzt: Kneten, kneten, kneten. Dann kneten. Danach kneten. Anschließend kneten. Der Teigklumpen bekommt Handkanten zu spüren, wird durchgewalkt, hochgehoben und wieder auf den Tisch geknallt. „Wenn du gut darin bist, jemanden zu massieren, dann machst du auch gute Pelmeni“, sagt Wilena.

kscheib pelmeni zutaten

Das Ausrollen ist nicht anders als beim Weihnachtsplätzchenbacken. Und auch der nächste Schritt ist überraschend bekannt: Ehe wir das mit der Pelmeniza probieren, entscheidet unsere Koch-Dozentin, sollen wir erst mal ein paar Pelmeni von Hand formen. Also: Mit einem Trinkglas Kreise ausstechen, den Kreis auf die Handinnenfläche legen, einen Klecks Füllung – bei uns Truthahn-Hack mit Zwiebel – draufsetzen. Dann kommt das Gefalte: Erst den Kreis zum Halbkreis, dann den Rand festdrücken, dann die Seiten über die Mitte… Wilenas Pelmeni sehen nach jahrelanger Übung aus, meine wie von einem ungelenken Kind mit Wachsmalstiften gezeichnet.

Dürfen wir jetzt endlich mit dem richtigen Werkzeug hantieren? Moment, erst müssen die fertigen Pelmeni auf einem eingemehlten Tablett eingefroren werden, damit sie gleich beim Kochen nicht aneinanderpappen. Aber dann: Pelmeniza so hinlegen, dass die Wölbung nach oben zeigt. Ausgerollten Teig drüberlegen und leicht festdrücken, so dass das Wabenmuster sichtbar wird. In 25 Waben 25 Kleckse Füllung, dann die zweite Schicht ausgerollten Teig drüber – und nun der Zaubermoment. Mit dem Nudelholz drüberrollen, und voilà: 25 ebenmäßig schöne Pelmeni!

So geht es den restlichen Abend. In 25-er Ladungen wandern Pelmeni vom Tisch in die heiße Gemüsebrühe, mit kurzem Zwischenstopp im Gefrierfach. Neue Ladungen Teig entstehen. Freunde trudeln ein, helfen beim Essen und gelegentlich auch beim Kneten. Wir diskutieren, wie man die Füllung möglichst mittig auf ihrem Stückchen Teig platziert. Vor allem aber essen wir Pelmeni, mit Brühe oder ohne, aber definitiv mit saurer Sahne und frisch gemahlenem Pfeffer. Dazu gibt es Bier, Wein, was auch immer. Passt schon.

Am Ende des Abends haben wir gut 300 Stück gemacht, gekocht und gegessen. Und ich habe verstanden, dass es Wilena mit ihrem Spruch von den Pelmeni und der Massage nicht um die Kraft ging, die nötig ist. Beides braucht seine Zeit, wenn man es richtig macht. Und beides ist den Aufwand nur wert, wenn man jemandem mal was richtig Gutes tun will.

kscheib Pelmeni mit saurer Sahne

Immerwährender Moskauer Social-Media-Kalender

So sieht der Frühling als sowjetisches Mosaik im Garage-Museum aus. Wie er bei Facebook, Twitter oder Instagram aussieht, ist leicht vorherzusagen
So sieht der Frühling als sowjetisches Mosaik im Garage-Museum aus. Wie er bei Facebook, Twitter oder Instagram aussieht, ist leicht vorherzusagen

Vier Jahre in Moskau, da ist vieles inzwischen lieb vertraut. Heimat. Routine. Und gleichzeitig immer noch Besonders genug, um darüber zu posten, bei Twitter, Facebook, Instagram oder sonstwo. Neulich fiel mir dazu ein Blogpost ein, den ich vor einigen Jahren mal gelesen hatte. Isabel Bogdan und Maximilian Buddenbohm haben dort die ewig wiederkehrenden Themen gesammelt, zu denen wir alle so Monat für Monat in sozialen Netzwerken posten.

Damals fand ich das lustig und fühlte mich ertappt. Jetzt hatte ich das Gefühl: Für Moskau kann ich das inzwischen auch. Also, als kleines Geschenk zum neuen Jahr: Endlich nie wieder überlegen, was man gerade schreiben oder fotografieren soll! Bedient euch!

Januar

Frohes Neues Jahr!
Hier, ein Foto, wie ich mich bei -22 Grad aus dem Haus gewagt habe.
Frohe orthodoxe Weihnachten!
Hier, ein Foto, wie ich mich bei -26 Grad aus dem Haus gewagt habe.
Frohes Altes Neues Jahr!
Hier, ein Foto, wie ich mich bei -28 Grad aus dem Haus gewagt habe.
Wer kommt mit in die Banja?
Wer hat noch einen Trick, damit der Handyakku nicht so schnell leer geht?
Stollen in gute Hände abzugeben.

Februar

Wer empfiehlt mir eine Powerbank, die auch bei Minustemperaturen funktioniert?
Hier, ein Foto von einem Pfannkuchen mit Pilzen.
Hier, ein Foto von einem Pfannkuchen mit Lachs.
Hier, ein Foto von einem Pfannkuchen mit Äpfeln und Zimt.
Hier, ein Foto von einem Pfannkuchen mit saurer Sahne.
Wer kommt mit in die Banja?
Schaut mal, diese total ironisch gemeinte Karte habe ich zum Tag des Vaterlandsverteidigers verschenkt.

März

Mädels, alles Gute zum Weltfrauentag! Hier, eine Grußkarte aus Sowjetzeiten.
Hier, ein Foto von meiner Badewanne – das Wasser kommt heute mal wieder braun aus dem Hahn.
Hach, Tauwetter, mon amour.
Warum hat diese Stadt eigentlich keine funktionierende Kanalisation?
Ach, schade, sie haben die Winterbeleuchtung abgebaut.

April

Oh, die Cafés bauen ihre Holzterrassen auf.
Wann wird eigentlich das warme Wasser abgedreht? Hat mal wer den Link zur Übersicht?
Es riecht nach Farbe! Frühling!
Hier, ein Foto, wo jemand einen Gitterzaun neu anstreicht.

Mai

Kalt duschen nervt! (Alternativ: Hier, ein Foto vom eigens für diese paar Tage gekauften Boiler im Bad.)
Oh Mann, bei mir vorm Fenster üben Panzer für die Parade.
Oh Mann, bei mir vorm Fenster blockiert ein Müllauto die Zufahrt, damit die Panzer für die Parade üben können.
Oh wow, da üben Kampfjets über meinem Haus.
Wo gucken wir eigentlich dieses Jahr die Parade?
Weiß einer, welche Metrostationen während der Parade dicht sind?
Hier, ein Foto vom Sonnenbrand, den ich mir bei der Parade geholt habe.
Yes, endlich wieder warmes Wasser – ich bin dann mal duschen!

Juni

Draußensitzen mit Gurkenlimonade. Das Leben ist gut.
Mist, schon wieder nicht zur Apfelblüte in den Park von Kolomenskoje geschafft.
Wieso hängen schon wieder überall Fahnen?

Juli

Hier, ein Foto von meiner Badewanne – das Wasser kommt heute mal wieder braun aus dem Hahn.
Ah, toll – man kann abends draußen sitzen, bis es wieder hell wird.
Oh, nerv – man wird morgens viel zu früh wach, weil es wieder hell ist.
Riecht ihr das auch? Brennt da irgendwas?

August

Schön leer in der Stadt, sind wohl alle auf der Datsche.
TGIF! Gleich geht’s raus auf die Datsche!
Dritte Stunde im Stau und noch immer 28 Kilometer bis zur Datsche.
Hier, ein Foto von einem Weinglas auf einem Gartentisch. #dachalife
Wieso hängen schon wieder überall Fahnen?

September

Kreisch, der Sommer kann jeden Tag vorbei sein! #carpediem
Hier, ein Foto vom Schwimmen in der Moskwa.
Hier, ein Foto vom Sonnenuntergang hinter der Erlöserkathedrale, fotografiert von der Dachterrasse der Strelka-Bar.
Hier, ein Foto von Leuten in nassen T-Shirts am Springbrunnen im Gorkipark.
Oh, die Cafés bauen ihre Holzterrassen ab.
Nein, nein, nein! (Screenshot der Wetter-App).
Hello Wintermantel, my old friend.

Oktober

Mist, schon wieder nicht zur Apfelernte in den Park von Kolomenskoje geschafft.
Irgendwas mit Putins Geburtstag.
Ich friere. Ist eure Heizung schon an?
Hurra, meine Heizung ist endlich an!
Mist, die Heizung ist wieder aus – wo muss ich anrufen?
Oh Mann, meine Haut ist so trocken von der Heizung.
Hier, ein Foto vom ersten Schnee. Und ein Video! Und noch eins!
Es ist erst der soundsovielte und im Supermarkt gibt’s schon Weihnachtsdeko zu kaufen.

November

Schon wieder Regen – ich will den Schnee zurück!
Warum hat diese Stadt eigentlich keine funktionierende Kanalisation?
Hier, ein Urlaubsfoto aus einem heißen Land und ein Kommentar à la „Noch mal Wärme tanken“.
Wieso hängen schon wieder überall Fahnen?
Hier, ein Foto von meiner Badewanne – das Wasser kommt heute mal wieder braun aus dem Hahn.
Hier, ein Foto von der Winterbeleuchtung am Gartenring!
Hier, ein Foto von der Winterbeleuchtung an der Twerskaja!
Hier, ein Foto von der Winterbeleuchtung auf dem Roten Platz!
Hier, ein Foto von der Winterbeleuchtung an den Patriarchenteichen!
Wer kommt mit in die Banja?

Dezember

Endlich richtiger, fluffiger Schnee!
Yay, noch mehr Schnee.
Schon wieder Schnee.
Und Eis. Müsste mal einkaufen, will mich aber nicht draußen auf die Nase legen.
Wie machen das die Russinnen bloß: bei der Glätte auf Absätzen, und nie fällt eine hin?
Geil, habt ihr die Schneeräummaschine gesehen?
Wer fliegt in den nächsten Tagen nach Deutschland und kann Stollen mitbringen?
Ist das Feuerwerk heute Abend im Gorkipark echt erst um eins?
Hallo Deutschland – also bei uns ist ja schon das neue Jahr!

Durchs wilde Kirgistan

Eine Jurte mit der kirgisischen Flagge, auf der wiederum ein Teil eines Jurtendachs abgebildet ist
Eine Jurte mit der kirgisischen Flagge, auf der wiederum ein Teil eines Jurtendachs abgebildet ist

Landschaftsformen: 5 bis 6

Was da alles drinsteckt, in diesem gar nicht so großen Land! Mal sind es Bergwiesen, satt und grün und lieblich, mit rauschendem Wasser, wilden Pferden und hier und da einer Jurte. Dann ein Canyon, knallrot und heiß, auf dessen staubtrockenen Felsen sich Eidechsen sonnen. Der Yssykköl, zweitgrößter Gebirgssee der Welt, ein paar Angler oder Badende am Rand und sonst nur Wasser bis zum Horizont. Steppe hier. Halbwüste dort. Und immer das Bedüfrnis: noch ein bisschen bleiben, noch etwas länger gucken, noch ein paar Fotos machen.

Im Skaska-Canyon sollen die Felsen an Märchenfiguren erinnern
Im Skaska-Canyon sollen die Felsen an Märchenfiguren erinnern

Mitgebrachte Infusionsbestecke: 3

Wenn auf der Kofferpackliste neben festen Schuhen, Fleecejacke und Sonnenschutz auch Einwegspritzen und Infusionsbestecke stehen, dann hat das Auswärtige Amt mitgeschrieben. Erst fühlte sich das ein bisschen übervorsichtig an – ich werd mir ja wohl nicht zwei Jahre in Folge im Urlaub was brechen. Dann saßen wir abends mit ein paar Freunden zusammen, die alle selbst gerne reisen und teilweise auch für Unternehmen arbeiten, wo Aufenthalte in Ländern mit nicht so guter ärztlicher Versorgung zum Job gehören.

„Spritzen und Infusionsbestecke, das ist ja gar nichts. Bei uns ist neulich ein Kollege nach Indien gereist, dem hat der Betriebsarzt ein komplettes sterilisiertes OP-Besteck mitgegeben.“ – „Ist bei uns auch so, und du kriegst das alles nur, wenn du auch gleichzeitig die Kondome mitnimmst, die er dir mitgibt.“ – „Stimmt, das hatte ich auch schon mal, drei Stück waren das damals.“ – „Nee, heute nur noch eines, wir müssen ja sparen.“

Die russisch-orthodoxe Kirche von Karakol
Die russisch-orthodoxe Kirche von Karakol

Gelesene Buchseiten: unter 100

Sonst war es immer so einfach: Einer fährt, der andere liest und guckt zwischendurch in die Landschaft. Wenn allerdings aus der Straße eine Schotterpiste wird, aus der Schotterpiste ein Trampelpfad und aus dem Trampelpfad irgendwann fast blanker Felsboden, ist er schwer, den Blick auf der Zeile zu halten. Einerseits.

Andererseits soll das nicht heißen, dass der Urlaub frei war von literarischen Stilmitteln, ganz konkret: dem inneren Monolog: Oh mein Gott, da sollen wir rauf? In einem Auto? Ist das nicht ziemlich steil, und schmal, und dann zur Seite plötzlich… okay, der da drüben macht das in einem alten Golf, und ich fahr hier einen Jeep. Aber der ist auch Kirgise! Der hat Übung, Gene… ach guck, hat doch geklappt. Und das da vorne über den Fluss, das soll also eine Brücke… aber… haben Brücken nicht normalerweise Geländer? Und eine ebene Oberfläche statt grob nebeneinander montierte Baumstämme? Das wird nichts. Das kann ich nicht. Wir werden alle sterben, oder zumindest umkippen, oder…

Und laut dann: „Oh Mann, der Blick hier oben. Toll, oder?“ – „Ja, toll.“

Felsen am Südufer des Yssykköl
Felsen am Südufer des Yssykköl

Gescheiterte Polizei-Abzocken: 1

Die Polizei in Kirgistan ist legendär korrupt. Autovermieter, Reiseblogger, Bekannte, alle waren sich einig in ihrer Warnung. Wir hatten uns also vorbereitet: bloß ein paar kleine Som-Scheine ins Portemonnaie und, Faustregel: Wir können heute leider mal so gar kein Russisch. Gesehen haben wir täglich zwei, drei Geschwindigkeitskontrollen, rausgewunken wurden wir erst am vorletzten Tag, in einer 40-km/h-Zone.

Ich wusste, mehr als 35 war ich nicht gefahren – schon wegen der Schlaglöcher. Der Polizeimann sah das anders, tippte Zahlen auf seinem Handy-Taschenrechner und erklärte auf Russisch: „Hier ist 40. Sie sind 52 gefahren. 3000 Som Strafe.“ Ich: „Why?“ Er: „Hier ist 40. Sie sind 52 gefahren. 3000 Som Strafe.“ Ich: „I don’t understand.“ Nächste Eskalationsstufe: Er malt die 40 und die 52 auf einen Zettel (vielleicht liegt’s am Medium, dass die komische Ausländerin nichts versteht?) und fordert nun auch nur noch 2000 Som.

Ein paar Runden haben wir das Spiel noch gespielt, er mit seinen Zahlen, ich mit „Why“, „I don’t understand“, „I don’t speak Russian“. Dann war es ihm irgendwann zu viel kostbare Zeit, in der man gefügigere, sprachkompetentere Autofahrer hätte abzocken können. Wir fuhren weiter. Mit 35, höchstens.

Der Strand in Bosteri am Nordufer, fotografiert aus der Gondel eines Riesenrads
Der Strand in Bosteri am Nordufer, fotografiert aus der Gondel eines Riesenrads

Staatstragende Motivationskampagnen: 1

Im Vergleich zu vielen anderen -Stanen ist Kirgistan etwas demokratischer, es gab hier seit dem Ende der Sowjetunion schon eine ganze Reihe Präsidenten, einmal sogar eine Präsidentin. Der aktuelle Amtsinhaber, Almasbek Atambajew, wird denn auch nicht so sehr wie seine Kollegen aus den Nachbarländern als omnipräsenter, sonnengleicher Führer inszeniert. Nur einmal ist uns eines seiner Porträts begegnet, am Zaun zu einem Museumsgelände.

Durchaus postsowjetisch fühlt sich dagegen die Plakatkampagne an, deren zahlreiche Motive an den größeren Straßen stehen: Mal sind es uniformierte Soldaten, mal ein Mähdrescher, mal Ärzte im OP, mal Frauen in der Landwirtschaft. Begleitet werden sie vom immer gleichen knappen Slogan, auf Kirgisisch und Russisch: „Wir arbeiten!“ Ob das nun eher „Komm, pack an!“ vermitteln soll oder „Es gibt auch hier Arbeitsplätze, nicht alle müssen nach Russland abwandern“ – schwer zu sagen. 

Frauen verkaufen Kurut auf dem Osch-Basar in Bischkek
Frauen verkaufen Kurut auf dem Osch-Basar in Bischkek

Tage, die mit Kascha begannen: 7

Tage, die mit Lagman – dicken Nudeln mit Gemüse, serviert im Sud und mit vielen Kräutern – endeten: 5. Auch sonst war beim Essen einiges neu fur uns: „Koreanischer Möhrensalat“ zum Beispiel, der ungefähr so koreanisch ist wie Spaghetti-Eis italienisch. Kurut, kleine harte Knubbel, für die Joghurt getrocknet, gesalzen und gerollt wird.

Geröstete Bohnen vom Basar, die man wie Pistazien aus ihrer Schale fischt und dann knabbert. Und Tschalap, ein Getränk wie Ayran, nur salziger und mit viel Kohlensäure. In Bischkek sitzt an jeder zweiten Straßenecke eine Frau mit einem Tschalap-Fass. Vor allem bei 36 Grad zu Beginn unserer Reise genau das richtige Getränk.

Das Ortseingangsschild von Rotfront
Das Ortseingangsschild von Rotfront

Deutsche Spuren: viele

Der Ort „Rotfront“, gegründet von deutschen Mennoniten im Jahr 1927 als „Bergtal“. Die vielen Marx- und Engels- sowie gelegentlichen Thälmannstraßen. Vor allem aber: Autos. Was in Deutschland fürchten musste, nicht mehr durch den TÜV zu kommen oder einfach durch neuere Modelle ersetzt wurde, fährt nun über die Straßen von Kirgistan.

Was haben wir alte Audis gesehen, die sich tapfer über Schotterpisten kämpften. Und die Klein- und Großlaster erst, oft noch mit den ursprünglichen Werbeaufschriften: „www.Reifers-Reisen.de“ – „Otte: Qualitätsgemüse frisch aus deutschen Landen – schmackhaft und gesund“. Nur der Mercedes Sprinter vom Hüpfburgverleih, der kam aus Holland.

Unterwegs mit zwei PS
Unterwegs mit zwei PS

Ungelöste Globalisierungsrätsel: 2

Alte Frachtcontainer sind hier als Baumaterial, sogar als Wohngebäude populär. Wir sind an großen Geländen vorbeigefahren, die komplett mit Containerwänden umzäunt waren, Kirchen mit einem Container als Nebengebäude, sogar ein Haus, das einfach aus sechs gestapelten Containern bestand. Ob das billiger ist als Mauern? Hier, wo doch an vielen Orten Ziegelsteine hergestellt werden?

Vor allem aber, Rätsel Nummer zwei: Warum sieht man hier ständig Plastiktüten von Morrisons, der britischen Supermarktkette? Obst auf dem Basar – in der Morrisonstüte. Mineralwasser im Laden – in der Morrisonstüte. Selbst im Hotelbadezimmer hängt eine Morrisonstüte im Mülleimer, eine obdachlose Frau in Bischkek trägt ihre Habseligkeiten in drei Morrisonstüten rum. Morrisons hat keine Filialen in Kirgistan, es reicht außerhalb der britischen Inseln gerade mal für Gibraltar. Also, werden die Tüten nebenan in China hergestellt und beim Transport über Land ist regelmäßig ordentlich Schwund? Oder kann es daran liegen, dass es alles Tüten mit dem alten Logo sind, die in Großbritannien keiner mehr haben wollte? Und dann wurden die irgendwie nach Kirgistan verramscht?

Angeln mit Bergpanorama
Angeln mit Bergpanorama

Fotografierte Bushaltestellen: 8

Ob alte deutsche Audis oder neue japanische Modelle: ein Auto ist etwas, das sich bei weitem nicht jeder in Kirgistan leisten kann. Tatsächlich sieht man ab und an noch Eselskarren, wirklich entscheidend für die Fortbewegung sind aber Marschrutki, die weißen Sammeltaxis. Egal, ob du vom Stadtzentrum von Bischkek schnell mal zum Basar willst oder von einer Stadt hunderte Kilometer in die nächste: Die Marschrutka bringt dich hin. Und wo Busse fahren, braucht man Bushaltestellen.

Die Exemplare an unserer Route waren, immer wieder, Kompromisse zwischen Beton und Spieltrieb. Seltsam, wie viele unterschiedliche Formen man finden kann für ein Dach mit Stützen und eventuell noch einer Rückwand. Fliesen, Mosaike, Putz, alles nicht mehr ganz neu. Aber in all seinem bröckeligen, verspielten Charme doch immer wieder ein Grund, langsam zu fahren, anzuhalten und etwas zu fotografieren, das in keinem Reiseführer als Sehenswürdigkeit vorkommt.

Jurtenlager in Bokonbajewo
Jurtenlager in Bokonbajewo

Die Fotos hat übrigens Markus gemacht, mehr hier.

Gurke-Dill-Chips sind erst der Anfang

Wer sich mit einem fremden Land auseinandersetzt, fängt oft mit dem Essen an. Ein alltägliches, tagtägliches Thema, jeder kann mitreden. Ob das Wasser im Mund zusammenläuft oder Ekel den Hals eng macht, Essen sorgt für Reaktionen.

Die gängigen Themen, über die Nichtrussen in Russland gerne reden, sind Käse-Sehnsucht (der russische ist nur selten gut, Import aus der EU verboten, der aus der Schweiz unglaublich teuer) und Dill-Abneigung (die „Dillwatch“-Facebookgruppe, in der Begegnungen mit dem omnipräsenten Kraut protokolliert werden, ist in den vergangenen Jahren auf über 3000 Mitglieder gewachsen), gepaart mit regelmäßigem „Wo kriege ich dieses oder jenes Gewürz aus meiner Heimat?“

kscheib russland chips gurke dill

Wenn Besuch kommt, tischen wir zum Begrüßungsbier darum gerne ein Schälchen Gewürzgurke-Dill-Chips auf. Sie riechen durch die halbe Wohnung, sie schmecken genau so, wie man es sich vorstellt, aber es ist halt ein Erlebnis, und irgendwie wird das Schälchen immer leer.

Für die meisten Gäste enden die Versuche mit russischen Knabbereien damit. Das ist schade, denn es gibt da durchaus noch einige Eskalationsstufen bei den Geschmacksrichtungen. Trägermedium sind auch nicht immer die für uns gewohnten Chipsarten, sondern manchmal auch Suchariki, eine russische Darreichungsform irgendwo zwischen Brotchips und Croutons.

Barbecue Wings

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Pfifferlinge in saurer Sahne

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Philadelphia Roll

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Bayerische Würstchen mit Senf

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Schinkenbraten

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Tintenfisch

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Knoblauch-Dill, mit beigelegtem Saure-Sahne-Dip

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Cheeseburger

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Königskrabbe

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Schaschlik

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Lachs mit Käse

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Sülze mit Meerrettich

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Was bleibt nach all den wilden Knabbereien? Eine Art Tütensuppenaroma im Mund, dazu das Bedürfnis nach Bier, viel Bier. Und diese Chips-Packung, die bisher noch ungeöffnet ist und das vermutlich auch bleibt. „Rate den Geschmack und gewinn 20.000 Pfund“ steht drauf. Aber ganz ehrlich: Ich trau mich nicht.

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Lecker Siebzigerjahre-Design aus der Sowjetunion

Alles fing damit an, dass eine Freundin neue Schuhe wollte. Oder besser gesagt: alte. Sie hatte sie online entdeckt, in einem kleinen Laden in Kiew, der sich auf Vintage-Mode spezialisiert. Ich plante sowieso eine Reise in die Ukraine, sollte also Schuhbotin spielen. Handlungsreisende. Zeitreisende.

Eine Halskette, eine Handtasche, eine Brosche und eine Tolle-Retro-Emaille-Schüssel-die-mal-als Schublade-zu-einem-sowjetischen-Kühlschrank-gehört-hat später, und der kleine Vintage-Laden nicht weit vom Maidan gehört zu meinem Pflichtprogramm bei jeder Kiew-Reise.

Diesmal ist mir beim Stöbern dort ein Stapel Flyer in die Hände gefallen. A5-Format in etwa, Farbdruck, matt. Vorne Bild, hinten Text. „Säfte“ steht untern den Illustrationen, „Kompott“, „Kwas“ oder, auch schon mal, „Heil-diätetische Konditoreiwaren“. Herausgegeben hat sie im Jahr 1975 das Ministerium für Lebensmittelindustrie der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (vielen Dank allen, die bis zum Ende dieses Begriffs dabei geblieben sind), und das Design ist so Siebziger, so Sowjetunion, so besonders, dass ich den ganzen Stapel mitnehmen musste.

"Pflanzenöle"
„Pflanzenöle“

Sonnenblumenkerne als Zirkelmuster in der Mitte, 23 Blütenblätter, Knallfarben. Was wie ein altes Grünen-Wahlplakat aussieht, bebildert tatsächlich einen ministeriellen Infotext zu Pflanzenölen. Der Text ist weder kurz noch interessant („bekannt sind unter anderem Nussöl, Senföl, Maisöl, Sonnenblumenöl, Rizinusöl, Hanföl, Leinöl, Olivenöl, Baumwollsamenöl, Sojaöl, Kokosöl und andere…“), und man fragt sich schon, warum es der Sowjetunion – oder zumindest ihrer ukrainischen Teilrepublik – so wichtig war, ihre Bürger derart tiefgehend über dieses Thema aufzuklären.

Bei anderen Flyern erschließt sich mir das schon eher. Wer Beerenweine hochjubelt, will dafür sorgen, dass die Bevölkerung richtigen Wein nicht so vermisst. Wer Margarine lobt (und dieses Paket Margarine dann auch noch so zeichnet, als läge es in seinem ganz eigenen Scheinwerferlicht), hofft auf eine geringere Nachfrage nach Butter.

"Obst- und Beerenweine"
„Obst- und Beerenweine“
"Margarine"
„Margarine“

Die Teewerbung, mit dem Blick durchs geschwungene Fenster direkt auf die Plantage, suggeriert: Exotik im eigenen Lande, Genosse! Und der nächste Flyer, mit blauem Suppentopf und Effizienz versprechender Uhr, wirbt für Fertiggerichte: „Maisriegel (in den Geschmacksrichtungen süß, süß mit Zimt, süß mit Vanille, süß mit Zitrone) werden in der Dnjepropetrowsker Fabrik für Fertiggerichte hergestellt und tragen das staatliche Qualitätssiegel.“

"Tee"
„Tee“
"Lebensmittelkonzentrate"
„Lebensmittelkonzentrate“

Eine Vorliebe für Gelb- und Brauntöne haben die Flyer, wenn man sie alle mal nebeneinander legt – gut, das deckt sich mit den Deko-Gewohnheiten der Siebziger. Besonders angetan hat es mir die Werbung für Kompott – im Hintergrund das frische Obst in helleren Farben, im stilisierten Glas dann alles ein bisschen dunkler, wie eingekochtes Obst eben nachdunkelt und an Farbe verliert.

Auch beim Thema Kaffee (Warum wird der überhaupt beworben? War der in der Sowjetunion nicht Mangelware?) dominieren Gelb und Braun, nur Kanne und Tasse leuchten in Sonntagsnachmittagsweiß. Die Texter des Ministeriums informieren uns dazu so zuverlässig dröge, wie das Bild anheimelnd ist: „Kaffee ist ein Durst löschendes Getränk mit tonisierenden Eigenschaften. Er steigert die Leistungsfähigkeit des Organismus. Das Getränk regt das zentrale Nervensystem an, verstärkt die Herztätigkeit und verbessert den Stoffwechsel.“ Dann vielleicht doch besser ein Glas Kwas.

(Die Bilder lassen sich per Klick vergrößern. Und der Vintage-Laden soll auch nicht unverlinkt bleiben: Nika Chick Vintage Corner.)