Russball, Folge 55: Russland hört gar nicht mehr auf zu feiern

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Nein, wir werden hier jetzt nicht mehr über Deutschland-Südkorea reden. Zu lange her, eh nicht zu ändern, anderswo schon verbloggt. Außerdem ist Schwelgen sowieso schöner als Frust Schieben, also reden wir noch mal über das, was Russland da geschafft hat: Erst den Einzug ins Viertelfinale gegen Spanien, dann ziemlich ausdauerndes Gefeier, nicht nur in Moskau.

Ein bisschen hab ich mich da auch treiben lassen, durch die Straßen rund ums GUM, dann auf den Roten Platz, weiter Richtung Manegenplatz. Ja, es gab einen Autokorso, auch wenn der stellenweise mehr stand, als dass er fuhr – Abendverkehr in Moskau, man kennt das. Und auch das macht Spaß: Nach dem Spiel in den Bus steigen, und der Fahrer beschließt, dass er jetzt auch einen auf Autokorso macht. (Besonders gefreut hat mich ein Hinweis via Twitter, dass selbst das Kartenlesegerät lächelt – das war mir beim Filmen nicht aufgefallen.)

Vielleicht am schönsten hat diesen Abend nach dem Spiel Andrew Roth vom Guardian zusammengefasst:

Cars honked their horns and passengers stuck their heads through windows and sunroofs shouting “Ros-Si-Ya!” Police officers looked on what must have been traffic violations with an air of indifference. Nobody was going to be fined, not for the noise, the errant driving or the copious amounts of public drinking that continued late into Monday morning.

It was wild stuff, the kind of night that ends with you rolling on the grass by the Karl Marx statue, clutching a bottle of champagne and somehow entangled inside of your own Russian tricolor flag.

Actually that was just at 9pm.

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⚽ Lustig auch, wie viele Menschen nicht damit gerechnet hatten, dass Russland jemals so weit kommen könnte – und deshalb munter Karten fürs Ballett gekauft hatten. Im Marinskij-Theater in St. Petersburg zum Beispiel erfuhren die Zuschauer in der Pause einer Aufführung von Dornröschen, dass Russland Spanien geschlagen hatte. Ergebnis: Standing Ovations, später zum Schlussapplaus kam dann der Dirigent mit Russlandfähnchen auf die Bühne.

Auch im Bolschoi, dem Moskauer Gegenstück zum Marinskij, fanden sich einige Zuschauer plötzlich in der Zwickmühle: Wie bleib ich auf dem Stand in Sachen Fußball, während ich hier in diesem Ballett-Palast sitze?

Auch die Ballerinas hinter den Kulissen mussten einen Weg finden, das Spiel zumindest zwischen ihren Auftritten zu verfolgen. Eine von ihnen hat das bei Instagram dokumentiert:

bolschoi⚽  Wir müssen noch mal über Datenschutz reden. Nein, diesmal geht es nicht darum, was man alles an persönlichen Infos für eine Fan-ID preisgeben muss oder welche Daten möglicher Hooligans die deutschen Behörden wohl an die russischen weitergegeben haben. Diesmal geht es um Überwachung und um das Fan-Fest hier in Moskau. Da ist am Tag des Spiels zwischen Spanien und Russland ein Mann festgenommen worden, nach dem wegen Diebstahls gefahndet wurde. Eine der Kameras hatte erkannt, dass da ein Fußballfan unterwegs war, der zu einem Bild in der Datenbank passte.

Interessant ist, was man aus der offiziellen Stellungnahme zur Verhaftung des Mannes noch so über die Gesichtserkennung in Moskau erfährt. Demnach werden das Fan-Fest und das Luschniki-Stadion von zusammen 282 Kameras überwacht. Sie sind verbunden mit einer Datenbank, die Bilder von 50.000 Menschen enthält, darunter auch Aufnahmen von 2000 Ausländern.

⚽  Das hier ist kurz, schön beobachtet und erhellend noch dazu: Zwölf Fragen zum Leben in Russland von einer, die hier lebt. Zwölf Antworten von einem, der hierher stammt: „Versteh einer die Russen“ wirft einen Blick auf das WM-Gastgeberland abseits von Stadien und Fan-Jubel.

⚽ Dass zur WM hier besonders darauf geachtet wird, Touristen in der Moskauer Innenstadt nicht mit allzu sichtbarer Armut die Laune zu verderben, darum ging es hier ja schon mal öfter. Die Moscow Times hat dazu eine eindringliche Geschichte zu erzählen: Am Platz mit den drei Bahnhöfen steht normalerweise ein Zelt, in dem Menschen, die Hilfe brauchen, eine warme Mahlzeit und ärztliche Versorgung bekommen. Allerdings: Wer als WM-Tourist z.B. zu einem Spiel in Nischni-Nowgorod will, der steigt an einem dieser drei Bahnhöfe in seinen Zug.

Damit also die Fußballfans nicht dem Anblick von Obdachlosen und Armen ausgesetzt sind, wurde der Hilfsorganisation, die das Zelt betreibt, ein Umzug verordnet. An den Stadtrand, unsichtbar für WM-Gäste, und für viele Bedürftige schwer zu erreichen. Das ist mehr als nur unbequem: Für Menschen, die auf medizinische Hilfe angewiesen sind und diese bisher am Platz mit den drei Bahnhöfen bekamen, kann es lebensbedrohlich sein.⚽ Unterdessen in Kasan: ein Fußballspiel der Bräute, oder zumindest ein Spiel von Frauen, die Brautkleider anhaben. „Kasan“ ist nicht nur der Name der Stadt, sondern auch für einen großen Topf, unter dem man Feuer macht, um darin etwas zu kochen. Auf dem zweiten Bild sieht man im Hintergrund das Gebäude in Kasan, das an dieses Konstrukt erinnern soll.

⚽  Was tun, wenn man sich mit jemandem unterhält, der diesen Sommer nach Russland kommt und sowas sagt wie: „Aber es ist doch alles so schön hier, die Leute sind zufrieden und freundlich – da zeichnen die Medien aber echt ein ganz falsches Bild“? Bisher habe ich auf einen Thread von Shaun Walker hingewiesen, der darauf hinweist, dass die Dinge eventuell ein bisschen komplexer sind, und dass auch in einem autoritär regierten Land, dessen Bürger nicht viele Freiheiten haben und, wenn sie aufmucken, Probleme kriegen, trotzdem Lebensfreude, Fußballbegeisterung und Gastfreundschaft herrschen können.

Nun hat Marc Bennetts einen Kommentar geschrieben, der vor allem diesen Vorwurf, das mediale Bild Russlands sei zu negativ, aufgreift. Er beginnt mit einer kleinen Erklärung, was die Aufgabe von Jouralismus ist (und was für Infos man eher aus einem Reiseführer erwarten sollte) und spielt dann sehr schön durch, wie es aussähe, wenn man diese Forderung, doch bitte mehr aufs Positive zu blicken, z.B. bei der USA-Berichterstattung einforderte: Wieder ein Amoklauf an einer Schule, aber hey, der Central Park ist echt schön. Oder, anders formuliert: „What is it to be — articles on the reported mass torture of gay men by Chechen security forces, or a detailed examination of the quality of the mozzarella on pizza toppings?“ Bilanz: „Don’t Blame Journalists for Bad News About Russia“.„It’s a lot nicer than I thought it would be“ is the official unofficial slogan of Russia 2018

⚽ Es gibt Gastgeberstädte, für die ist die WM schon vorbei. Saransk zum Beispiel: In der kleinen Stadt können sie die Bürgersteige jetzt wieder hochklappen, der Trubel ist vorbei, die Fans wieder abgereist. Was bleibt: Die Erinnerung an Frauen aus dem Iran, an Jubel im Stadion. Und ein Gouverneur, der poetische Dinge wie dies hier sagt: „Eine große Traurigkeit wird sich über uns legen, aber wir müssen uns wieder an die Arbeit machen, denn uns steht unsere eigene Weltmeisterschaft ins Haus, und das ist die Ernte. Die ist sehr wichtig für uns.“

⚽ Erik Stoffelshaus war früher bei Schalke, ist inzwischen bei Lokomotive Moskau und hat insofern einen guten Blick darauf, wie sich die Fankultur im deutschen und im russischen Fußball unterscheidet.

In einem ZEIT-Interview bringt er das so auf den Punkt: „In Deutschland ist es so: Wenn man einen Fußballverein unterstützt, dann mit Leib und Seele. Wenn der absteigt, dann steigt man mit ab. Wenn der die Meisterschaft gewinnt, dann feiert man mit. Hier kommt mir alles ein wenig distanzierter vor. Man wartet lieber ab, wie das Spiel ausgeht, was es zu sehen gibt, bevor man sich entscheidet, einen Club zu unterstützen.“ Auch was Russland tun muss, damit die WM dem heimischen Fußball einen Schub gibt und nicht einfach verpufft, erklärt er in dem Gespräch, das man hier nachlesen kann.⚽ Was muss man tun, damit die während der WM betont nachsichtige Polizei dann doch aggressiv wird und auf einen einprügelt? Aufs Dach eines Polizeiautos klettern und dort wippend feiern, dass Russland im Viertelfinale ist. Das soll jedenfalls der Hintergrund dieser Szene hier aus Woronesch sein:

⚽  Neulich habe ich eine Stunde lang mit Lars geskyped, er hat geredet und geredet und geredet, und ich hab gedacht: Was für eine Geschichte! Und wie wirst du der jetzt gerecht? Das Ergebnis hat nur am Rande mit Fußball zu tun, dafür aber damit, wie Lars in Russland aufwuchs, warum er das Land verließ und was das alles mit seiner Identität als Transmann zu tun hat: Found in Translation.

⚽ Von Lars‘ Kindheits-Gekicke auf dem Asphalt in einem russischen Innenhof zum Thema russischer Fußball-Nachwuchs im Allgemeinen. Wie teuer es ist, sein Kind auf eine der Fußballschulen im Land zu schicken, davon war ja letzte Woche hier schon mal die Rede. Nun hat Spon ein Interview mit dem russischen Fußball-Kommentator Sergej Krivokharchenko, nach seiner Einschätzung liegt das Problem noch ein ganzes Stück tiefer: Viele Talente werden nicht einmal entdeckt, „die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß, dass der russische Messi irgendwo in Sibirien als Wachmann arbeitet oder an einer Tankstelle.“

⚽ Dieses Spiel zwischen Japan und Polen, wie war das noch mal? Der Fernsehsender Match TV schaltet zu seinem Mann vor Ort, und dann geht irgendwas schief. Denn der glaubt, er sei nicht live, sondern zeichne auf, gönnt sich erst einen Patzer und dann einen Fluch. Das beste an dem Clip ist der kontrolliert stoische Gesichtsausdruck des Studiomoderators im Anschluss.

⚽ Was passiert, wenn man versucht, mit der Fan-ID von jemand anderem ins Stadion zu kommen? Molly Zuckerman aus St. Petersburg hat es ausprobiert, offenbar nicht als journalistischen Selbstversuch, sondern tatsächlich aus eigener Doofheit. Die wenig überraschende Antwort heißt: Man wird erwischt, festgenommen und muss mit auf die Polizeiwache. So weit, so unspektakulär. Sie hat eine unterhaltsame Reportage darüber geschrieben, auch wenn manchmal wohl die Pointe wichtiger war als die Recherche – wie bei dem Typen, der angeblich nur deshalb festgehalten wird, weil er kein Russisch kann.

Richtig nervig finde ich aber eine Stelle: In den USA, schreibt Zuckerman, habe man sie einfach weggeschickt, wenn sie versucht habe, mit falschem Ausweis in einen Club zu kommen, „but this is Russia“, also habe man sie festgenommen. Ja, klar. Oder vielleicht ist der Unterschied doch eher, dass keiner im Club Schaden nimmt, wenn eine Minderjährige um ihn rumtanzt, dass es bei großen Turnieren aber meist einen blühenden Schwarzmarkt gibt, der die Preise so hochtreibt, dass sie – gerade für Fans mit Normalgehalt – unbezahlbar sind. Oder dass hinter einem Club kein Riesenunternehmen wie die FIFA steht und die Regeln diktiert. Aber das ist natürlich nicht halb so sexy wie „Ich wurde verhaftet, und Russland ist schuld.“

⚽  Schweiz gegen Costa Rica, klar, das kennt man: Das ist eines dieser Spiele, wo die Gefühle hohe Wellen schlagen und sich die Aggression auf den Tribünen Bahn bricht.

⚽ Der Guardian hat in seinen Archiven gegraben und einen Artikel aus dem Juni 1928 online gestellt. Man kann darin lesen, was sich hier seitdem verändert hat („Moscow is still, as it always was, a big village.“) und was nicht („This privilege is shared by those who have enough money to pay bribes. All these things are done openly. There is no concealment about the sums that are paid.“) Fußball kommt in dem Text nicht vor, eigentlich überhaupt kein Sport. Die Jugend, heißt es, spiele lieber Karten.

⚽ Wie das so ist, wenn man mal ein Amt hatte, heute keines mehr hat, aber gerne in den Schlagzeilen bleiben möchte: Gennady Onischtschenko war mal Russlands oberster Hygiene-Wächter (so eine Art Gesundheitsamts-Chef, wenn es ein deutschlandweites Gesundheitsamt gäbe) und war schon damals immer für eine steile These zu haben. Nun hat er wieder eine rausgehauen: Mit jedem Sieg der russischen Nationalmannschaft steigt im Land die Lebenserwartung, so Onischtschenko – die Herleitung hat, vereinfacht gesagt, was mit persönlichem Wohlbefinden und positiver Einstellung zu tun.

Wenn das so ist, möchte man Russland ja den Finaleinzug, ach was: den Weltmeistertitel wünschen, das Land hat es schließlich immer noch bitter nötig. Außerdem hätten dann nach der geplanten Erhöhung des Rentenalters mehr Menschen eine Chance, ihre Pensionierung zu erleben.

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Ein Rausschmeißer noch, der nichts, aber auch gar nichts mit der WM zu tun hat: Wer sich den Twitter-Account „Footballers with animals“ angucken kann, ohne grinsen oder lächeln zu müssen, tut mir leid und ist mir zugleich suspekt. Danke an @Absatzkick für den Tipp! Mehr Russball dann wieder nächsten Mittwoch, das ist dann schon ein Halbfinaltag. Bis dann!