Russball, Folge 47: Ein neuer Job für Witali Mutko

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Zwei Dinge sind geschehen zwischen der letzten Russball-Folge und dieser hier. Erst mal war re:publica in Berlin, eine gute Gelegenheit, den Horizont ein bisschen zu erweitern, Freunde und frühere Kollegen zu treffen. Es gab einen kleinen Talk darüber, wie Podcasts den Sportjournalismus verändern, das fand ich ganz interessant – könnt ihr euch hier ansehen oder anhören.

Außerdem ist eine DFB-Delegation nach Russland gereist, um organisatorische, aber auch sehr viel komplexere Themen anzugehen: Fair Play, Menschenrechte, Gedenken an den Zweiten Weltkrieg. Nach dem, was Präsident Reinhard Grindel dazu am Montag hier in Moskau erzählt hat, nehme ich dem DFB ab, dass er sich ernsthaft bemüht, diesen Themen gerecht zu werden. Warum mich die Haltung zu Russland und Menschenrechten trotzdem nicht überzeugt, habe ich hier aufgeschrieben.

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⚽ Was bedeuten diese vier Emojis? 🚂🏅🔥🙏 Ganz klar: Lokomotive Moskau ist russischer Fußballmeister, und der Mann, der diese Symbole aneinanderreihte, ist deshalb begeistert und dankbar: Ilja Gerkus, Präsident des Vereins, postete kurz nach der Entscheidung diesen Jubeltweet: „Wir sind Meister! Das ist fantastisch, kosmisch, unwirklich. Unglaublich! Aber wir haben es geschafft! Zusammen! Vom allerersten Anfang bis zum Moment des Sieges! Danke an alle, die zu uns gehalten und an uns geglaubt haben. Begreifen werden wir das erst später. Lasst uns uns bis dahin einfach freuen! Lokomotive ist Meister!“ (Bereut schon jemand, dass man bei Twitter heutzutage 280 statt 140 Zeichen hat?)

Seinen Jahresvorrat an Ausrufezeichen hat Gerkus damit aufgebraucht – aber wann denn bitte auch sonst, wenn nicht in diesem Moment? Endlich wieder Meister, nach 14 Jahren Durststrecke, und dann auch noch unter Juri Sjomin, der Jahrzehnte seines Lebens investiert hat, um Lokomotive zu dem Verein zu machen, der er heute ist. Der Mann ist, in den Worten von „Sowetski Sport“, der „letzte russische Toptrainer“. Demnächst wird Sjomin 71. Gerade hat er seinen Vertrag bei Lokomotive verlängert.

⚽ Auch eine Liga weiter unten wird gefeiert: In der WM-Stadt Samara ist der örtliche Klub soeben in die Premjer-Liga aufgestiegen, vor vollem Haus. Und ich möchte dazu gerne mehr lesen und mich mitfreuen und euch hier im Newsletter erzählen, wie begeistert die Fans gefeiert haben. Aber je mehr ich bei Twitter rumsuche, desto lauter plärrt mein pubertierendes Unterbewusstsein dazwischen: „Ziemlich unglücklichen Twitternamen hat der Verein, was? @fckssamara, wer denkt sich denn sowas aus?“ Ich kann so nicht arbeiten.

⚽  Ihr erinnert euch an Witali Mutko und seine vielen, vielen Ämter? In der Politik, als Fußballfunktionär, bei der WM-Vorbereitung? Und wie diese Ämter nach und nach immer weniger wurden, je mehr über das systematische Doping zu seiner Zeit als Sportminister berichtet wurde? Seit dieser Woche hat Mutko nun auch kein Regierungsamt mehr, das irgendwie mit Sport zu tun hat. Bisher war er ja noch Vize-Premierminister mit Zuständigkeit für den Sport.

Witali Mutko bei einem Treffen mit Präsident Putin. Als dieses Bild entstand, war Mutko noch Sportminister.  (Foto: Kremlin.ru)
Witali Mutko bei einem Treffen mit Präsident Putin. Als dieses Bild entstand, war Mutko noch Sportminister.
(Foto: Kremlin.ru)

Nun wurde Wladimir Putin ins Präsidentenamt wiedereingeführt, sein Premierminister Medwedjew stellte die Pläne fürs neue Kabinett vor, und siehe da: Mutko bleibt zwar Vize, muss die Zuständigkeit für den Sport aber abgeben und soll sich stattdessen um Bauprojekte und regionale Entwicklung kümmern. Wenn selbst die staatliche Nachrichtenagentur Tass berichtet, dass die Mutko-Personalie für Unruhe unter den anwesenden Abgeordneten geführt hat, merkt man, wie klar auch den russischen Politprofis ist: Hier wird wieder einmal demonstrativ die Regel bestätigt: Putin ist loyal zu seinen Leuten und sorgt dafür, dass sie versorgt sind.

⚽  Manchmal habe ich das Gefühl, die Berichterstattung über Diskriminierung im russischen Fußball läuft immer in denselben Phasen ab. Erst gibt es einen Vorfall – Affenrufe, beiläufig rassistische Kommentare. Jemand meldet es, gerne Journalisten. Unterdessen Empörungswelle in Russland, das ist ja wohl kein Rassismus, muss man ja wohl noch sagen dürfen, und überhaupt, ich hab nichts gehört. Es folgt meist eine Strafe, die dann recht milde ausfällt. Dann warten alle auf die nächste Runde.

Wer einen tieferen Einblick gewinnen möchte, wie es hier im Land mit Rassismus im Fußball aussieht, der sollte lesen, was Bryan Idowu (Oder Brian? Auch das war ein Aha-Moment) dazu zu sagen hat. Er ist Profifußballer, Sohn eines Nigerianers, in Russland geboren und aufgewachsen, und hat vieles selbst erlebt: Beschimpfungen auf der Straße, Racial Profiling in der Metro, Beleidigungen auf dem Platz. Aber er sieht auch Fortschritt. Faszinierender Mann, das Porträt kann man hier nachlesen.

⚽  Mit dem Wort „Diskriminierung“ fasst auch Sport Express einen Sachverhalt zusammen, von dem ich noch nie gehört hatte. Wer es im russischen Profifußball zu etwas bringen will, der sollte am besten im Januar oder Februar geboren werden, lieber nicht im November oder Dezember. Ich dachte erst, das soll eine Glosse werden – eine statistische Anomalie benennen, dann ein bisschen weiterspinnen, ein oder zwei Pointen finden. Aber nein, Autor Gosha Chernov hat seine statistischen Hausaufgaben gemacht, hat möglicher Verzerrungen durch die Geburtenrate rausgerechnet, es bleibt dabei: Schau dir die besten Spieler beim russischen Fußballnachwuchs an, egal in welcher Altersklasse – sie sind zu Beginn des Jahres geboren.

Warum? Die Auflösung hat mit dem System zu tun, wie Nachwuchsförderung in Russland funktioniert: Vielversprechende Talente werden immer jahrgangsweise gesichtet – und da haben die Januarkinder den Dezemberkindern nun mal ein ganzes Jahr an körperlicher Entwicklung voraus. „Stellen Sie sich das mal vor“, schreibt Chernov, „Sie bringen ihren Sechsjährigen zu einer der besten (Sport)schulen des Landes. Die Trainer schauen sich aufmerksam hundert oder mehr Kinder an, aber Ihr Kind wird nicht angenommen mit den Worten: ‚Kommen Sie nächstes Jahr wieder, der Kleine muss noch wachsen.‘… Und das geschieht dann jedes Jahr.“

Wozu das führt, zeigt eine Grafik, für die Chernov alle Spieler der beiden obersten russischen Ligen nach Geburtsmonat sortiert hat: Der Januar schlägt sie alle, um Längen. Offenbar lässt sich das sogar teilweise auf den deutschen Fußballnachwuchs übertragen, von der Schalker U17 zum Beispiel sind nur vier Spieler in der zweiten Jahreshälfte geboren. Ich hab das dann spaßeshalber auch mal schnell bei der deutschen Nationalmannschaft durchgezählt, am Beispiel des Kaders für das Länderspiel am 27. März. Was soll ich sagen: 26 Mann, die Hälfte davon feiert zwischen Januar und April Geburtstag. Ein Phänomen, von dem ich noch nie gehört hatte, und das mich jetzt ziemlich fasziniert.

⚽ Von den riesigen Entfernungen, die russische Ligafußballer zu ihren Auswärtsspielen zurücklegen müssen, war hier ja schon öfter die Rede. Dass das selbst bei einem Derby gelten kann, zeigt aktuell dieser Tweet:

⚽ Dann hat noch Andrei Arschawin das Ende seiner Spielerkarriere angekündigt, was man vielleicht ein enig einordnen muss. Ja, okay, der Mann spielt aktuell irgendwo in Kasachstan. Aber zu seinen besten Zeiten hat er nicht nur mit Zenit St. Petersburg einen Erfolg nach dem anderen eingefahren, er war auch einer der wenigen russischen Spieler in jüngerer Zeit, die den Durchbruch im internationalen Spitzenfußball geschafft haben.

Als Arschawin 2009 zu Arsenal nach London ging, war er der teuerste Spieler im gesamten Team. Was nun kommt, nach dem Ende der aktiven Karriere? Normalerweise würde man ein Statement erwarten wie „Mehr Zeit mit der Familie“, allerdings scheint Arschawins Frau einen ziemlichen Vollschuss zu haben. Da klingt es ganz plausibel, dass er direkt von möglichen anderen Aufgaben im Profifußball spricht, die er sich vorstellen kann.

⚽ An dieser Überschrift konnte ich einfach nicht vorbeiscrollen: „Wie geht es dem ältesten Fußballclub in Russland – der offiziell schlechtesten Mannschaft des Landes?“ Der Autor verspricht eine Geschichte darüber, „wie eine große Vergangenheit unter dem Druck der harten Gegenwart bröckelt.“ Das ist dann aber auch genug Lyrik, es geht ab nach Orechowo-Sujewo. In Deutschland wäre das eine Großstadt, hier ist es halt irgendein Provinzort, eine Stunde Autofahrt von Moskau. Zehn Jahre vor der Russischen Revolution gründeten Fußballfans hier den Verein „Snamja Truda“, übersetzt heißt das „Das Banner der Arbeit“.

Heute weht das Banner auf Halbmast, bestenfalls: Wer den Verein in einer Tabelle finden will, der muss schon im drittklassigen Bereich gucken – und dann am besten unten anfangen. Die Spieler, berichtet Bombardir, bekommen hier so niedrige Gehälter, dass sie sich anderswo etwas hinzuverdienen müssen – aber immerhin, sie werden pünktlich bezahlt, das ist im russischen Profifußball keineswegs garantiert. Trotzdem ist das hier keine Reportage aus dem Tal der Tränen. Die Fans haben mit ihrem Verein Tragödien überstanden, gegen die die aktuelle Saison mit einer Tordifferenz von -50 kaum erwähnenswert ist. Es ist auch eine Geschichte über Tradition und über Stolz, die sich zu lesen lohnt.

⚽ Zenit St. Petersburg verdient sich ganz gut was dazu, indem es die Spieler, die gerade nicht erste Garnitur sind, an andere Vereine verleiht. So weit, so bekannt. Ein Mitarbeiter von Championat.com hat jetzt mal nachgezählt, und siehe da: In diesem Sommer kommt gleich eine komplette Fußballmannschaft aus der Ausleihe zurück zu Zenit – elf Spieler, die bisher in Frankreich, Griechenland, der Türkei oder anderswo in Russland im Einsatz waren. Das Timing ist auch deshalb interessant, wiel alles danach aussieht, dass Trainer Roberto Mancini bei Zenit aufhört, um die italienische Nationalmannschaft zu übernehmen. Der neue Trainer kann dann also aus dem Vollen schöpfen.

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Zum Schluss verlassen wir noch kurz Russland und blicken über die Grenze rüber, in die Ukraine. Ihr erinnert euch an die vielen russischen Hotels, die dabei erwischt wurden, wie sie rechtzeitig zur Weltmeisterschaft ihre Preise drastisch erhöhten? In Kiew sieht es ganz ähnlich aus: Die ukrainische Hauptstadt ist Ende des Monats Gastgeber für das Champions-League-Finale, auch hier wollen sich Hoteliers damit eine goldene Nase verdienen.

Doch ukrainische Fußballfans halten dagegen, sie wollen die Abzocke verhindern. „Gratis-Unterkunft für Fans“ nennen sie ihren Service, den sie über Facebook organisieren. Anreisenden Fußballfans können sich dort melden und sollen dann einen Schlafplatz bei Fans vor Ort finden. Fußball-Couchsurfing, als Solidaritätsaktion. „Los jetzt“, heißt es auf der Facebookseite unter einer Suchanfrage von vier Liverpool-Fans aus Malta, „zeigen wir ihnen, dass Kiew eine gastfreundliche Stadt ist!“

Nächste Woche mehr – bis dahin könnt ihr eure Freunde, Kolleginnen und Familie gerne auf den Russball-Newsletter hinweisen. Es ist zwar nur mein kleines Spaßprojekt, aber je mehr Leute mitlesen, desto größer die Motivation. Bis dann, macht’s gut!