Russball, Folge 66: Wie man in Deutschland Spiele der Premjer-Liga guckt

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Ja gut, sicher. Leicht verspätet, diese Märzausgabe. Aber zwischen Kistenauspacken und Ämterkram und neuem Job und 11mm-Filmfestival war der März in etwa so voll wie Moskaus dunkelblaue Metrolinie um 9 Uhr morgens. Andererseits hat diese Verspätung auch einen Vorteil: Man kann den ganzen russischen Fußball abbilden, ohne dass sich jemand beim Lesen fragt: Hm, ist das jetzt echt oder ein Aprilscherz?

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⚽ Überhaupt, Aprilscherze – können wir das nicht so langsam mal lassen? Diese Nummer mit der Tagesschau und dem Volksparkstadion… Naja, lassen wir’s. Ich fände es jedenfalls gut, wenn es alle in Zukunft so machen wie die russische Nationalmannschaft. Die hat einfach das veröffentlicht, was bei Fernsehserien Outtakes, Gag Reel oder Bloopers heißt. Also eine Sammlung lustiger Momente rund um die Mannschaft. Besonders hübsch: Wie Guus Hiddink während der WM beim Training vorbeischaut, ein paar Worte sagt und Stanislaw Tschertschessow die gut gelaunt und absichtlich falsch ins Russische übersetzt.

Hiddink: „Jungs, erst einmal: Ich bin froh, hier zu sein, ich wollte nicht…“ – wahrscheinlich wollte er sowas sagen wie „stören“ oder „ablenken“, aber Teschertschessow grätscht flott dazwischen: „Er sagt: ‚Ich wollte euch nicht sehen, aber euer Trainer hat mich mitgenommen.'“. Hiddink: „Bisher schlagt ihr euch sehr gut, für mich überraschend, also, ein bisschen überraschend, aber…“ Tschertschessow: „Er sagt: ‚Mit mir als Trainer wärt ihr besser gewesen, aber da habt ihr halt Pech gehabt und müsst jetzt ihn hier ertragen…‘.“ Hiddink war ja selbst vor ein paar Jahren mal russischer Nationaltrainer. Um so lässiger, wie Tschertschessow da gleichzeitig ihn und sich selbst auf die Schippe nimmt.

⚽ Pawel Pogrebnjak war mal russischer Nationalspieler und gehört heute zum Kader des FK Ural Oblast Swerdlowsk in Jekaterinburg. Mitte März hat er in einem Interview über Einbürgerungen im russischen Fußball gesprochen, was man gut mal tun kann: Die offizielle Linie der vergangenen Jahre, ausländische Spieler einzubürgern, um die Nationalmannschaft zu stärken, kann man durchaus kritisieren – etwa, weil es nachhaltiger wäre, Geld in die Nachwuchsarbeit zu stecken. Die ist in Russland ja arg ausbaufähig.

Pogrebnjaks Kritik allerdings äußerte sich eher in Sätzen wie „Es ist komisch, wenn ein schwarzer Spieler für Russland antritt“, „Ich verstehe nicht, warum Ari einen russischen Pass bekommen hat“ oder „Man hätte (in der Nationalmannschaft) auch ohne Ausländer auskommen können“. (Warum er Ari als Beispiel erwähnt und nicht, sagen wir mal, Roman Neustädter oder Konstantin Rausch? Na gut, die sind zwar auch eingebürgert, aber weiß, da stören sie Pogrebnjak vielleicht nicht ganz so akut.) Das Ethik-Komitee des russischen Fußballverbandes hat Pogrebnjak jedenfalls zu einer Geldstrafe von rund 3400 Euro verurteilt, wenn er sich noch einmal ähnlich äußert, kann er für den Rest der Saison suspendiert werden. Inzwischen hat er sich entschuldigt, er habe niemanden beleidigen wollen.

⚽  Das ist mal ein kluger Schritt: Alle Spiele der russischen Premjer-Liga kann man künftig im Ausland kostenlos bei Youtube gucken – offenbar erst mal bis Ende der aktuellen Saison. Keine schlechte Idee, wenn man will, dass die eigene Liga endlich auch im Ausland populärer wird. Ganz zu schweigen von den viele Russen oder Menschen mit Russland-Bezug, die anderswo leben, aber sich schon jetzt dafür interessieren, wie Anschi Machatschkala dieses Wochenende gegen Dynamo Moskau spielt oder Rubin Kasan gegen Arsenal Tula. Zum Youtube-Kanal der Premjer-Liga geht es hier.

⚽ Wie war das, nichts hat so lange Bestand wie ein Provisorium? Bei den außen ans Stadion drangebauten Zuschauertribünen in Jekaterinburg ist es inzwischen mehr als ein halbes Jahr außerplanmäiger Existentz. Eigentlich sollten sie nach der Weltmeisterschaft weg, aber nein: Sie stehen, und auf ihnen die Fans. (Hatte ich übrigens schon am Tag nach der WM so ähnlich vorhergesagt, hüstel.)

⚽ Und wo wir schon bei der Weltmeisterschaft und ihren Spätfolgen sind: Was sich offenbar ausgezählt hat war die Entscheidung, WM-Besucher mit ihrer Fan-ID bis Ende 2018 visafrei nach Russland einreisen zu lassen. Jeder zehnte ausländische Fan hat diese Möglichkeit genutzt und ist zwischen August und Dezember noch einmal nach Russland gekommen, schreibt Wedomosti. 1,3 Milliarden Euro gaben die Reisenden während ihres Aufenthalts aus.

Interessante Erkenntnis am Rande: Wedomosti hat auch Zahlen dazu, wer rund um das Turnier welche Ecken des Landes bereist hat. Die Top Fünf sind keine Überraschung, die meisten Leute kamen nach Moskau, St. Petersburg, ins Moskauer Umland, in die Region Krasnodar (dort liegt Sotschi) und in die Republik Tatarstan (dort liegt Kasan). Blickt man aber mal anders auf die Zahlen, dann kommt heraus, dass es tatsächlich Nationalitäten gibt, die zur WM alle 83 russischen Regionen besucht haben, nämlich die Brasilianer und die US-Amerikaner. In diesem Ranking kommen deutsche Fußballfans direkt als nächstes: Sie haben immerhin 82 von 83 Regionen besucht, und man fragt sich schon, welche wohl die eine, einsame unbesuchte ist? Der Autonome Kreis der Jamal-Nenzen? Karatschai-Tscherkessien? Oder doch die Republik Adygeja?

⚽ Eine ganz andere Geschichte zur Fan-ID: Es gibt auch Leute, die sie genutzt haben um nach Russland einzureisen und dort dann zu bleiben, auf der Suche nach Arbeit. Alle paar Wochen hört man sie mal wieder, diese Geschichten von Menschen, die gehofft hatten, in Russland bleiben zu dürfen, vielleicht mit Asyl – dabei ist die Zahl der Fälle, in denen jemand in Russland erfolgreich Asyl beantragt hat, extrem niedrig.

Von Regierungsseite gibt es immer wieder Zwischenmeldungen à la „so viele haben wir schon abgeschoben“ und „bis zu Termin X werden wir alle abgeschoben haben.“ Zuletzt sollte das bis Ende März geschehen. AFP hat mit vier Menschen, die mit Fan-ID eingereist und geblieben sind, über ihre ungewisse Zukunft gesprochen.

⚽ Nach der WM ist vor der EM, die Qualifikationsspiele haben begonnen. Für Russland eher durchwachsen – eine Niederlage gegen Belgien, dann ein Sieg über Kasachstan. Bemerkenswert ist daran, dass das zweite Spiel nicht wie geplant in Astana stattfand. Nicht, weil der Rasen unbespielbar gewesen wäre, das Stadion baufällig, nein: alles, wie es sein soll.

Nur eben nicht mehr in Astana. Denn kurz zuvor war Kasachstans Präsident zurückgetreten, nach mehr als 30 Jahren an der Macht. Und wie man das so tut als autoritärer Staatschef, der sicherheitshalber Opposition und Medien unterdrückt, weil er halt ungern irgendwas dem Zufall überlässt: Natürlich hat sich Nursultan Nasarbajew seinen Nachfolger selber ausgesucht. Und natürlich hat der wiederum stante pede angeregt, dass die Hauptstadt doch nun nach dem Ex-Präsidenten heißen könnte. Weshalb Russlands Nationalmannschaft also nicht in Astana antrat, sondern in Nursultan. (Einiges an Nasarbajews Abgang gilt übrigens als mögliches Vorbild für Wladimir Putin – mehr dazu hier, hier und hier.)

Wie die Lage im Land nach dem Machtwechsel ist, sieht man schon daran, dass die Polizei aus den seltsamsten Gründen Menschen festnimmt. Hier: Das Tragen einer Fahne des FC Qairat Almaty. Ein kleines Gedicht dazu, das sich leider nur auf Russisch reimt, hat Peter Leonard getwittert: „In einem Jahr oder zwei spielt Qairat in der Uefa. In zwei Jahren oder drei komme ich aus dem Gefängnis raus.“

⚽ Was nicht funktionieren wird, ist eine EM ohne Freiwillige. (Wie deren Engagement und Begeisterung schon beim Confed Cup 2017 andere Probleme ausgeglichen haben, hab ich damals hier hingebloggt.) Die EM 2020 ist ja die, die in einer ganzen Reihe europäischer Städte ausgetragen wird, vier Spiele auch in Russland, in St. Petersburg. Vier Spiele, was braucht man da so an freiwilligen Helfern? Och, so 1500 bis 2000, heißt es in Russlands zweitgrößter Stadt. Zum Vergleich: Bei der WM waren es 2000 feste Volunteers und 300, die bei Bedarf einspringen konnten. Auf jeden Platz hatten sich 2018 drei Leute bewroben – mal sehen, wie das Interesse zur Europameisterschaft ist.

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Na komm, wir waren schon bis in Kasachstan – dann ist es auch okay, wenn wir hier zum Schluss noch einmal nach Großbritannien rüberschlenkern. Stimmt schon, die haben da gerade ganz andere Probleme als Fußball. Aber dem Fußballclub Tadcaster Albion in Yorkshire hat es jetzt zum zweiten Mal das Spielfeld überschwemmt und vieles an Ausrüstung zerstört. Sie brauchen 5000 Pfund, um das hinzubekommen – es ist ein kleiner Verein. Vielleicht mögt ihr ja auch helfen, das geht hier. Als Dankeschön gibt es auch ein GIF zum Thema Nachwuchs im russischen Frauenfußball – macht’s gut!



 

Endlich wieder Lieblingsthreads

Threads

Wir erinnern uns: Es gab hier mal die Idee, monatlich die schönsten, klügsten, unterhaltsamsten Threads zu sammeln. Also die Fälle, in denen Twitter zeigt, dass es mehr sein kann als Nachrichtendurchlauferhitzer, Memegenerator und Trollspielwiese. Wegen Abschieds, Umzugs und Neuankunft bin ich in den vergangenen Monaten zwar zum Sammeln gekommen, aber nicht zum Aufschreiben.

Diesmal gibt es also eine Thread-Sammlung aus den Monaten Dezember bis Februar, von Weihnachten bis Valentinstag. Und wie immer gilt: Der Klick auf den ersten, hier eingebundenen Tweet öffnet den Thread in seiner ganzen Schönheit.

1. Weihnachtsplätzchen und künstliche Intelligenz

Füttere ein neuronales Netz mit den Namen von Weihnachtsplätzchen und lass es dann selber welche erfinden. Ergebnis: „Apricot Dream Moles“, „Hand Buttersacks“, „Grandma’s Spritches“ und, schließlich ist das hier ein christliches Fest, „Lord’s Honey Fight“. Weiter unten im Thread sieht man dann auch, wass passiert, wenn AI ganze Plätzchenrezepte erfinden soll: So. Viel. Zucker.

2. Der kleine blaue Stöpsel

Details aus anderen Berufsfeldern finde ich immer spannend, also auch diese Geschichten rund um einen kleinen blauen Stöpsel. Der, siehe Replies, offenbar manchmal auch rot sein kann. Und so oder so Probleme verursacht, wnen man nicht auf ihn aufpasst.

3. Wie war das noch mal mit dem Ersten Weltkrieg?

#AlexDrunkHistory ist immer lesenswert – wer sonst schreibt schon Einstiegssätze wie den hier:

4. Game of Drones

Was passiert wohl, wenn ich an meiner schicken neuen Superdrohne diesen Knopf hier drücke? Mal probieren. Oh.

5. Ein Haus voller Schrecken

Wer keine Drohne kauft, der kauft ja vielleicht eine Ladung Heuschrecken für seine Haustier-Echse. Kann gut gehen, muss es aber nicht.

6. Was Sie schon immer über Mumien wissen wollten…

Ja, Menschen haben Mumien gegessen, aus Gesundheitsgründen. Ja, andere Menschen haben daraufhin Mumien gefälscht, um sie als Medizin zu verkaufen. Und ja, „Mumien-Auswickel-Partys“ waren mal ein akzeptierter Zeitvertreib. Doch, wirklich.

7. „That is how the Soviet power/Grows with every passing hour“

Tschastuschki sind einfache russische oder ukrainische Lieder, meist kurz und gerne schmutzig. Nicht vom Ausgangstweet abschrecken lassen, nur der ist ausschließlich auf Russisch. In den folgenden gibt es dann jeweils auch eine englische Übersetzung.

8. Wenn jemals jemand seine Eltern beneidet hat…

Stell dir vor, deine Eltern sitzen in einem Zug. Die Fahrt ist soweit ganz gut, nur hinter ihnen sitzt eine Gruppe von Leuten, die ziemlich laut Uno spielen. Klingt unspektakulär, ist es aber nicht:

9. Vom Duft alter Bücher

„I eat books and drink science“ hat Emma Hollen in ihre Twitter-Biografie geschrieben. Dazwischen findet sie noch die Zeit, zu erklären, warum alte Bücher so gut riechen – jedenfalls die aus einer bestimmten Epoche. (Im letzten Tweet gibt es sogar einen Link zum Literaturverzeichnis. Peak Thread?)

10. Valentinstag und Fisch-Schleim

Reim und Schleim, das ist fein. Klingt nach Pumuckl, ist aber offenbar das Motto von Ed Yong, Wissenschaftsjournalist. Er nutzte den Valentinstag, um mit gereimten Tweets ein paar seiner Artikel zu bewerben, und was soll ich sagen: Ich möchte jetzt eventuell einen Schleimaal als Haustier.

11. Vielen Dank, lieber Biber!

Ich weiß nicht genau, was mich mehr freut: ein Vortrag über Biber mit dem wortspieligen Titel „Make (th)em give a dam“, oder all die Infos in diesem Thread darüber, wie sich der Biber nach und nach in Europa wieder verbreitet.

12. Johann Sebastian Keks

Und dann hab ich noch diesen Thread hier gelesen, gemocht und auch an den Antworten unten drunter großen Spaß gehabt: Komponisten und die Kekse, die so sind wie sie. Nom-nom-nom-nooooooom.

„Ich habe ja nichts gegen Fußball, aber…“

Es wäre ja auch zu schön gewesen. Schön, wenn sie einfach mal gestimmt hätten, diese Erklärungen im Vorfeld der WM, wonach schwule Fans, lesbische Fans, überhaupt LGBTQ-Fans unbesorgt nach Russland kommen können. Die Realität sieht anders aus: Als Security eingesetzte Kosaken-Gruppen kündigen an, jedes gleichgeschlechtliche Paar, das sich in der Öffentlichkeit küsst, der Polizei zu melden. Der Aktivist Peter Tachell wird festgenommen, als er in der Nähe vom Roten Platz gegen die Verfolgung von Homosexuellen in Tschetschenien protestiert.

Dem „Diversity House“ in St. Petersburg wurde kurz vor der Eröffnung der Mietvertrag gekündigt und der Strom abgedreht. Wer sich gelegentlich damit beschäftigt, wie in Russland mit NGOs umgegangen wird, kennt diese Art von Schikane, sie hat Methode.

Wie gut tat es da, einen Tweet zu lesen, der hier in Russland gerade die Runde macht.

„Ich hab ja nichts gegen Fußball, aber warum muss man das allen unter die Nase reiben? Warum kannst du nicht einfach zuhause sitzen und es still angucken, anstatt irgendwelche Meisterschaften zu veranstalten? Warum sollen euch alle bei eurem Privatvergnügen zusehen? Wie soll ich all diesen Unfug bloß meinen Kindern erklären?“

Ihr merkt, worum es geht. Und viele andere Twitter-Nutzer merkten es auch und stimmten ein.

„Und dann guckt mein Kind plötzlich sowas und will auch Fußballer werden!“

„Wegen dieser Fußballspieler wird die Menscheit in 100 Jahren ausgestorben sein, wollt ihr das?“

„Sowas gab’s hier früher in Russland nicht, damals spielten sie still vor sich hin normale russische Spiele. Dann erfanden die grässlichen Europäer diese Abscheulichkeit, in kurzen Shorts herumzulaufen, das ist doch nicht orthodox…“

„Ich habe auch einen Freund, der Fußballer ist. Aber der ist normal und zieht kein Fußballtrikot an, und der scherzt auch mit und lacht, wenn man Witze über Fußballer macht“

„1. Ein Fußballer zu sein, ist einfach unnatürlich. Wo sieht man das schon jemals in der Wildnis? 2. Die Faschisten waren ursprünglich auch Fußballspieler. 3. Dies ist eine Sünde und eine schwere Krankheit, da helfen nur Fasten und Gebete. Und überhaupt, sollen sie doch irgendwo im Wald spielen, wo ich sie nicht sehen muss.“

„Stimmt! Die gehören in die Fabrik und zur Armee unter normale Männer, das treibt ihnen diese Flausen schon aus“

„All diese Perversionen mit einem Haufen Männer auf einem Spielfeld – das wird ganz klar von der Soros-Stiftung finanziert! Ich habe selber gesehen, wie sie Bälle aufgepumpt haben, und mit diesen Bällen Kinder trainiert haben – sie spielen mit ihnen und werden dann auch zu solchen Leuten. VERSTEHT IHR, WIE ALL DAS ENDEN WIRD?“

Russball, Folge 41: Ein russischer Blick auf die „sentimentalen Deutschen“

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Eine fleißige Woche war das. Mit Max vom Rasenfunk-Podcast habe ich angesichts der nahenden WM über Witali Mutko, Hooligans und Rassismus in Russland gesprochen, das Ergebnis könnt ihr hier hören. Außerdem habe ich dem Projekt „Handelsblatt macht Schule“ ein paar Fragen beantwortet, zum Beispiel: „Warum steht es um den russischen Fußball so schlecht, obwohl es Geld genug gibt?“

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⚽ Die Wahl in Russland ist vorbei, und mit ihr auch all die offiziellen Anstrengungen, die Wahlbeteiligung möglichst weit nach oben zu treiben, um dem alten, neuen Präsidenten seine Legitimation zu sichern. Auch Russlands Fußball-Nationalmannschaft trug ihren Teil bei mit einem „Wir fahren jetzt abstimmen“-Tweet, samt Foto. Die Twitter-Follower waren wenig beeindruckt, unter dem Tweet sammeln sich spöttische Kommentare. Einer der kürzesten ist auch gleichzeitig der lustigste, in seiner ganzen Süffisanz: „Hauptsache, ihr trefft die Urne.“

⚽ Direkt noch ein politisches Thema: Nach dem Giftanschlag auf den Spion Sergei Skripal hört man immer wieder Forderungen nach einem Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft. Eine ganze Reihe von Redaktionen hat dazu Kommentare veröffentlicht, zwei möchte ich hier verlinken: In der Welt argumentiert Ralf-Dieter Brunowsky, der Anschlag sei eine Attacke auf die gesamte Nato, „der Westen sollte auf eine robustere Widerstandslinie und härtere Sanktionen einschwenken.“ Solch einen Boykott, argumentiert er weiter, könnten die einzelnen Regierungen auch gegen den Willen der jeweiligen Fußballverbände beschließen.

Gesine Dornblüth hält im Deutschlandfunk dagegen und listet fünf Gründe auf, warum ein solcher Boykott unwirksam, unnötig oder sogar kontraproduktiv wäre. Besonders einleuchtend finde ich ihre Argumentation, wonach Putin ja gerade davon lebt, dass er sich als Verteidiger eines Landes inszenieren kann, dass das Opfer ungerechtfertigter Aggressionen und Schuldzuweisungen aus anderen Ländern. Ein Boykott würde ihm da ein weiteres Argument liefern. Ihre Zusammenfassung daher: „Für einen Boykott der Fußball-WM gibt es gute Argumente; die besseren sprechen dagegen.“

⚽ Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß: Nun fällt schon der dritte russische Nationalspieler bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land aus, und in allen drei Fällen ist eine Knieverletzung schuld. Im Januar war es Georgi Dschikija, im Februar Wiktor Wassin und nun, im März, Alexander Kokorin. Alle drei werden sie wegen eines Kreuzbandrisses nicht bei der WM antreten können.

Vor allem bei Stürmer Kokorin gibt es nun allerlei Spekulationen, wer ihn beim Turnier ersetzen könnte. Wie sieht eine russische Aufstellung aus ohne ihn im Angriff? Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow lässt beiläufig fallen, dass Denis Tscheryschew ja ein ganz ähnlicher Spielertyp sei wie Kokorin. Der langjähriger Trainer Anatoli Byschowez verweist auf Fjodor Smolow und Anton Sabolotni, und dann sind da ja auch noch die Mirantschuk-Brüder. Hauptsache, von all denen verletzt sich jetzt keiner mehr.

⚽ Kurz vor der WM wird der deutsche Astronaut Alexander Gerst zur ISS fliegen, um deren neuer Kommandant zu werden. Im Moment macht er sich gerade Gedanken darüber, was alles in sein Gepäck soll – und hat da mal eine Frage an den DFB:

⚽ Die Zeitung „Moskowski Komsomolez“ möchte ihren Lesern erklären, „Warum sie in Deutschland RB Leipzig hassen“. Von Plastikvereinen ist da die Rede, von Leverkusen und Wolfsburg, die als Werkselfs ebenfalls unpopulär sind, aber dann doch nicht so verhasst wie Leipzig. Es gibt einen Einblick in Besitzstrukturen deutscher Bundesligavereine und eine beiläufige Erwähnung der Fan-Szene von St. Pauli als „Ableger der Reeperbahn“. Ein guter Überblick, aber am besten gefallen hat mir das Fazit der Analyse: „Bei allen Stereotypen über ihre trockene, pragmatische Art sind die Deutschen eigentlich sehr sentimental.“

⚽ Das Leben genießen in vollen Zügen: Mit der Fan-ID kann man ja während der WM im Sommer kostenlos mit dem Zug von einem WM-Austragungsort zum anderen fahren. Klingt so, als würde das ziemlich voll da im Abteil: Bisher haben schon mehr als 100.000 Fans solche Gratis-Tickets gebucht, besonders populär sind sie bei WM-Reisenden aus Kolumbien, China und den USA.

⚽ Ohne Abkürzungen wäre das Leben in Russland sehr viel langsamer. Man müsste zum Beispiel jedes Mal „Federalnaja sluschba po nadsoru w sferje swjasi, informationnich technologii i massowich kommunikazii“ sagen statt einfach „Roskomnadsor“. Diese russische Medienaufsicht hat nun bekanntgegeben, dass sie auf 858 Internetseiten gefälschte WM-Tickets entdeckt hat. 822 Seiten haben diese Angebote auf Anweisung von Roskomnadsor gelöscht, 8 Seiten weigerten sich und wurden blockiert, bei 28 steht ihre Reaktion noch aus.

⚽  Und noch eine Zahlenmeldung: 20 Prozent aller Isländer haben sich auf WM-Tickets beworben. 20 Prozent! Das ist, auf Deutschland übertragen, als wollten ganz Hessen und ganz Baden-Württemberg geschlossen zur WM fahren. Das große Fußball-Interesse ihrer Landsleute feiern zwei Journalisten der Reykjavik Grapevine mit einem Artikel, den ich mir nur so erklären kann, dass er unter Schlafentzug, viel Alkohol und permanentem Anhören von Björks „Utopia“ zustande gekommen ist: „Smite The Kremlin: 20% Of All Icelanders Form A Russia-Sacking Football Horde“.

⚽ Mit Interesse verfolgt habe ich in den letzten Tagen die Debatte rund um die „Datei Gewalttäter Sport“. Rund 10.000 Namen stehen dort drauf, umgangssprachlich ist oft von einer „Hooliganliste“ die Rede. Nun ist nicht nur die Liste an sich problematisch, im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft bekommt sie eine zusätzliche Brisanz.

Denn die Bundesregierung tauscht die Daten auf der Liste mit den russischen Behörden aus, also mit offiziellen Einrichtungen eines autoritär regierten Staates, der Bürgerrechte und Datenschutz nicht allzu wichtig nimmt. (Von den Menschen, die auf der russischen „Hooligan-Liste“ stehen, kann zum Beispiel jedermann Name, Geburtstagdatum und andere persönliche Daten online einsehen.) Kritiker sehen im Verhalten der Bundesregierung eine „rechtswidrige Datenweitergabe an ein autoritäres Regime“, die Bundesregierung argumentiert, Russland müsse als Mitglied des Europarates grundlegende Datenschutzregeln einhalten, in Einzelfällen sei die Weitergabe von Personendaten also in Ordnung.

⚽ „Don’t quit your day job“ sagt man auf Englisch, wenn sich jemand an etwas versucht und richtig schlecht darin ist – ein Gegenstück zu der Redensart mit dem Schuster und seinen Leisten. Gianni Infantino ist so ein Kandidat, dem das auch mal jemand sagen müsste: Der Wechsel ins Comedy-Fach ist derzeit keine Option.

Infantino nämlich hat bei einer Pressekonferenz betont, dass alle Dopingproben des russischen Nationalmannschaft bei den letzten drei internationalen Turnieren negativ waren. „Würden die Spieler dopen, dann wäre ihre Leistung vielleicht besser“, kommentierte er die Ergebnisse im Labor und auf dem Platz. Ha. Haha. Hahaha. Ha.

⚽ Zum Schluss noch eine Meldung, die im Baltikum spielt, aber dennoch hierher gehört. Im Moment gibt es jeden Tag zwei Züge zwischen Kaliningrad und dem Rest von Russland; die Strecke führt quer durch Litauen. Dieses ganze Konstrukt rund um Kaliningrad ist ohnehin schon faszinierend – eine Exklave, umringt von EU-Ländern und doch zutiefst russisch. Eine Stadt, in der deutsche, russische und europäische Geschichte in jedem Haus, in jedem Straßennamen stecken.

Kaliningrad gehört zu den Gastgeberstädten der Fußball-WM, unter anderem hat England eines seiner Spiele dort. Damit Fans gut von Kaliningrad nach Restrussland kommen und zurück, haben sich die Regierungen in Vilnius und in Moskau nun geeinigt: Während der WM wird es täglich sechs Züge geben statt zwei. Einziger Haken: In Kaliningrad spielen auch Marokko und Nigeria – und deren Fans dürfen die Züge nur benutzen, wenn sie für den Transit durch Litauen ein Schengenvisum haben.

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Nächste Woche müsst ihr übrigens ohne Russball-Folge auskommen, weil ich mich in Schottland rumtreibe. Alle Tipps, was man in Edinburgh anstellen sollte, wenn man schon ein paar Jahre nicht mehr da war, gerne an mich. Danke, macht’s gut und bis in zwei Wochen!

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Russball, Folge 27: Das DFB-Fan-Camp in der Moskauer Pampa

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Doping. Rassismus. In dieser Russball-Woche müssen wir mal wieder über die großen Probleme des russischen Fußballs reden. Aber keine Bange – es geht auch um Geld, um Fußball im Schnee, um DFB-Werbung für eine Moskauer Fan-Unterkunft und um Schadenfreude.

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⚽ Ach komm, dann fangen wir mit der Schadenfreude auch direkt an. Deren Anlass ist, natürlich, die Champions-League-Begegnung zwischen dem FC Liverpool und Spartak Moskau. Liverpool hat sowas von gewonnen7:0, ein Fiasko für Spartak. Noch nie ist ein russischer Verein in einem europäischen Wettbewerb so abgewatscht worden. Dmitri Alenitschew, bis vergangenes Jahr Spartaks Trainer, spricht von einem Schock und einem inakzeptablen Ergebnis. Rekordnationalspieler Alexander Kerschakow sieht die Niederlage als Beleg dafür, wie schwach der russische Vereinsfußball im Allgemeinen ist. „Die russische Titanic“, titelt Sport Express.

Und was machen die russischen Fußballfans aus der Niederlage? Klar doch: Witze. Der hier zum Beispiel macht gleich in mehreren Versionen die Runde:

Der hier spricht für sich selbst:

Und der hier ist zwar nicht von einem Russen, gewinnt aber den Preis für die steilste These:

⚽ Parallel zu den Begegnungen der Champions League gibt es die Jugendliga der UEFA, bei der dieselben Vereine gegeneinander antreten, diesmal aber auf U19-Level. Und da hat es allem Anschein nach einen schweren rassistischen Vorfall gegeben. Schon bei der Hinrunde zwischen Liverpools U19-Mannschaft und der von Spartak hatte es rassistische Rufe der Spartak-Fans gegen Bobby Adekanye gegeben, Spartak musste zur Strafe sein Stadion teilweise sperren. Nun stand die Rückrunde an, und diesmal ist es ein Spartak-Spieler, der ausfällig geworden sein soll: Leonid Mironow, ausgerechnet der Kapitän, soll Rhian Brewster rassistisch beleidigt haben.

Wichtig wird in den nächsten Tagen nicht nur, ob die UEFA diesmal deutlicher reagiert als bei dem Vorfall im Hinspiel. Natürlich sind solche rassistischen Attacken das Letzte, was Russland ein halbes Jahr vor der WM braucht. Gegen Mironow läuft nun ein Verfahren, sein Agent dementiert. Das Schlusswort aber gehört diesem Liverpool-Fan, der aus dem Champions-League-Spiel und der U-19-Begegnung ein knappes Fazit zieht:

⚽ Apropos Rassismus: Ihr erinnert euch an das Banner einiger Zenit-Fans, die meinten, den serbischen Kriegsverbrecher Ratko Mladic feiern zu müssen? Die UEFA hat reagiert, Zenit darf beim nächsten Spiel in einem europäischen Turnier keine Karten für den Sektor verkaufen, in dem das Banner hing. Stattdessen soll dort ein Antidiskriminierungs-Slogan wehen. Außerdem zahlt der Verein eine Geldstrafe: 10.000 Euro.

⚽ Dass Zenit hier nicht nur mit einer Negativschlagzeile auftaucht, hat der Verein Branislav Ivanović zu verdanken. Dessen Fallrückzieher-Tor in der Europa League gegen Real Sociedad war so schön – na, guckt halt selbst. Zucker.

⚽ Hilft ja nichts, wir müssen über Doping reden. Wieder mal. Also, eine Bestandsaufnahme: Das IOC hat Russland von den Winterspielen in Südkorea ausgeschlossen, nachweislich saubere russische Sportler dürfen aber unter neutraler Flagge antreten. Witali Mutko darf ein Leben lang keine olympischen Sportveranstaltungen mehr besuchen – derselbe Mutko, der als Russlands ranghöchster Fußballfunktionär der Oberorganisator der russischen Fußball-WM ist.

Was heißt das jetzt? Kommt drauf an, wen man fragt. Für die FIFA hat die Sperre „keinen Einfluss auf die Vorbereitungen“ für die WM – bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Für Wladimir Putin heißt es möglicherweise, dass er mit dem „Wir gegen den Rest der Welt“-Argument noch mehr Zustimmung für seine Wiederwahl bekommt. Russische Sportler und Sportfunktionäre sehen eine politische Entscheidung. Und Mutko? Der staatlichen Nachrichtenagentur TASS hat er gesagt, dass er jederzeit zum Rücktritt bereit ist – wenn es nötig ist. Aber darüber müsse man im Moment ja nicht reden.

⚽ Mir ist ein Werbelink für das deutsche Fan-Camp in die Hände gefallen. Das „DFB-Reisebüro zusammen mit dem Fan Club Nationalmannschaft powered by Coca-Cola“ bietet deutschen WM-Reisenden an: Unterkunft in einem russischen 4-Sterne-Hotel, aus Deutschland angereiste Orga- und Sicherheitsleute, Public Viewing und andere Bespaßung. Gerade, wer vielleicht unsicher ist, ob er sich in einer Großstadt und mit der fremden Sprache zurechtfindet, kann hier auf Nummer sicher gehen.

Stutzig gemacht hat mich allerdings der Ort, den das „DFB-Reisebüro zusammen mit dem Fan Club Nationalmannschaft powered by Coca-Cola“ sich ausgesucht hat. Das Holiday Inn Winogradowo wird beworben als „durch die öffentlichen Verkehrsmittel optimal an das lebendige Zentrum Moskaus angeschlossen“. Das stimmt allerdings nur, wenn man „optimal angeschlossen“ definiert als: Fußweg zur Bushaltestelle, Viertelstunde Busfahrt, Fußweg zur Metro, halbe Stunde Metrofahrt, umsteigen, noch mal eine Station mit der Metro fahren, dann wieder Fußweg. Das sind knapp anderthalb Stunden, um vom Hotel des „DFB-Reisebüros zusammen mit dem Fan Club Nationalmannschaft powered by Coca-Cola“ bis zum Roten Platz zu kommen.

Wer noch genauer wissen will, wie weit draußen dieses Hotel liegt, kann dabei das nützliche russische Wort „Oblast“ lernen. Es heißt sowas wie „Landkreis“ oder „Umland“, die Moskauer Oblast beginnt also da, wo Moskau endet. Dieses Holiday Inn, noch weiter nördlich vom Zentrum als der Ikea in Khimki – also, ich war mir sicher, dass das schon Moskauer Oblast ist. Aber nein: Genau hier streckt das Stadtgebiet (ähnlich wie damals Stefan Effenberg) einen langen Finger nach oben aus: Links und rechts ist längst Oblast, aber das Hotel des „DFB-Reisebüros zusammen mit dem Fan Club Nationalmannschaft powered by Coca-Cola“ liegt in einem schmalen Moskau-Korridor. Ich hab das hier mal mit Windows Paint einem hochprofessionellen Bildbearbeitungsprogramm eingezeichnet – rot schraffiert ist die Moskauer Oblast:

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Guckt man bei Tripadvisor, was Gäste an diesem Hotel kritisieren, klingt das so: „abgelegen (nur mit Auto zu empfehlen)“ – „praktisch keine öffentlichen Verkehrsmittel“ – „it would be a nightmare to even think of getting there by public transport“. Optimal angeschlossen ist anders. Kreativ noch dem Moskauer Stadtgebiet zugeschlagen stimmt aber definitiv.

⚽ Der Daily Telegraph hat einen Scoop zu Rubin Kasan: Offenbar hat der Club, der immerhin in Russlands oberster Liga spielt, seit Monaten seine Spieler nicht mehr bezahlt. Mehr als 11 Millionen Euro in ausstehenden Gehältern sind es laut Telegraph; der Absatz über Rubins Führungsriege liest sich wie das Skript für eine Klischee-Soap über Russland: „Präsident Radik Schaimijew steht auf Platz 88 auf der Liste der reichsten Männer in Russland. Kuratoriumsvorsitzender ist Rustam Minnichanow, Präsident von Tatarstan und ein Verbündeter von Präsident Wladimir Putin. Rubins Sportdirektor ist Rustem Sajmanow, der im Zusammenhang mit einem Mord verhaftet wurde und im Gefängnis saß.“

Nach Deutung des Telegraph entsteht aus der Finanzkrise das Risiko, dass Rubins Leistungsträger abgeworben werden. Kasans Lokalmedien halten sogar eine gezielte Strategie für möglich: „Vielleicht will der Klub so diejenigen Legionäre loswerden, die nutzlos und teuer sind?“, fragt Wetschernjaja Kasan. Vom Verein gibt es bisher nur ein dünnes „Kein Kommentar“, ein Agent, der mehrere Rubin-Spieler vertritt, hat die Zahlungsrückstände aber bestätigt. Und bei Werder fragen sie sich schon mal, ob Maxime Lestienne unter den Bedingungen nicht vielleicht nach Bremen wechseln möchte.

⚽ Schon mal von den Ewenken gehört? Nein? Dann vielleicht von den Dolganen? Auch nicht? Beides sind Völker, die zu den russischen Ureinwohnern gehören und vorwiegend in Sibirien leben. Wie es aussieht, wenn da jemand im Dezember auf die Idee kommt, ein informelles kleines Fußballturnier zu organisieren? Na, so:

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Zum Schluss noch dies hier: Wenn schon Hotelbesitzer und Fluglinien ihre Preise erhöhen, um von der Fußball-Weltmeisterschaft zu profitieren, dann bleibt das Umland von St. Petersburg (volle Punktzahl für alle, die jetzt gerade „Ah, Oblast!“ gedacht haben) auch nicht untätig. Dort erwägen Lokalpolitiker darum nun, während des Turniers die Steuern für Buchmacher zu verdoppeln. Gewettet wird schließlich immer, erst recht während großer Turniere. Gut möglich, dass andere russische Regionen nachziehen und eine ähnliche Regelung einführen.



 

Putin der Woche (XLI)

putin der woche comedy club 2

Gesehen: In einem Sketch im „Comedy Club“, beim russischen Fernsehsender TNT. Nicht der echte Putin, natürlich – aber eine gar nicht mal so unähnlich aussehende Version.

Begleitung: Donald Trump. Er sitzt in seinem Büro, als Putin anruft. Trump kommt das ungelegen, er beendet das Gespräch schnell, sie verabschieden sich. Unmittelbar darauf betritt Putin Trumps Büro.

Text:
Putin: „Guten Tag.“
Trump: „Guten Tag. Äh, wie… wie sind Sie denn so schnell…“
Putin: „Wir haben einen Kampfjet, der schafft es in einer Sekunde bis nach Amerika.“
Trump: „Ja?“
Putin: „War nur ein Witz. Wir haben hier in der Nähe ein Büro angemietet.“
Trump: „Wo?“
Putin: „Hier, im Weißen Haus. Direkt über Ihnen.“
Trump: „Ernsthaft?“
Putin: „War nur ein Witz. Es war doch der Kampfjet.“

Subtext: Putin kann Trump alles erzählen – und tut das auch. It’s funny cause it’s true.

Oben-Ohne-Punkte: 0/10.

(Den ganzen „Comedy Club“ gibt es hier zum Nachgucken, der Sketch mit Putin und Trump beginn ungefähr bei 40 Minuten.)

Ich liebe Öl, ich liebe Gas

Vor nicht einmal zwei Jahren hat einer der bekanntesten DJs Russlands ein Musikvideo namens Нефть (Öl) veröffentlicht. Damals war das Lied von DJ Smash Comedy, eine humorvolle Anspielung darauf, wie wichtig Öl für den russischen Staatshaushalt ist.

Hört man sich die Spaßmucke heute noch mal an, drängen sich ernstere Töne auf. Denn seit der Veröffentlichung des Videos geschah, nur zur Erinnerung, das hier:


source: tradingeconomics.com

Vor dem Einbruch des Ölpreises jedenfalls sah musikalischer Humor in Russland so aus: Eine Frau singt, wie sehr sie Öl liebt, und ist damit nicht alleine. Shoppingtrips, Partys und Teestunden auf dem Lande, alles nichts ohne Öl. Bankräuber erbeuten pralle Ölsäcke. Bettler freuen sich über einen Hut voll Öl. Öl in Champagnergläsern und in Lipglossfläschchen.

Der großen poetischen Tragweite wegen sei hier auch noch in Auszügen der Text der Szene wiedergegeben, in der sich unsere Heldin zwischen zwei Männern wiederfindet. Natürlich löst sie den Konflikt dank Patriotismus. Auch das kommt einem, 2015 in Russland, nicht komplett unbekannt vor.

Mann 1: Liebst du mich?
Frau: Ich liebe Öl.
Mann 1: Öl, das bin ich!
Frau: Ich liebe dich!

Mann 2: Ich habe Gas.
Frau: Ich liebe Gas!

Mann 1: Du liebst aber doch schon Öl!
Frau: Ich liebe Öl! Öl? Gas? Öl? Gas? Öl? Gas? Öl? Gas? Öl? Gas? – Ich liebe Russland!

(Wer das Video wegen seiner Ländereinstellungen nicht sehen kann, hat vielleicht hier mehr Glück.

2014 – das Jahr in Büchern

buchruecken 2014 
Mehrere Monate in einer Übergangswohnung, während der eigene Lesestoff in Kisten darauf wartet, endlich auch nach Russland zu reisen. Buchläden, die mit internationalen Titeln eher mittelmäßig sortiert sind. Potschta Rossii, eine direkte Abkürzung in den Päckchen-Orkus.

Es gibt viele Gründe, warum die Lesemischung 2014 ein bisschen bunter war als sonst, nach dem Prinzip: Gelesen wird, was da ist. Auch viele Leihgaben waren dabei – nur ein Teil von dem, was unten steht, ist also auch oben auf dem Foto zu sehen.

Zeit zum Lesen war dafür viel da. Wie das halt so ist, wenn die Zahl der Freunde in Reichweite plötzlich wieder einstellig ist, draußen ständig Schnee liegt und das Pendeln zur Arbeit mindestens 60 Minuten dauert, eine Strecke.

Was bleibt, sind ein paar Trends: Die wiederentdeckte Liebe zu Christopher Isherwood. Die drei „Lucifer Box“-Bücher von Mark Gatiss, so großartig überzeichnet und liebevoll trashig. Zum ersten Mal seit ewig wieder Kurzgeschichten lesen, von Hilary Mantel, gefolgt vom Vorsatz, das wieder öfter zu tun. Stephen Frys neuen Autobiographie-Band ganz okay finden, aber zwei andere Bücher von ihm deutlich besser. Ilf und Petrow als schmerzfreier Einstieg in die russische Literatur. Zum zweiten Jahr in Folge ein richtig gelungener „Inspektor Rebus“, wobei der Dienstgrad nicht mehr stimmt. Hier also die komplette Liste:

“Crap Dates: Disastrous Encounters From Single Life” von Rhodri Marsden.
crap datesGelesen für eine Kolumne in der WAZ. Das Format „Komm, wir dengeln aus Tweets ein Buch zusammen“ ist ja bekannt, das hier ist trotzdem originell und ein Grinsen wert. Muss man aber nicht kaufen, es reicht auch, @Rhodri Marsden bei Twitter zu folgen.
 

“The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society” von Mary Ann Shaffer/Annie Barrows.
guernsey potao peelEines dieser Bücher, wo bei Titel und Design komplett klar ist, dass es an Frauen vermarktet werden soll. War dann aber doch ganz lesenswert und hat mich besonders interessiert, weil es im Zweiten Weltkrieg auf Guernsey spielt, unter deutscher Besatzung. Im echten Leben gehörte damals mehrere Jahre lang mein Opa zu diesen Besatzern, der diese durchweg ruhige Zeit immer als „wir haben da die Tomaten gehütet“ beschrieben hat. Wenn er Heimaturlaub hatte, fuhr er dagegen „in den Krieg“.
 

“Sehnsucht ist ein Notfall” von Sabine Heinrich.
9783462046212Sabine Heinrich finde ich schon so lange so gut, dass ich ein bisschen Sorge hatte, ob das denn auch was wird mit dem Buch und ich sie hinterher bitte immer noch mögen kann. Am Anfang, als sich dann ein Frau-zwischen-zwei-Männern-Plot auftat und sich eine Oma mit potentiell gutem Rat abzeichnete, hatte ich kurz ernsthaft Sorge. Aber dann war das doch gar keine altersweise Rosa-Bäckchen-Oma, und es ging auch nicht um die Suche nach dem einen, wahren Mann als Lebensentwurf. Stattdessen ist das Buch ein Roadmovie, in der Italo-Variante. Schwein gehabt.
 

“Journey To A War” von W.H. Auden/Christopher Isherwood.
Steinbeck und Capa in Russland, Ilf und Petrow in den USA – solche Reisereportagen mit zwei Protagonisten funktionieren im Idealfall gleich doppelt: Man erfährt was über das Reisen und darüber, wie die beiden Reisenden sich miteinander arrangieren. Isherwood_and_Auden_by_Carl_van_Vechten,_1939Hier sind die beiden Reisenden Christopher Isherwood und W.H. Auden, die jahrzehntelang Freunde waren, gelegentlich auch Liebhaber und außerdem als Künstler viel Wert auf die Meinung des anderen gelegt haben. Die zwei, zusammen unterwegs im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg, mal britisch-kolonial zum Tee beim Botschafter, mal im Dreck und Matsch kurz hinter der Front, das liest sich einfach großartig. Eines der Highlights 2014.
 

“Drei Männer im Schnee” von Erich Kästner.
Die ganze Zeit beim Lesen Heinz Erhardt als Geheimrat Tobler vor Augen gehabt, dabei wurde das Buch gar nicht mit ihm verfilmt. Aber dieser Stil, die Geschichte um den reichen Mann mit goldenem Herzen, der sich als Armer tarnt – alles bekannt, alles oft gesehen. Und trotzdem hat das Buch ein bisschen gewärmt, im schneematschigen März.
 

“My Trade” von Andrew Marr.
Download (1)Schon ein bisschen alt, diese Ausgabe von Andrew Marrs Bestandsaufnahme der britischen Medienlandschaft. Aber mitten in der Zeit des Lebens-aus-dem-Koffer war das immer noch gute Lektüre, anekdotenreich, reflektiert und anschaulich. Und nebenbei auch ganz nützlich, um für den neuen Job das englischsprachige Redaktions-Vokabular wieder aufzupolieren.
 

“There Is No Dog” von Meg Rosoff.
Download (2)Joah. Auf eine Empfehlung hin gelesen, und die Idee, dass Gott ein hormongetriebener Jugendlicher ist, der sich leicht ablenken lässt, würde sicher das ein oder andere an dieser Welt erklären. Trotzdem: Normalerweise hab ich gelesene Bücher ganz gerne hinterher im Regal, das hier konnte ich ohne Trennungsschmerz anschließend wegtauschen.
 

“I Feel Bad About My Neck” von Nora Ephron.
Nora Ephron hat viele Drehbücher geschrieben, darunter das für „Harry and Sally“, was als Ansporn reichte, dieses Buch hier zu ertauschen. Und ja, das ist alles geschickt gemacht, eine gute Mischung zwischen Pointen und den großen Themen des Lebens. Aber „die kann ihr Handwerk“ ist eben nicht dasselbe Gefühl beim Lesen wie „das berührt mich“. Also auch wieder weggetauscht, ebenfalls schmerzfrei.
 

“The Vesuvius Club” von Mark Gatiss.
the vesuvius clubWenn mir ein Künstler liegt, dann hangel ich mich ja ganz gerne durchs Gesamtwerk. Mark Gatiss schreibt Drehbücher für „Sherlock“, spielt darin Mycroft Holmes, und stand dieses Jahr am Donmar Warehouse in „Coriolanus“ auf der Bühne. (Unter Pseudonym hat er außerdem mal Geld als Autor von historisch angehauchter Pornographie verdient – die Amazon-Rezensionen zu lesen, lohnt sich!) Gatiss‘ „Lucifer Box“-Trilogie ist schon ein paar Jahre alt, aber „Wortspielerei-lastiger Roman um einen jungen, attraktiven Lebemann und Spion, der Männer, Frauen und schöne Kleidung liebt, gerne mal beim Dinner jemanden erschießt und um 1900 das Schicksal zweier untoter Wissenschaftler ermittelt und dabei wenn nicht die Welt, dann doch zumindest Italien rettet“ ist ja ein zeitlos schönes Genre. Gekonnter Trash, perfekte Pose. Jeder Bond würde sich über so einen Plot freuen. (Schönste Namen, neben Lucifer Box: Mrs Midsomer Knight, Charlie Jackpot und Miss Bella Pok.)
 

“The Devil in Amber” von Mark Gatiss.
devil in amberAuch „Wortspielerei-lastiger Roman um einen leicht gealterten Lebemann und Spion, der Männer, Frauen und schöne Kleidung liebt, in den Zwanzigern eine Vereinigung amerikanischer und britischer Faschisten unterwandert und schließlich dem Teufel selbst entgegentritt“ ist ein Genre, das Aufmerksamkeit verdient. (Schönste Namen: Percy Flarge, Sal Volatile und Agnes Dei.)
 

“Black Butterfly” von Mark Gatiss.
black butterflyEbenfalls ein schönes Genre: „Wortspielerei-lastiger Roman um einen vor der Pensionierung stehenden Lebemann und Spion, der Männer, Frauen und schöne Kleidung liebt, in den Fünfzigern eine heimtückische Pfadfinder-Vereinigung auffliegen lässt, der auch sein Sohn angehört“. Am besten von den drei Bänden ist aber definitiv der erste. (Schönste Namen: Kingdom Kum und die Anarcho-Criminal Retinue of Nihilists, Incendiarists and Murderers, abgekürzt A.C.R.O.N.I.M.)
 

“All Russians Love Birch Trees” von Olga Grjasnowa.
51rBGlTlY2L._SY344_BO1,204,203,200_Eigentlich gibt es keinen Grund, das Buch auf Englisch zu lesen – Olga Grjasnowa hat es auf Deutsch geschrieben, der Originaltitel heißt „Der Russe ist einer, der Birken liebt.“ Aber gut, im Buchladen gab es das eben auf Englisch, und die Stimmung, das pralle Leben und die tiefe Trauer, sind genau so, wie die „Zeit“ es hier bejubelt.
 

“No Place to Hide” von Glenn Greenwald.
no place to hideDas Buch zum Snowden. Liest sich mit Journalistenblick erst spannend (Kontaktaufnahme, Treffen, Interview, alles hinter dem Rücken der US-Behörden), dann bedrückend (das schiere Ausmaß der Überwachung), zwischendurch lustig (wer glaubt, bei ihm im Büro würden schlimme Präsentationen gehalten, hat die NSA-Powerpoints noch nicht gesehen) und zum Schluss langatmig, wenn Greenwald wieder und wieder die etablierte Medienlandschaft verurteilt, weil sie ihm zu ängstlich, zu langsam und zu regierungsnah ist. Das ist, bei allen guten Argumenten, dann doch eher anstrengend, immer wieder zu lesen. Trotzdem, unterm Strich, gute Lektüre – erst recht, wenn man in Snowdens neuer Heimat lebt.
 

“Thank you, Jeeves” von P.G. Wodehouse.
Ein Klassiker der britischen Literatur! Feinsinniger Humor! Die Briten und ihre Klassengesellschaft, so klug parodiert! Und endlich, endlich hab ich auch mal was von ihm gelesen und… fand’s ganz okay. Doch, ja, nett.
 

“Hammer and Tickle” von Ben Lewis.
Die vielen Pointen mitnehmen, ohne sich vom Ton des Erzählers irritieren zu lassen, das ist der Trick, um dieses Buch gerne zu lesen. Mehr hier.
 

“Juliet, Naked” von Nick Hornby.
juliet nakedEin Buch über Fan-Sein, Besessenheit und das Internet, und natürlich über Musik. Und klar, der Seitenhieb gegen „Let It Be Naked“ und ähnliche Vermarktungstricks ist deutlich. Die Mythenbildung und der Hype um einen Star sind hier genau so schlau beschrieben wie das komplett unspektakuläre Leben als Mitarbeiterin eines Heimatmuseums im möglicherweise langweiligsten Ort Großbritanniens. Und dann begegnen sich diese zwei Welten, und gottseidank lässt Nick Hornby das nicht gutgehen.
 

“Palmen in Castrop-Rauxel” von Dennis Betzholtz/Felix Plötz.
palmen in castrop-rauxelZu den guten Journalisten, die durch die Kündigungswelle bei der WAZ-Mediengruppe (heute Funke) ihre Stelle verloren haben, gehört auch Dennis Betzholtz aus der Dortmunder WR-Redaktion. Er hat daraufhin, parallel zum neuen Job, ein Buchprojekt auf die Beine gestellt und per Crowdfunding finanziert – mehr dazu hier. Der Schreibstil lag mir nur teilweise – ich kann das nicht gut haben, wenn mich ein Sachbuchautor direkt anspricht und mir erklärt, was ich für Schlüsse ziehen soll. Aber für die Porträts und für das Projekt selber – Respekt.
 

“Mir fehlt ein Tag zwischen Sonntag und Montag” von Katrin Bauerfeind.
zwischen sonntag und montagHat eigentlich jeder Journalist so eine Geschichte im Block, anrecherchiert und dann doch nie geschrieben? Meine ist jedenfalls ein Interview mit Katrin Bauerfeind, ca. 2005, als sie noch „Ehrensenf“ in Köln moderiert hat. Im Vergleich zu dieser Einfach-mal-machen-Atmosphäre damals ist dieses Buch manchmal ein bisschen routiniert (ich glaube, jedes einzelne Kapitel hat eine inhaltliche Klammer vom ersten zum letzten Satz, wie beim Spiegel), aber trotzdem schräg und unterhaltsam. In einem Jahr mit sehr viel Wartezeit auf dem Weg von oder zu diversen Flughäfen war das hier ein guter Griff als Reiselektüre.“
 

“Fucking Moscow” von Chris Helmbrecht.
fucking moskauWer diesen Titel mit „Verdammtes Moskau“ übersetzen möchte, liegt leider falsch. Stattdessen vögelt sich hier jemand durchs Hauptstadtleben, halb athlethisch, halb blasiert, gerne auch mal frauenfeindlich und rundum mit der Erotik einer Runde Zirkeltraining.
 

“Mr Penumbra’s 24-Hour Bookstore” von Robin Sloan.
„Ein Gesicht wie ein Fehler 404“ ist nur eines von vielen sprachlichen Bildern, die das Buch bei mir hinterlassen hat. Mehr dazu hier.
 

“Das eingeschossige Amerika” von Ilja Ilf/Jewgeni Petrow.
das eingeschossige amerikaDas wahrscheinlich berühmteste Autorenduo der Sowjetunion bestand aus den Satirikrn Ilja Ilf und Jewgeni Petrow. In den Dreißigerjahren sind sie zusammen durch die USA gereist, chauffiert in (natürlich) einem Ford, und haben für ihre Leser zuhause alles aufgeschrieben: was ein drugstore ist und was „downtown“, wie allgegenwärtig die Werbung für Coca-Cola und wie es ist, Henry Ford zu einer Audienz treffen zu dürfen. Und ja, das ist ein kapitalismuskritischer, sowjetisch geprägter Blick aufs Land, aber vor allem ein neugieriger mit viel Interesse am Alltag und einem Blick für Details. Die 2011er Ausgabe ist schon wieder vergriffen, aber es gibt sie bei Amazon für den Kindle.
 

“The Ode Less Travelled” von Stephen Fry.
ode less travelledEines der Bücher, an denen ich 2014 den meisten Spaß hatte. Im Urlaub auf der Wiese, im Regionalexpress in NRW, in Moskau am Schreibtisch. Mehr dazu hier (zuerst lesen) und hier (danach).
 

“Internet-Meme” von erlehmann/plomlompom.
internet-memeNützlich, anschaulich, sprachlich manchmal recht drüsch – aber dafür reißt das bunte Thema es immer wieder raus: Wer sich für die Geschichte der Meme interessiert oder dafür, unter welchen Bedingungen sie gedeihen, ist nach diesem Buch auf Stand und hat (Kopierpaste! Snowclones!) auch gleich noch ein paar neue Vokabeln gelernt.
 

“Christopher and His Kind” von Christopher Isherwood.
christopher and his kindNochmal Christopher Isherwood (für 2015 liegt noch mehr auf dem Lesestapel), diesmal über seine Zeit in Berlin, das schwule Nachtleben, den Aufstieg der Nazis und Isherwoods Versuch, seinen deutschen Partner Heinz außer Landes in Sicherheit zu bringen. Viele Versuche, auf halblegalen Wegen an ein Visum für ihn zu kommen, scheitern; die beiden hangeln sich von Land zu Land, bis die Gestapo Heinz fasst.
 

“The Rosie Project” von Graeme Simison.
rosie projectDon ist 39, Wissenschaftler mit ausgeprägten autistischen Zügen und auf der Suche nach einer Frau im Sinne von Ehefrau – per Liste mit strengen Kriterien. Als Folge eines verunglückten Dates sortiert Don zum Beispiel alle Frauen aus, die glauben, es mache einen Unterschied, ob man zum Nachtisch Pfirsich- oder Aprikoseneis isst. Und ja, das ist sehr lustig, aber nicht auf Dons Kosten, sondern dadurch, dass unterschiedliche Vorstellungen davon, was „normal“ oder „richtig“ ist, miteinander kollidieren. Sony will es verfilmen, das macht mir ein bisschen Angst, aber gut. Mal abwarten.
 

“Great Britain's Great War” von Jeremy Paxman.
great warIn einem Jahr, wo die Tische in den Buchläden voll liegen mit Literatur zum Ersten Weltkrieg, war das hier das eine, an das ich mich gewagt habe – wegen des Autors. Interessant war vor allem seine Einschätzung, wie der Krieg die britische Gesellschaft verändert hat.
 

“Making History” von Stephen Fry.
making history„Schockierend geschmacklos“ fand die New York Times (bzw. ihre Autorin Michiko Kakutani) dieses Buch, in dem zwei Männer mit sowas ähnlichem wie Zeitreise-Technologie zu verhindern versuchen, dass Hitler geboren wird. Ich bin immer noch baff, wie sie zu dem Verriss kommt, denn abgesehen vom britischen Humor schneidet dieses Buch Fragen an, über die man gut und lange diskutieren kann: Wie entscheidend war Hitler als Person? War er der eine Mensch, der ein Volk verführen konnte, oder war die Stimmung in der deutschen Bevölkerung so, dass das auch anderen gelungen wäre? Welche Mittel sind gerechtfertigt im Kampf gegen das Böse? Und wenn sich das Böse in einem Menschen manifestiert, wird ohne ihn dann alles gut oder ist das, möglicherweise, ein Kinderglaube? Der Moment, in dem es Hitler nie gegeben hat, ist darum hier im Buch auch nicht der Schluss.
 

“Diaries 1969 - 1979” von Michael Palin.
michael palin diaries600 Seiten, ein Brocken von einem Buch, und trotzdem durfte es mit ins Flugreisegepäck, weil Michael Palin einfach so unterhaltsam schreibt. Weil es faszinierend ist, wie Kreativität bei Monty Python funktioniert, auch wenn sich immer mal wieder lästige Orga-Aufgaben und Promotermine dazwischendrängen (und im Zweifel immer an Palin hängenbleiben und nie an John Cleese). Und auch, weil das ganze Umfeld einem erst recht klar macht, wie revolutionär dieser Humor zu seiner Zeit war, und wie viele Instanzen, von Fernsehsendern bis zu Filmverleihern, versucht haben, ihn einzudampfen, damit er doch bitte gefälliger und weniger provokant wird.
 

“Stuff White People Like” von Christian Lander.
Ein Buch gewordenes Blog, ursprünglich erkennbar ausgerichtet auf amerikanische Leser. Aber ja, auch als Europäerin hab ich mich oft erwischt gefühlt.
 

“Alltag in Moskau” von Lois Fisher-Ruge.
alltag in moskauIst wahrscheinlich für niemanden sonst heute noch interessant, aber der Vergleich zwischen Journalistenalltag in Moskau damals und heute kann schon helfen, sich 2014 an manchem weniger festzubeißen. Die durften damals noch nicht mal eine Kanu-Tour machen, ohne ihre Route vorher zur Genehmigung einzureichen, und Klopapier haben sie sicherheitshalber beim Umzug direkt mitgebracht. Dagegen sind der heutige Formularwahn und das Importverbot für genießbaren Käse dann doch kleinere Baustellen.
 

“More Fool Me” von Stephen Fry.
more fool meNicht so gut wie „Moab Is My Washpot“ und „The Fry Chronicles“, und ich glaube, es liegt daran, dass es weniger um Stephen Frys Innenleben und seine Suche danach geht, wo in der Welt er so hingehört. Auch „More Fool Me“ ist immer noch unterhaltsam, aber jetzt eher eine Sammlung von Döneken rund um britische Promis. „Wie ich mal bei einem sympathischen Fremden befürwortet habe, dass er Mitglied in meinem Club werden darf, und dann war das doch der soundso aus der Band soundso und ich kannte den gar nicht.“ Hm.
 

“The Peculiar Life of a Lonely Postman” von Denis Thériault.
the peculiar lifeJa, okay, ich hab das wegen des Covers gekauft. Was kein Fehler war, die kleine Geschichte über Liebe, Dichtung und Identität liest sich schnell mal so weg – und hat bei allem Flausch am Schluss dann sogar noch einen klugen Dreh, sowas mag ich ja gern.
 

“The Assassination of Margaret Thatcher” von Hilary Mantel.
mantel thatcherIm September hat der Guardian die Titelgeschichte der Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht, und ja, am Ende ist Thatcher tot, aber darum geht es nur bedingt. Die ersten paar Geschichten sind alle auf ihre Art düster, da bleibt vor allem die Stimmung als Eindruck. Und dann „Harley Street“, deren Schlusspointe ich sowas von gar nicht habe kommen sehen, dass ich sie direkt noch mal lesen musste und gar nicht fassen konnte, was mir alles durchgegangen war. Aber auf sowas war ich nach dem ganzen Bedrückenden einfach nicht gefasst. Ein klasse Buch jedenfalls, und überhaupt: Kurzgeschichten werden 2015 mehr gelesen!
 

“Moranthology” von Caitlin Moran.
moranthologyGesammelte Kolumnen von Caitlin Moran, viele gut, manche ausgezeichnet. Schon allein für den Text darüber, was für sie als Außenseitermädchen aus der wahrscheinlich ärmsten und sicher unkonventionellsten Familie im Ort die Stadtbücherei bedeutet hat, ist eine Hymne aufs Lesen, die das ganze Buch lohnt.
 

“The Elegance of the Hedgehog” von Muriel Barbery.
elegance hedgehogWochen später, und ich weiß immer noch nicht, ob das nun ein intelligentes, philosophisch angehauchtes Buch ist oder doch ziemlich exakt kalkulierter Edelkitsch. Besonders hängengeblieben: das oberflächliche Oberschichts-Paar, dass seine Töchter „Colombe“ und „Paloma“ nennt (zwei Täubchen), die Katzen aber „Constitution“ und „Parliament“. Nach diesem hier und dem einsamen Postmann weiter oben muss ich jedenfalls so schnell kein drittes Buch mehr lesen, in dem westliche Seelen durch Begegnung mit japanischer Kultur Erlösung finden.
 

“Saints of the Shadow Bible” von Ian Rankin.
saints of the shadow bibleBei John Rebus geht es ja gerne mal um die großen moralischen Fragen. Diesmal auch, und der Ton ist für seine Verhältnisse manchmal regelrecht heiter. Er hat mehr als sonst die Zügel in der Hand, und man gönnt ihm das so, dem ollen, abgeklärten Sack.
 

“Russki Extrem” von Boris Reitschuster.
russki extremSchon ein paar Jahre alt, taugt aber immer noch als kleines Russland-Einsteigerbuch. Der Stil ist mir manchmal ein bisschen zu betulich (hab mich gefragt, ob das mal Kolumnen waren, und ob da ein Redakteur den berüchtigten Satz gesagt hat, man solle beim Leser nicht so viel voraussetzen), aber ja, kann man gut mal lesen.
 

“Comfort and Joy” von India Knight.
comfort and joyGekauft bei Oxfam in London – das Buch konnte ja nur gewinnen. India Knight kannte ich bisher nur von Twitter, hier schreibt sie über eine Weihnachts-Perfektionistin, und nein, das ist nicht so klischeeig, wie es gerade klingt. Aber nachdem jahrelang die englische Tradition gewahrt werden muss, ist das schönste Fest im Buch dann das im sonnigen Ausland. Vermutlich hat die Geschichte eine Moral, das stört aber nicht weiter.
 

“How To Be A Woman” von Caitlin Moran.
how to be a womanWer sich noch mal vergewissern möchte, wie das alles war mit dem Feminismus, warum das Thema weiter wichtig ist und man keine anstrengende Spaßbremse ist, wenn man es wichtig nimmt: Das hier ist euer Buch. Es ist das wahrscheinlich bestgelaunte Buch über Sexismus und was man dagegen tun kann, es hat eine Haltung und einen unverwechselbaren Ton.
 

“Das goldene Kalb oder die Jagd nach der Million” von Ilja Ilf/Jewgeni Petrow.
Noch mal Ilf und Petrow, diesmal Roman statt Reisereportage, und ich hab mich ein bisschen schwer damit getan. Einerseits ist die Sprache ungewohnt, fantasievoll, anschaulich und viele Formulierungen so, dass man sie dringend laut vorlesen muss. Andererseits ist diese Episodenform mit immer neuen Protagonisten, immer neuen Situationen, auf Dauer doch ein bisschen „Harald und Eddi“.
 

“An Armenian Sketchbook” von Vasili Grossman.
armenian sketchbookNachdem der KGB das Manuskript für seinen jüngsten Roman beschlagnahmt hatte, reiste Vasili Grossman Anfang der Sechziger nah Armenien, um dort einen Roman zu übersetzen. Nebenher entstand dabei dieses Buch, eine Mischung aus Reisebericht und lautem Nachdenken über Stalins Politik, über Nationalismus und Propaganda, über innere Emigration und Selbstmord. Ohne große Struktur – Grossman schreibt sich alles von der Seele – aber in klarer Sprache und bei allem Ernsten auch mit viel Humor, Wärme und Selbstironie. (Im Anhang gibt es ein kleines Glossar, was bei den vielen literarischen und historischen Anspielungen auch wirklich hilfreich ist.)
 

Danke an alle Buch-Empfehler, an meine Book-Club-Mädels, die netten Leute vom Moscow Book Swap und an alle, die direkt oder über Umwege Bücherbote gespielt haben, damit alles gut in Moskau ankommt. Ihr habt einen gut!

Keine Russland-Witze mehr bei der BBC

Am 22. Juni 1941 beginnt „Unternehmen Barbarossa“, der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion.

Einen Tag später schreibt John Watt, Leiter des Bereichs Unterhaltung bei der BBC, an seinen Vorgesetzten. „Kann ich eine Richtlinie haben zu Russland?“, fragt er. „Nicht politisch, aber ob wir ganz allgemein noch Anspielungen auf Genossen und Witze übers aktuelle Geschehen in Russland machen dürfen?“

Auftauchen würden diese Witze bereits, so Watt, darum brauche er eine Rückmeldung – lieber jetzt als gleich.

BBC – Archive – WWII: The Soviet Union Joins the Allies – Memos Regarding Jokes about Russia

Es dauert einen Tag, bis die Antwort kommt – ein Vermerk in Großbuchstaben, unmissverständlich: ALLE WITZE ÜBER RUSSLAND BIS AUF WEITERES BITTE EINSTELLEN.

BBC – Archive – WWII: The Soviet Union Joins the Allies – Memos Regarding Jokes about Russia

(Gefunden im Archiv der BBC)

Wie David Sedaris einmal fragte, ob ich mich ausziehen würde

Auf der Liste der Dinge, die ich nicht verstehe, ist eine nicht ausverkaufte Lesung von David Sedaris ziemlich weit oben. „Me Talk Pretty One Day“ war das erste Buch, das ich von ihm gelesen habe. Seitdem dann so gut wie jedes, fast alle mit Hingabe, weil: so klug, so lustig, so lakonisch. Als er letzten Herbst zu einer Lesung nach Köln kam, war das also ein Pflichttermin.

Vor der Lesung hat er schon mal alles an Büchern wegsigniert, was ihm so unterkam. Neben der Schlange stand dabei – vier, fünf Wartende von Sedaris entfernt – eine Frau vom Verlag, fragte die Leute nach ihren Vornamen und schrieb die dann auf ein Post-It. Ergebnis: kein „Neinnein, Reiner mit E!“, keine Extrawartezeit für die dahinter. Clever.

Aus dem Signieren ist auch der Titel von Sedaris‘ aktuellem Buch entstanden. Bei „Fresh Air“ auf NPR hat er erzählt, wie unangenehm es ihm wäre, irgendwelchen Nullachtfünfzehnkram in ein Buch zu schreiben.

Als also nach einer Lesung in den USA eine Frau vor ihm stand und partout für ihre Tochter ein total motivierendes „Explore your possibilities!“ als Widmung wollte, hat Sedaris sich gedrückt, aber höflich das „explore“ behalten und weitergedreht: „Lets explore diabetes with owls“ steht nun in dem Mutter-Tochter-Buch. Und auf dem Cover seiner aktuellen Sammlung an Essays.

Der Mensch vor mir in der Kölner Schlange hatte auch einen Sonderwunsch. Und zwei Post-Its.

„Could you sign these two, please? One is for my friend, Anna.“
„Is she your friend or your girlfriend?“
„Oh no, she’s, uhm, she’s just a friend!“
„Have you seen her naked?“
„No!“
„Well, if you gave her, say, twenty euros, and said ‚Can I please see you naked‘ – do you think she’d do it?“

Gedruckse, Filzstiftgeräusch, nächster bitte.

„Ah, how about you?“
„Huh?“
„If I gave you twenty euros, could I see you naked?“
„Uhm – I think I’d wait for a better offer.“
„That’s probably a good idea.“

Ins Buch hat er mir dann ein eher lahmes „To Katrin, with friendly friendship“ reingeschrieben. Dafür kann ich mit der hypothetischen Frage eines schwulen Humoristen – die ich natürlich als ernstgemeintes Angebot deute – seitdem angeben. Danke dafür.

Bloggen ist schön, macht aber viel Arbeit. Unter dem Motto „Schönes bleibt“ nutze ich deshalb den Moskauer Sommer, um ein paar Dinge aufzuschreiben, für die sonst immer die Zeit fehlte. Danke an Monika für das Foto!