Russball, Folge 69: „Die ertragreichste WM aller Zeiten“

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Seit dem Umzug zurück nach Deutschland habe ich keine Frage so oft beantwortet wie „Und? Vermisst du Moskau“. Ja, sehr – die Freunde, die Wucht und Pracht dieser Stadt, die tägliche Portion Absurdes, die Datscha im Grünen, den Chor. Nein, wirklich nicht – die Luft- und andere Verschmutzung, die permanenten Bauarbeiten, die Uniformierten überall, die Bürokratie, den Auto-Fokus in der Stadtplanung.

Meistens komme ich so fifty-fifty raus mit meiner Antwort, aber jetzt, wo es sommert und schon in Berlin die Nächte kurz und nur blau statt schwarz sind, da kippt es deutlich Richtung Moskau-Sehnsucht.

Auch, wenn man nach ein paar Jahren in der Stadt weiß, dass dieser Moskauer Sommer eine heimtückische Charmeoffensive ist – drei, vier, fünf Monate wirft sich dir die Stadt an den Hals, mit Bootsfahrten auf der Moskwa, Freunden auf dem Balkon, Musik bis in die Nacht und tanzenden Menschen in den Parks. Und dann kommen der Herbst, der olle Straßenüberschwemmer, das halbe Jahr Winter mit dreckigem Schnee und grauem Eis, dann wieder überschwemmte Straßen im Frühling, wegen Tau. Der Moskauer Sommer schleimt sich an einen ran, und zur WM vor einem Jahr hat er das besonders überzeugend getan. Also, genug geschwelgt – ein Foto noch von der Atmosphäre damals, und dann reden wir über allerlei Bilanzen.

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⚽ Die Bilanzen und Bilänzchen zum Jahr 1 nach der Fußball-Weltmeisterschaft sind oft sehr zahlenlastig: So hat die FIFA 2018 mehr als 4,6 Milliarden Dollar eingenommen, nach Steuern und Gedöns blieben gut 1,8 Milliarden Dollar übrig. „Rekordeinnahmen“ und „die ertragreichste WM aller Zeiten“, so steht es im Fifafinanzbericht. TASS weist darauf hin, dass 83 Prozent aller Einnahmen der FIFA zwischen 2015 und 2018 auf die WM zurückgehen. Nicht immer sind die Zahlen so spektakulär: Dem russischen Tourismus hat das Turnier angeblich nicht mal ein Prozent mehr ausländische Gäste gebracht als im WM-losen Jahr 2017. Und das, obwohl jeder zehnte WM-Besucher die Möglichkeit nutzte, mit seiner Fan-ID später noch mal einzureisen.

⚽ Weniger zahlenlastig ist der Rückblick, den Russian Football News auf die WM vor einem Jahr wirft. Stattdessen nimmt die Redaktion die einzelnen Gastgeberstädte unter die Lupe: Samara etwa profitiert von der zur WM gebauten neuer Infrastruktur, die aber seit der Abreise der Fans nicht mehr so gut in Schuss gehalten wird. In Rostow haben die Fans jetzt einen längeren Weg ins Stadion als zuvor, in Kasan wollen seit der WM offenbar mehr Menschen Englisch lernen. Ein interessanter Themenschwerpunkt, in dem stets auch Einwohner der jeweiligen Städte zu Wort kommen.

⚽ Dass das Verhältnis zwischen Russland und Georgien von Spannungen geprägt ist, konnte man ja gerade erst wieder in Tiflis beobachten: Nachdem sich ein russischer Duma-Abgeordneter im georgischen Parlament auf den Platz des Parlamentspräsidenten gesetzt und auf Russisch an die Zuhörer gewandt hatte, protestierten wütenden Georgier auf den Straßen der Hauptstadt. Bei Ausschreitungen und dem Polizeieinsatz wurden hunderte Menschen verletzt, die Proteste dauern bis heute an.

Die Wut in der Bevölkerung ging so weit, dass die Spieler dreier georgischer Fußballteams in T-Shirts aufliefen, auf denen Russland vorgeworfen wird, es habe 20 Prozent des georgischen Statsgebiets besetzt. Gemeint sind die georgischen Regionen Abchasien und Südossetien, die sich als unabhängige Staaten betrachten, tatsächlich aber komplett abhängig und kontrolliert von Russland sind. Aus dem russischen Parlament gibt es bereits Forderungen, die FIFA solle die T-Shirt-Aktion verurteilen. Unter den beteiligten Spielern sollen auch zwei Russen sein, die bei georgischen Vereinen unter Vertrag stehen.

⚽ Wer die letzte Russball-Folge gelesen hat, erinnert sich vielleicht: Die Besucherzahlen im russischen Profifußball sind nach der WM gestiegen und haben in der Premjer-Liga mit durchschnittlich 16817 Zuschauern pro Spiel einen neuen Rekordwert erreicht. Mit etwas Verspätung zieht Vedomosti daraus nun die Bilanz, die WM habe Russlands Fußballvereine gelehrt, wie man sich aus eigener Kraft finanziert und nicht mehr so von Sponsoren oder staatlichen Geldgebern abhängig ist. Steile These, die der Artikel nicht so recht belegt, trotzdem stecken ein paar interessante Fakten drin. Zum Beispiel, dass neben großen Namen wie Zenit, Spartak oder Lokomotive auch der FK Orenburg inzwischen einen großen Teil seines Budgets selber verdient – durch Eintrittskarten, Fanartikel, Ablösen.

Absolute Zahlen gibt es keine, bei Orenburg, dem Tabellensiebten der vergangenen Saison, machen diese Einnahmen inzwischen aber mehr als 90 Prozent des Budgets aus. Sieben von 16 Erstligaclubs sind dem Bericht zufolge allerdings auch heute noch weitgehend von zahlungskräftigen Sponsoren abhängig – in Russland oft regionale Regierungen, staatliche oder staatsnahe Unternehmen. Für diese Vereine hat Vedomosti, das ja eine Wirtschaftszeitung ist, nicht viel übrig: „Leibeigenentheater und Sozialprojekte“, mehr seien sie nicht – entweder das Amüsement eines reichen Geldgebers, oder dessen Chance, sich ein bisschen zu engagieren.

⚽ Ach ja, und weil da gerade „sieben von 16 Erstligaclubs“ stand: Das könnten bald schon 18 sein. Die Führung der Premjer-Liga hat eine Arbeitsgruppe gebildet, um Argumente für und gegen eine Vergrößerung zusammenzutragen, als nächstes müsste dann der Verband überzeugt werden. Nach TASS-Informationen haben sich alle Erstligavereine bis auf einen für den Vorschlag ausgesprochen. Besonders anschaulich ist, was Anatoli Mescherjakow, Aufsichtsratsvorsitzender von Lokomotive Moskau, dazu zu sagen hat: Erst mal müsse man (siehe Anschi Machatschkala, dazu gleich mehr) überhaupt ausreichend Vereine finden, die finanziell stabil genug seien für den Erstligabetrieb. „Und dann: Haben wir (genug) Stadien mit 15.000 Sitzen und Spielfeldern, die nicht dazu führen, dass sich die Spieler einen Bänderriss holen?“

⚽ Zwischendurch mal kurz: Der Twitter-Account „Football Manager Hair on Politicians“ ist erst seit Mitte Juni aktiv, hat aber schon ganz gut vorgelegt: Kim Jong-Un mit den Haaren von Jürgen Klopp, Jacob Rees-Mogg mit den Haaren von Rudi Völler. Und dann, rechtzeitig für diese Russball-Folge, das Zückerchen hier:

⚽ Diese Marotte, aus kyrillischen Buchstaben pdeudo-deutsche (oder -englische) Wörter zu basteln, finde ich ja ziemlich anstrengend. Trotz seines schmerzhaften Logos sei an dieser Stelle aber darauf hingewiesen, dass das Reportage-Projekt „Buterbrod und Spiele“ über den WM-Sommer 2018 gerade mit einem Grimme-Online-Award ausgezeichnet worden ist. Gern gelesen: den ausgiebigen Besuch bei Sergej Tschilikow und die kleine Randgeschichte über den Comedy-Youtuber Semjon Slepakow.

⚽ Das Logo von Paris Saint-Germain ist frei von Kyrillisch-Spielereien, obwohl es auf dieser Weltkarte bald ein weiteres Mal auftauchen wird. Sie zeigt, wo der französische Verein bereits überall Ableger seiner Nachwuchs-Akademie hat sprießen lassen, etwa in Montréal, Rio de Janeiro oder Düsseldorf. Ende August eröffnet jetzt auch eine Filiale in Moskau – direkt am Luschniki-Stadion, dem Ort des WM-Finales. Nach der Weltmeisterschaft hat es ja eine ganze Reihe neugegründeter Fußballschulen in Russland gegeben, da will nun auch der Meisterverein aus dem Weltmeisterland mitspielen.

Kinder zwischen 3 und 15 Jahren können ab dem Spätsommer an der Moskauer PSG-Akademie lernen. Trainiert wird zwei- bis viermal pro Woche, sechs reguläre und ein Torwarttrainer werden nach Vereinsangaben an der ersten PSG-Akademie auf russischem Boden lehren. Die Website steht, auf dem Instagram-Account sammeln sich die ersten Füllbilder und Nutzerkommentare. Und als jemand mit viel Liebe für Sprache weiß ich nicht, was mich mehr beschäftigt: Dass Fabien Allègre, der bei PSG für „Markendiversifizierung“ (doch, wirklich) zuständig ist, die Moskauer Akademie ohne Bescheidenheit oder Sprachgefühl als „eine der premiumsten des Landes“ ankündigt. Oder das Wissen, dass Paris Saint-Germain ins Russische streng phonetisch als Пари Сен-Жермен transliteriert wird, also Pari Sen-Schermen. Wenn das mal die Akademie nicht noch ein bisschen premiummer macht!

⚽ Willst du Jenissei oben sehen, musst du die Tabelle drehen. Es war keine gute Saison für den Verein aus Krasnojarsk, in der kommenden Saison spielt er bloß zweitklassig. Doch auch ohne Klassenerhalt hat sich der Club etwas anderes bewahrt: sein Talent dafür, sich geschickt in sozialen Netzwerken zu präsentieren. Wir erinnern uns: FK Jenissei, das sind die, die damals mit einem Einfamilienhaus und einem Lada mit personalisiertem Kennzeichen versucht haben, Cristiano Ronaldo zu sich zu locken. Die, die zum Pokalspiel fast 2000 Kilometer mit dem Zug anreisen, einschließlich Grillhähnchen.

Und nun eben die, die das Abstiegstrauma in einem schiefbunten Mischmasch aus Star Wars und Superheldenfilm aufgreifen: „Im Jahr 2019 flog der FK Jenissei aus der Russischen Premjer-Liga, wodurch es zu einer intergalaktischen Explosion und einem Riss im Raum-Zeit-Kontinuum kam und sich die Universen vermischten.“. Anders gesagt: Uns gibt es noch, wir nehmen die Sache mit Humor, also kauft doch bitte unsere neuen Trikots, ja?

⚽ Noch eine Abstiegsgeschichte, bloß dramatischer: Die Finanzkrise von Anschi Machatschkala hat sich über Monate hingezogen, noch vor kurzem sah es aus, als stehe der Verein vor dem kompletten Ende: Nach dem Aus in der Premjer-Liga bekam er nicht mal mehr die Lizenz für die FNL, also die zweite Liga. Wie ernst es um Anschi stand, zeigen die Überschriften, nachdem der Verein nun immerhin eine Drittligalizenz bekommen hat: „Anschi hat überlebt“„Anschi wird leben“„Anschi ist am Leben“, so liest sich das.

Anschi hat seine Fans in einem Instagram-Post über die Lizenz und die daran geknüpften Bedingungen informiert. So darf der Verein so lange keine neuen Spieler verpflichten, bis er die Gehälter nachgezahlt hat, die er seiner aktuellen Mannschaft und dem Trainerstab noch schuldet. Ausdrücklich erlaubt ist es dagegen, Spieler aus den eigenen Fußballakademie ins Profiteam aufrücken zu lassen – die Krise des Vereins als Chance für den Nachschub.

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Als Rausschmeißer noch mal ein Blick auf Russland und Georgien. Matthew Janney schreibt darüber, wie er das Angebot bekam, für die russische Rugby-Nationalmannschaft zu spielen – und welche Reaktion es gab, als er feststellte, dass er gar keine russischen Vorfahren hat, sondern georgische. Spoiler: Es ging seinem Bericht zufolge so in Richtung „Na, das kriegen wir schon im russischen Sinne gedreht.“ Fand ich vor allem deshalb interessant zu lesen, weil Russland ja auch im Fußball wie in der Politik die russische Staatsangehörigkeit ganz gerne mal strategisch vergibt.



 

Russball, Folge 65: Fußball im Butyrka-Gefängnis

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Dinge, um die es in dieser Russball-Folge nicht gehen wird: Dass Russlands Nationalmannschaft im FIFA-Ranking zwei Plätze abgerutscht ist, dass das mit dem Video-Schiri noch ein bisschen länger dauert oder dass Gianni Infantino von Putin einen Orden verliehen bekommen hat. Stattdessen reden wir heute über einen 14-jährigen Profifußballer und über Fußball im Knast als PR-Aktion.

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⚽ Wenn dich 63 Gruppierungen, die zum russischen Fußballverband gehören, als dessen neuen Chef vorschlagen, dann ist es eventuell keine allzu große Überraschung, wenn du dann auch gewählt wirst. So geschehen mit Alexander Djukow, Nachfolger von Witali Mutko als Präsident des russischen Fußballverbandes RFS. „Ganz einfach, per Handzeichen, wie im römischen Senat“, twitterte Sport Express. Und hat da jemand „Gazprom“ oder gar „Klüngel“ gesagt?

Was hat er also vor, der Djukow? Er will sich dafür einsetzen, dass im Stadion bald Bier verkauft werden darf – schließlich sollen sich die Fans möglichst lange im Stadion aufhalten, das ist lukrativer, als wenn sie anderswo vorglühen und erst kurz vor Anpfiff auf ihrem Platz sitzen. Damit trotz russischem Winter Nachwuchsspieler das ganze Jahr lang trainieren können, sollen mehr Sporthallen gebaut werden. Die WM-Stadien sollen seiner Meinung nach an Fußballvereine übergeben werden, die dann dafür verantwortlich sind, damit Gewinne zu erwirtschaften. Auch die Frage, wie viele ausländische Spieler russische Profimannschaften gleichzeitig aufstellen dürfen, kommt sicher noch mal auf den Tisch.

⚽ Ich hab’s wirklich versucht: Aus den diversen Übersichten der Winter-Transfers in der Premjer-Liga die beste, übersichtlichste, nützlichste zu finden. Bei Sport Express gibt es eine riesige Tabelle mit Ab- und Zugängen, dazu noch alle Testspiele der Winterpause. Die Clubs sortiert nach Tabellenplatz, leiderleider ohne jegliche Suchfunktion. Bei Championat muss man sich erst mal durch eine große Übersicht aktueller Spiele scrollen, eher man zu den Transfers kommt. Dafür kann man immerhin einzelne Vereine aufrufen und findet dort auch nach ein wenig Suchen die Übersicht der Transfers – allerdings nicht immer auf aktuellem Stand. Sports.ru hat vielleicht die beste Lösung: oben die Transfers nach Datum, mit Vereinssuche – aber dann, darunter, dieser Wust an winzigen Links zu den einzelnen Transfer-Meldungen…

Ganz ehrlich: Paredes hat Zenit verlassen und spielt jetzt bei Paris Saint-Germain, das ist wichtig. Und über den Rest reden wir dann, wenn es einen interessanten Grund dafür gibt, ja?

⚽ Europa-League-Jubel in Krasnodar: Der Verein schafft es, zufällig am elften Jahrestag seiner Gründung, mit einem Tor gegen Bayer Leverkusen in die nächste Runde und gehört damit zu den letzten 16 Teams im Wettbewerb. Torschütze war Magomed-Schapi Sulejmanow, und wenn der Name nun jemandem bekannt vorkommt, dann liegt das wahrscheinlich daran, dass er hier vor anderthalb Jahren schon mal vorkam: als Beispiel dafür, wie sich Krasnodars Nachwuchsarbeit auszahlt. Mehr über den Mann, den sie „Schapi“ rufen, auch hier: Ones To Watch – Magomed-Shapi Suleymanov.

Ebenfalls weiter ist Zenit St. Petersburg, wo es vor dem Spiel gegen Fenerbahce eine ziemlich spektakuläre Fan-Aktion gab:

In der nächsten Runde der Europa League tritt Zenit gegen den FC Villarreal an, Krasnodar spielt gegen Valencia. Russland gegen Spanien, da war doch was…

⚽ Auch Tschertanowo Moskau profitiert mal wieder von seiner guten Nachwuchsarbeit: Der Verein, der in Russlands zweiter Liga spielt, will dazu künftig auch Sergej Pinjajew aufstellen. Er ist Stürmer und Jahrgang 2004, Tschertanowo setzt also auf einen 14-Jährigen. Kein Wunder, wenn man Tore wie dieses hier sieht:

Vor ein paar Wochen hatte Pinjajew bereits mit einem anderen Tor auf sich aufmerksam gemacht, damals war er noch 13 Jahre alt. Das ist sogar den Scouts von Manchester United aufgefallen. Sollte Pinjajew in der laufenden Saison tatsächlich für Tschertanowo aufgestellt werden und spielen, würde er einen neuen Rekord als jüngster Spieler seiner Liga aufstellen.

⚽ Erinnert ihr euch, damals, als Moskau WM-hübsch gemacht wurde und jemand fand, das Zelt für die Obdachlosen am Platz mit den drei Bahnhöfen störe nur? Zeitweilig sollte die Anlaufstelle verlegt werden, weit weg vom Stadtzentrum. Acht Monate sind seitdem vergangen, und wer überrascht ist, dass das Zelt nie wieder aufgebaut wurde – nun ja, die WM ist vorbei, das internationale Interesse am Leben in Russland ist geschwunden, aber die Mächtigen, die sind geblieben.

Kein Zelt mehr für die Obdachlosen, und das im russischen Winter. „Es bedeutet, dass vielen Leuten nun kein Essen mehr haben und keine Möglichkeit, sich aufzuwärmen“, heißt es in einer Petition für den Wiederaufbau des Zelts am Dreibahnhofsplatz, die Moskauer Stadtregierung vernachlässige genau die Menschen, für deren Schutz sie verantwortlich sei. Wie der Alltag dieser Menschen nun aussieht, im Winter nach der WM, berichtet die Nowaja Gaseta.

⚽  Alexander Kokorin und Pawel Mamajew bleiben weiter hinter Gittern. Den beiden Profifußballer, die randalierten und daraufhin festgenommen wurden, sollen nach einer Anhörung nun bis Anfang April in Haft bleiben. Zuvor hatte sich Kokorin in einem offenen Brief bei seinen Fans entschuldigt – ohne Ergebnis.

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(Foto: Stanislav Kozlovskiy, Butyrka prison, CC BY-SA 3.0)

Mamajew wiederum machte einige Tage nach der Entscheidung bei einer PR-Aktion mit, die nicht nur ihn gut aussehen lässt, sondern auch das Butyrka-Gefängnis, in dem er sitzt: Dort trat er bei einem fototauglich inszenierten Fußballspiel an. Zwei mal zwanzig Minuten, Mamajew erst in der einen, dann der anderen Mannschaft. Ob’s was geholfen hat, zeigt sich wohl frühestens im April.

⚽ Am 23. Februar wird in Russland der „Tag des Vaterlandsverteidigers“ gefeiert. Männer werden mit stereotypen Männerglückwunschkarten beschenkt, bekommen Socken, Rasierschaum und andere klischeemäßige Männerdinge. Umgangssprachlich ist oft einfach vom „Männertag“ die Rede: Jeder Mann ist schließlich ein Soldat, irgendwie und potentiell, auch wenn viele russische Familien nach dem Schulabschluss alles dafür tun, dass ihre Söhne nicht zum Militär müssen, wo brutale Übergriffe auf junge Rekruten Alltag sind. Aber hey, Soldaten, Militär, Heldengeschichten – da will natürlich auch Russlands Nationalmannschaft mitspielen und gratuliert entsprechend:

Hübsch haarspalterig übrigens ein Kommentar darunter, dessen Verfasser sich sorgt, die Stürmer im Team könnten sich am „Tag des Vaterlandsverteidigers“ ungeliebt und vergessen fühlen: „Und was ist mit dem Tag des Vaterlandsangreifers?“

⚽ Am 10. März soll ja nun endlich das erste Spiel im neuen Dynamo-Stadion in Moskau stattfinden (immer vorausgesetzt, die kriegen das mit dem Rasen bis dahin geregelt – einfach hier mal klicken und dann zum zweiten Bild scrollen). Kevin Kuranyi, selbst ehemaliger Dynamo-Spieler, hat schon mal gesagt, dass er gerne zum Eröffnungsmatch kommt, wenn man ihn denn einlädt. Um seine Chancen zu steigern, lässt er sich direkt noch mit einer positiven Prognose zitieren: Das Spiel gegen Spartak wird selbstverständlich Dynamo gewinnen.

⚽ Zu José Mourinho gab es diesen Monat ja so diverse Meldungen. Erstens muss er trotz Steuerhinterziehung nicht ins Gefängnis, sondern zahlt stattdessen eine Geldstrafe. Zweitens durfte er beim Eishockeyspiel zwischen Avangard Omsk und SKA Petersburg den ersten Puck ins Spiel bringen und schaffte es dabei, sich auf dem roten Teppich langzumachen. Und weil er damit offenbar noch nicht tief genug gefallen war, entschied er sich als nächsten Karriereschritt hierfür:

Wer die Anspielung mit Balashika (deutsch: Balaschicha) nicht versteht: Bitte hier entlang.

⚽ Das hier wollte ich letzten Monat schon verlinken, aber dann hatte Russian Football News Technikprobleme und die Seite war offline. Jetzt aber kann man den Text wieder lesen, der einem eine Vorstellung davon gibt, wie riesig das Gebiet ist, dass Russlands Liga-Fußballer Woche für Woche bereisen müssen. Denn der Artikel präsentiert ein Gedankenspiel: Stell dir vor, London wäre Moskau. In welche anderen Städte müsste man von dort aus zu Auswärtsspielen reisen, um genau so große Strecken zurückzulegen wie Russlands Fußballer? Einmal nachgerechnet, und schon spielen Vereine aus Aberdeen, Neapel, Barcelona, Wolfsburg, Warschau und Wien alle in derselben Liga. Und jedes Wochenende muss die Hälfte der Clubs reisen.

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Zum Schluss ein Buchtipp. Barney Ronay war für den Guardian bei der Fußball-WM in Russland. In „How Football (Nearly) Came Home“ erzählt er, wie sich die englische Mannschaft dort geschlagen hat (überraschend gut), wie der russische Sommer für ihn so war (überraschend heiß) und wie die Menschen in England auf den Erfolg ihres Teams reagiert haben (überrascht).

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Was mir besonders gefällt: Da schreibt nicht der Journalist (jeder hat ihn schon mal erlebt), der für vier Wochen in ein Land eingeflogen wurde und nun natürlich Experte für dieses Land ist. Ronay macht stattdessen zum Thema, was Russland mit ihm macht, konkret zum Beispiel die Sommerhitze von Nischni-Nowgorod: “It was ludicrously hot outside, heat that makes you want to stop and say OK, but seriously, what’s the actual, how’s the, when does it, this can’t be.”

Interessant auch sein beiläufiger Kommentar zum Zusammenhang zwischen British Empire und englischem Fußball: „Rather than threatening to bestride the world, England have instead been relentlessly baffled by it. The issue of ‚abroad‘, its otherness, its refusal to lie down or give ground or know its place has been the central note of confusion in England’s largely non-illustrious footballing history.“



 

Russball, Folge 62: Boris Rotenberg darf in der Champions League spielen

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Da ist sie also wieder, die Zeit, in der man keine Bundesliga-Konferenz im Radio höen kann, ohne dass einem zwischendurch jemand vom Weihnachtsmarkt erzählt. Auch hier in Moskau laufen die Vorbereitungen auf die Feiertage, im Supermarkt auf der anderen Straßenseite gibt es sogar deutschen Stollen zu kaufen. Dabei ist hier ja nicht Weihnachten, sondern Neujahr das Fest, bei dem die Familie um einen Baum sitzt und gemeinsam feiert – es wäre also durchaus noch Zeit.

Nicht nur Festbeleuchtung glitzert auf den Straßen, auch Schnee und stellenweise Eis. Weshalb es in dieser Russball-Ausgabe auch um die Frage geht: Wie kalt muss es eigentlich werden, damit selbst russische Profisportler einen Anspruch darauf haben, nicht im Freien gegeneinander antreten zu müssen?

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⚽ „Die Passion des Andrei“ – wer so eine Überschrift raushaut, der signalisiert: Es geht um Monumentales. Um das Ende einer Spielerkarriere, die so bisher kein zweiter Russe wiederholen konnte. Andrei Arschawin, der zuletzt in Kasachstan der Rente entgegendribbelte, aber zu seinen Glanzzeiten für Zenit und für Arsenal gespielt hat. Der zu Beginn seiner Zeit in London beeindruckte, aber daraus kein Sprungbrett für eine internationale Karriere machen konnte. Der zwar Nationalspieler war, aber nie bei einer WM mitspielte.

Glorreicher Held oder gescheitertes Talent, „gifted maverick who completed a fairytale rise to the top, or wasted talent who let it all slide when on the edge of greatness“ – für den Guardian sind beides mögliche Deutungen von Arschawins Lebensweg. In Russland klingen die Reaktionen eher wohlwollend: „Der Zar geht und nimmt die Krone mit“, schreibt die Iswestija, und die russische Nationalmannschaft lässt twittern: „Auf Wiedersehen, Legende!“

⚽ Und weil er ja nun Zeit hat, gibt Arschawin dann auch gleich eine ganze Reihe von Interviews. Dass er gegen die Einbürgerung ausländischer Spieler ist, gibt er dort dann zum Beispiel zu Protokoll (eine populäre Praxis, um die russische Nationalmannschaft zu verstärken). Oder er erzählt, wer für ihn derzeit die besten russischen Fußballer sind: „Ich denke, der stärkste ist dem Potenzial nach sicherlich Golowin, der zweitstärkste sitzt leider im Gefängnis. Der Rest spielt auf einem niedrigeren Niveau.“

Das war deutlich. Der Mann im Gefängnis, genau genommen in U-Haft, ist Alexander Kokorin. Er und Pawel Mamajew, beide russische Nationalspieler, werden demnächst für das vor Gericht stehen, was in Russland „Hooliganismus“ heißt: In einem Café sollen sie mehrere Menschen angegriffen und verletzt haben, Mamajew soll sogar mit einem Stuhl auf eines der Opfer eingeschlagen haben. Mamajews Frau hat unterdessen ein Foto von ihrem Instagram-Account gelöscht, auf dem der Name ihres Mannes und ein Stuhl zu sehen waren. Auf einem anderen Bild kann man ihn, wenn man genau hinsieht, noch erkennen.

⚽ Im März hatte ich schon mal auf Tschertanowo Moskau hingewiesen. Der Verein hat die bemerkenswerte Philosophie, für seine Profimannschaft nicht auf teure Spieler-Einkäufe zu setzen, sondern stattdessen auf seine eigenen Nachwuchsspieler. „Russian Football News“, durch die ich auf die Mannschaft aufmerksam geworden war, sind am Thema drangeblieben und berichten nun, wie es seitdem weiterging: Tschertanowo ist in die Erste Division aufgestiegen – Russlands zweithöchste Profiliga – und steht dort aktuell komfortabel auf Tabellenplatz 6.

Bemerkenswert auch: Obwohl in dieser Liga die Nachwuchsteams mehrerer großer Clubs spielen, ist Tschertanowo die Mannschaft mit dem niedrigsten Altersdurchschnitt. Mehr dazu, unter anderem ein Blick darauf, wie stark sie in den U20-, U18- und noch jüngeren Nationalmannschaften vertreten ist, hier: Chertanovo Moscow – Finally getting the recognition they deserve?

⚽ Im russischen Fußball ist etwas geschehen, was es so zuvor noch nie gab. Es geht um Boris Rotenberg, einen Rekordspieler der besonderen Sorte: Im Sommer hatte ich schon mal über ihn geschrieben, weil er nicht zur russischen WM-Auswahl gehörte, trotz eines Alleinstellungsmerkmals, an das sonst keiner rankommt: Niemand hatte bei so vielen Liga-Spielen bloß auf der Bank gesessen wie Rotenberg.

Darum war das, was da am 28. November beim Spiel zwischen Lokomotive und Galatasaray passiert ist, auch so besonders: In der 90. Minute durfte Rotenberg auf den Platz, eingewechselt für Jefferson Farfán. „Der große Boris Rotenberg debütiert in der Champions League“, twittert Eurosport und frotzelt damit nur ein ganz klein wenig.

⚽ Gleiches Spiel, anderer Spieler: Grzegorz Krychowiak, polnischer Nationalspieler, hat in seiner Vereinskarriere unter anderem beim FC Sevilla gespielt. Derzeit ist er bei Paris Saint-Germain unter Vertrag, von wo er erst nach West Bromwich Albion und aktuell an Lokomotive Moskau ausgeliehen wurde.

Dass er sich auf diesem Karriereweg nicht nur Fußballkönnen angeeignet hat, hat er in einem Interview für den Youtube-Kanal von Loko gezeigt. „How was your emotions?“, fragt der Interviewer nach dem Sieg gegen Galatasaray, und Krychowiak legt los:

⚽ Mutko-Watch, nächste Runde: Der Mann hatte bekanntlich eine ganze Reihe von Ämtern, nicht ganz unprominent darunter z.B. der Job als Sportminister und als Präsident des russischen Fußballverbandes. Letztere Aufgabe ließ er, als der öffentlich Druck wegen der Doping-Vorwürfe zu groß wurde, kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft ruhen. (Wie weit man da wirklich von „ruhen“ sprechen kann und es nicht eher sowas war wie „unter der Bettdecke mit der Taschenlampe weiterlesen, was auch alle wissen, aber keinen stört, weil man da eh von ausgegangen war“ – unklar.)

Klar ist dafür, dass Mutko neuerdings wieder hochrangige Termine für den russischen Fußballverband wahrnimmt und auch beim Training der Nationalmannschaft gerne mal an der Seitenlinie entlangpatroulliert. Heißt dass, das sein Amt nicht mehr ruht? Die Nachrichtenagentur AP hat nachgefragt, Ergebnis: Russlands Fußballverband gibt derzeit keine Auskunft darüber, wer aktuell dort den Präsidentenjob macht.

⚽ Ich hab nachgezählt: Das hier ist nun schon der dritte „Russballl“ in Folge, in der Denis Gluschakow Thema ist. Erst wegen der Sache mit dem Instagram-Like für Kritik am Damals-noch-Trainer von Spartak, Massimo Carrera, dann wegen der Abwesenheit bei dessen Abschiedsessen. Und jetzt? Carrera ist doch inzwischen weg, was kann da noch kommen?

Ein wütender Fan. Einer von vielen, die sauer sind auf Gluschakow und ihm die Schuld dafür geben, dass Carrera Spartak nicht mehr trainiert. Er rannte beim Spiel gegen Rapid Wien aufs Feld, direkt zu Gluschakow, schubste ihn und schrie auf ihn ein. Die Situation dauerte nicht lang, schnell drängten andere Spartak-Spieler den Mann ab. Was bleibt, ist das Wissen, dass das nur der Gipfel war unter vielen Protesten gegen Gluschakow. Und dieser überaus hilfreiche Artikel (okay, wohl eher native advertising) bei Sports.ru, der erklärt, wie viel Geld man verdienen kann, wenn man darauf wettet, dass er den Verein verlässt oder nicht. Noch sind die Quoten ein wenig besser, wenn man wettet, dass er geht.

⚽ Russischer Fußballhumor im Winter: Vor dem Spiel gegen Amkar Grosny hatte der FK Jenissei noch das hier getwittert, Text: „Wir bereiten uns aufs Spiel vor.“ Anders gesagt: Her mit dem Thermometer, denn in Russland liegt bei -15 Grad die magische Grenze, ab der Vereine verlangen können, dass das Spiel verlegt wird. Schon vor dem Spieltag waren beide Clubs wenig begeistert gewesen von dem, was der Wetterbericht da vorhersagte, Jenissei versuchte sogar durchzusetzen, das Spiel in eine Halle zu verlegen – vergeblich.

Vor dem Anpfiff wurden dann -13,9 Grad auf dem Platz gemessen, das Spiel fand statt. Abgesagt wurde hingegen die Begegnung zwischen dem FK Orenburg und Krylja Sowetow Samara: -17 Grad, und damit die eben zwei Grad unter der entscheidenden Marke. Alles, was wärmer als -15 ist, ist eben kein Grund. Sondern nur normales russisches Winterwetter.

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Zum Schluss noch etwas, das nichts mit Russland zu tun hat, aber viel mit Fußball und mit Profi-Spielern, die zwischen Vereinen in verschiedenen Ländern wechseln. Was wird der Brexit für Folgen haben für Fußballvereine in Großbritannien? Ich wusste vorher nicht, wie das mit der offiziellen Arbeitserlaubnis funktioniert – das wird in Zukunft definitiv nicht einfacher. Und dann ist da noch der englische Fußballverband, der hofft, dass durch den Brexit einheimische Spieler weniger Konkurrenz haben, dadurch mehr Einsätze im Vereinsfußball, dadurch mehr Erfahrung für die Nationalmannschaft…

Die nächste Russball-Folge gibt es… tja. Liest die irgendjemand, wenn sie am Neujahrsmorgen kommt? Wäre es besser schon kurz nach der deutschen Weihnacht? Oder eher kurz vor der russischen? Ich freu mich über Rückmeldungen.