Film-Fundstücke aus dem Pathé-Archiv: Dortmund

Von dem großartigen Fundus an historischen Filmen, der seit knapp vier Wochen bei Youtube steht, war hier ja schon mal die Rede. Und klar: Dass sich zu einer Millionenstadt wie Moskau reichlich Material in den Pathé-Archiven findet, ist keine Überraschung.

Überraschend war dagegen, was es an sehenswerten Clips auch aus Dortmund gibt und wie weit sie zurückreichen. Zu den frühesten musste ich mir den genauen Hintergrund erst mal anlesen (gute Zusammenfassungen hier und hier). Kurzfassung: Weil Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg mit den Reparationszahlungen in Verzug geriet, besetzten französische Truppen erst Düsseldorf und Duisburg, später dann das ganze Ruhrgebiet.

Ganz leicht ist es nicht, diese Filme zu verstehen, zumal ohne Ton. Uniformierte führen andere Uniformierte ab – am ehesten lassen sich Deutsche und Franzosen noch an den verschiedenen Kopfbedeckungen unterscheiden. Sich an Gebäuden zu orientieren, ist dagegen schwierig. Der erste Reflex: Ach guck, das Klinikviertel! Dann die Erkenntnis: Das kann überall sein – vor den Bomben des Zweiten Weltkriegs sahen viele Ecken in Dortmund so aus.

Die Auswirkungen der Besatzung beschreibt die Stadt Dortmund heute so: „Als die Franzosen am 22. Oktober 1924 die Stadt Dortmund schließlich räumten, waren fast 90 Prozent aller Erwerbstätigen arbeitslos und 78 Zechen im Oberbergamtsbezirk Dortmund stillgelegt.“

1947 geht es um den Wohnungsmangel im Ruhrgebiet – und damit vor allem um Bergleute. In Dortmund entsteht gerade eine neue Bergmannssiedlung, im Krieg beschädigte Bergmannshäuser werden gleichzeitig repariert:

SPD und Dortmund – es gab eine Zeit, da waren das fast Synonyme. Was die Massen an Menschen erklärt, die hier 1952 dem neuen Parteichef (und gebürtigen Bochumer) Erich Ollenhauer zuhören:

Wenn Pathé die Filme für britische Kino-Wochenschauen gedreht hat, wird natürlich die britische Beteiligung hervorgehoben – so wie hier beim Bericht über eine schwere Explosion in einem Wohnhaus:

Und zum Schluss, als bunter Rausschmeißer, die Erkenntnis: Es gab offenbar eine Zeit, da war „Holiday on Ice“ ein ganz großes Ding. Und Dortmund hatte Europas größte Eislaufhalle.

Mehr Dortmund-Filme aus dem Pathé-Archiv gibt es hier.

Film-Fundstücke aus dem Pathé-Archiv: Moskau

Mitte April hat British Pathé sein komplettes Archiv bei Youtube veröffentlicht – 85.000 Filme, der älteste aus dem Jahr 1896. Wochenschauen aus dem Kino, ruckeliges Rohmaterial, viel Schwarzweißes und ein bisschen Farbe.

Keine drei Wochen ist das her, was erklärt, warum viele faszinierende Clips erst ein paar Dutzend Mal gesehen wurden. Das dauert halt, das alles zu durchstöbern.

Die schiere Masse hat auch die Idee zunichte gemacht, darüber einen Blogpost zu schreiben. Einer reicht einfach nicht, um so in den Filmen zu schwelgen, wie sie es verdient haben. Es wird also wohl eine kleine Serie werden – zum Start hier meine historischen Lieblingsvideos aus Moskau.

1. Ohne Ton, aber mit reichlich Schnee entstanden 1924 diese Bilder von Lenins Beerdigung. 35 Grad unter null waren es an diesem Tag, trotzem lief ein langer Trauerzug an der Basilius-Kathedrale vorbei zum Kreml.

2. Kein Video aus Moskau, aber mit Moskauer Bezug: Zwei Jahre vor seiner ermordung wendet sich Leo Trotzki im mexikanischen Exil an die Öffentlichkeit. Er rechnet mit Stalin ab und verurteilt die Schauprozesse in seiner früheren Heimat.

3. Nicht alles im Pathé-Archiv ist große Geschichte, aber auch die Filme aus dem Alltag in Moskau erzählen Geschichten. Wie bei diesem Staffelrennen: Kein Zehnkampf, kein Fünfkampf, kein Triathlon – die Disziplinen sind Laufen, Radfahren, Rudern und Motorradfahren.

4. Konrad Adenauer 1955 zu Besuch in Moskau – „der wichtigste Staatsbesuch seit dem Krieg.“ Eine halbe Minute, nicht mehr, und am Schluss der Hinweis, dass es auch um die BRD und die DDR gehen soll. Schließlich, so der Sprecher, sei beiden Seiten klar, dass die Wiedervereinigung für den Frieden in Europa nötig sei.

5. Gott, ist das hölzern, was diese Kinder auswendig lernen mussten und nun hier aufsagen. Trotzdem eine große Überraschung, dass es 1960 hier schon eine Schule gab, in der nur Englisch gesprochen wurde. Heute sind internationale Schulen in Moskau normal, damals war es einen eigenen Bericht wert.

6. Trockenhauben und Toupierkämme – ein Blick auf das Schönheitsideal im Moskau der frühen Sechzigerjahre.

7. Schauspieler des National Theatre reisen nach Moskau, um dort „Othello“ aufzuführen und zwischendurch als Protagonisten für diesen Film über das Russland der Sechziger aufzutreten. Schwer zu sagen, was interessanter ist – die Bilder aus der Hauptstadt oder der Sprecher-Kommentar: „Unsere Schauspieler wollen hier auch russische Leute treffen“, sagt er in perfekter received pronunciation. „Wie leben diese geheimnisvollen Menschen, die einst im Krieg unsere Verbündeten waren, aber für uns stets eine unbekannte Größe sind?“

Fundstück bei 5’15“: eine Kamerafahrt bei uns am Haus vorbei – leider mit Blick in die andere Richtung. Dafür gibt es zum Schluss dann noch Sir Laurence Olivier als Othello.

Janukowytsch ist nicht Coriolanus

Coriolanus hat noch keinen Satz gesagt, da weht eine ukrainische Flagge. Das National Theatre in London, das seit einigen Jahren seine Produktionen aufzeichnet und dann weltweit im Kino zeigt, schickt einen kleinen Film vorneweg.

Regisseurin Josie Rourke und ihre Schauspieler reden darin über Rom, als es noch kein Machtzentrum war, über Patrizier und Plebejer, darüber, wie Meinungsverschiedenheiten ausgefochten werden. Ein paar Sekunden lang sehen die Zuschauer im Moskauer Dokumentarfilmzentrum also Prügeleien in Parlamenten rund um die Welt, unter anderem in Kiew.

Und nein, eh es hier jemand einfach möchte, Wiktor Fedorowytsch Janukowytsch ist nicht Caius Marcius Coriolanus. So weit kommt’s noch. Aber einen Tag nach dem Sturz und Fluchtversuch des ukrainischen Präsidenten, nachdem sich Eltern mit ihren Kindern wieder auf den Maidan trauen und Julia Timoschenko frei ist, wäre es schon seltsam, bei diesem Stück nicht an die Ukraine zu denken.

Schließlich geht es in „Coriolanus“ um Macht (okay, wann nicht), genau genommen darum, wie sie sich legitimiert. Wie muss ein Herrscher sein, was muss er können? Welche Rechte hat das Volk? Darf jemand herrschen, wenn er das Volk – abseits der eigenen Klasse – verachtet? Darf das Volk reagieren, indem es ihn in Schande wegjagt? Wenn die einen böse sind, sind die anderen dann gut? Wer ist sichtbar, und wer manipuliert im Hintergrund?

Ein heftiger Abend, mit viel Blut und wenig Bühnenbild, mit großen Namen auf kleinem Raum. Bei Tom Hiddleston war ich froh, dass er mir vorher nur vage ein Begriff war – da konnte seine Schauspielerei überzeugen und nicht die Tatsache, dass MTV ihn für den sexiest man (alive? in the world? ever and no kidding? irgendsowas) hält. Andererseits: Mark Gatiss kannte ich (Sherlock geguckt, seine „Lucifer Box„-Trilogie gelesen) und das hat auch nicht weiter gestört. Und so, wie „Macbeth“ öde wäre ohne Lady Macbeth, lebt dieses Stück von Coriolanus‘ Mutter (Deborah Findlay). Alle liefern sie heftigstes Drama und feine Details, stürzen gemeinsam vom einen Ausnahmezustand in den nächsten, ohne dass es sich abnutzt.

Was bleibt? Die Erkenntnis, dass Theater im Kino funktioniert (bei so Sachen wie „Metropolitan Opera im Kino“ bin ich immer noch skeptisch). Dass die Sache mit der Katharsis tatsächlich stimmt. Und dass es im Shakespeare-Jahr eine gute Idee wäre, mal nachzusehen, welche anderen Shakespeare-Stücke wohl auch noch ungelesen darauf warten, entdeckt zu werden.