Wie die New York Times es mit den Tweets zu #MH17 übertreibt

Wenn ein Tweet funktioniert, schick ihn noch mal“ – so stand das Anfang des Jahres in einem Text, in dem das Social-Media-Team der New York Times seine Erfahrungswerte aus dem Jahr 2013 vorstellte.

Der Text gehört auf die Leseliste für jeden, der sich mit Journalismus und Twitter beschäftigt, und auch diese Kernaussage ist überzeugend. Schließlich hat die NYT Leser rund um die Welt. Wird ein Tweet also nur einmal veröffentlicht, verpasst man ihn in einer anderen Zeitzone vielleicht. Außerdem lohnen gerade hintergründige Artikel auch Tage nach der Veröffentlichung noch das Lesen. Vor allem am Wochenende, wo unter @nytimes vorgeplante Tweets zeitgesteuert veröffentlicht werden, sei das Wiederholen darum inzwischen eine bewährte Methode, so das Times-Team.

Stimmt alles, im Prinzip. Aber das vergangene Wochenende war eine Ausnahme, denn es war das Wochenende nach dem Absturz von Flug MH17 über dem Osten der Ukraine. Die New York Times stellt einige Opfer des Unglücks vor, in Kurzporträts – und schickte dazu am Samstagabend (17.20 Uhr deutscher Zeit)
diesen Tweet raus:

Dann am Sonntagmorgen um 4.13 Uhr.

Und um 10.48 Uhr.

Das nächste Mal, mit neuer Foto-Kombo, um 16.15 Uhr.

Dann, inzwischen war Montag, um 1.27 Uhr.

Und, das bisher letzte Mal, um 8.13 Uhr.

Wenn es bei dieser Sieben-Stunden-Taktung bleibt, wird dieser Tweet also heute Nachmittag gegen 15 Uhr deutscher Zeit das nächste Mal veröffentlicht. In New York ist es dann noch halbwegs früh am Tag, kann also gut sein, dass noch die Automatik vom Wochenende greift.

Viel wichtiger aber ist: Alle sieben Stunden, das heißt nicht nur „Jeder soll eine Chance bekommen, diesen Tweet zu sehen“. Alle sieben Stunden heißt: „Wir nehmen in Kauf, dass derselbe Mensch in derselben Zeitzone diesen Tweet häufiger sieht.“ Mir zum Beispiel ist er seit Samstag viermal in der Timeline begegnet – und auch aufgefallen. Schließlich hängt extra ein Foto dran, es zeigt Gesichter – die doppelte Garantie, dass der Blick hängenbleibt. Das ist im besten Fall nur nervig, im schlimmsten Fall jedes Mal neu bedrückend und verstörend, je nachdem, wie betroffen man von dem Thema ist.

„Mit Bedacht genutzt dient das Recycling (von Tweets) unseren Lesern, indem wir ihnen (…) Inhalte dann liefern, wenn sie sie auch lesen können“, heißt es in dem Text beim Nieman Lab. In diesem Fall wäre ein bisschen mehr Bedacht und ein bisschen weniger Schlagzahl schön gewesen.

Kiew und die kleinen Wünsche

Nahe der Michaelskathedrale in Kiew gibt es einen kleinen Brunnen. Pawel (der nicht wirklich Pawel heißt) hat mich hierher geführt, normalerweise ist er mit ganzen Besuchergruppen unterwegs. Aber es kommt keiner mehr nach Kiew, denn wer einen Urlaub plant, hält sich mit Feinheiten wie „in diesem Teil des Landes ist es ruhig“ eher selten auf. Freie Platzwahl im Restaurant, kaum mal eine Liftbegegnung im Hotel, Gruppenrundgang allein zu zweit.

„Nur ein Mensch diesmal“ hat Pawel eben am Telefon gesagt, es dann wieder eingesteckt und ist zum Brunnen gelaufen. Ein Wunschbrunnen, erklärt er, neben der Kathedrale mit den goldenen Dächern, die Stalin „mangels historischem Wert“ zerstören lies. Seit 15 Jahren steht sie nun wieder, in Hörweite zum Außenministerium. Vor ihm ruft ein Mann schwulenfeindliche Parolen in ein Megafon, seine Begleiter halten ein Schild hoch, das ein Hakenkreuz vor Regenbogenhintergrund zeigt. Man wüsste schon, was man sich wünschen könnte, aber im Brunnen ist kein Wasser.

Maidan KiewEs gab Monate, da hat man den Maidan jeden Tag in den Nachrichten gesehen. Vieles würde man auch heute noch wiedererkennen, Monate nach den Protesten und den tödlichen Schüssen. In der Sommersonne wirken die olivgrünen Zelte wie ein Pfadfinderlager, nur dass jemand „Donbass“ auf sie geschrieben hat, „Krim“ und „Mariupol“. Männer in Camouflagekleidung sitzen Wache, die übriggebliebenen der Maidanbewegung, mit unklarer Agenda. Vor den Zelten stehen Plastikdosen für Geldspenden, auf der Bühne in der Mitte treten Musiker auf, mal deklamiert auch einer Gedichte. Und dazwischen immer wieder: Grablichter, Rosenkränze, Plastikblumen, drapiert um die Fotos der Toten.

Der Wunschbrunnen muss gar nicht eingeschaltet sein, sagt Pawel. Man kann ein bisschen Wasser mitbringen und es selbst ins Becken gießen, das gilt auch.

Pawel ist halb so alt wie ich, spricht vier Sprachen, lernt gerade die fünfte, und weil sonst keiner da ist, werde ich bei unserem Rundgang alle meine Fragen los. Die Sehenswürdigkeiten kommen von selber dran, aber wie ist der Alltag? Ab wann darf man hier Auto fahren und ab wann wählen? – „18“, sagt Pawel, und schiebt direkt hinterher, dass die Präsidentschaftswahl Ende Mai seine erste war.

Maidan KiewWarst Du auch auf dem Maidan? Haben sich Deine Eltern keine Sorgen gemacht? Als die Schüsse fielen, sei er krank gewesen, sagt Pawel, aber ja, vorher gehörte er zu den Protestierenden. Und nein, Sorgen hätten sich die Eltern auch nicht gemacht, schließlich hatten sie ihn immer im Blick: „Sie waren ja selber auch hier.“

Der Wunschbrunnen funktioniert so: Eine Münze ins Wasserbecken werfen. Dann herausfischen, an eines der Metallteile in der Mitte drücken und loslassen. Bleibt die nasse Münzen hängen, geht der Wunsch in Erfüllung.

Manchmal ist morgens auf der Maidanbühne Gottesdienst, dann ziehen die Zuhörer den Kreschatik entlang, Kiews zentrale Altstadtstraße. Sprechchöre mit „Helden“, „Ehre“ und „Erinnerung“. An der Spitze des Zuges tragen Menschen einen Sarg, vorbei an der Haltestelle, wo sonst Touristen in den Hop-on-hop-off-Bus steigen. „Wegen höherer Gewalt keine Touren bis Ende des Jahres“, steht auf der Internetseite des Busunternehmens.

Fällt die nasse Münze am Wunschbrunnen wieder runter ins Becken, erfüllt sich der Wunsch auch nicht. Manche Leute, sagt Pawel, riskieren ihre großen Wünsche darum lieber nicht und wünschen sich nur etwas Kleines.

Warum Kiew-Boryspil das Zeug zum Lieblingsflughafen hat

Kostenloses WLAN mit konstant gutem Signal. Ein Lächeln an der Passkontrolle (okay, das mag sich nur durch den Kontrast zu den Moskauer Flughäfen besonders anfühlen). Wer am Gate was essen will, hat zwar nur die Auswahl zwischen zwei „Henry“ Filialen, aber bei beiden gibt’s Focaccia und Obst.

Alles fein. Aber der eigentliche Grund, warum Boryspil auf meiner Favoritenliste ganz nach oben gerutscht ist, ist der hier:

Ladestation Kiew Boryspil

So, Düsseldorf. Und jetzt kommst Du.

Janukowytsch ist nicht Coriolanus

Coriolanus hat noch keinen Satz gesagt, da weht eine ukrainische Flagge. Das National Theatre in London, das seit einigen Jahren seine Produktionen aufzeichnet und dann weltweit im Kino zeigt, schickt einen kleinen Film vorneweg.

Regisseurin Josie Rourke und ihre Schauspieler reden darin über Rom, als es noch kein Machtzentrum war, über Patrizier und Plebejer, darüber, wie Meinungsverschiedenheiten ausgefochten werden. Ein paar Sekunden lang sehen die Zuschauer im Moskauer Dokumentarfilmzentrum also Prügeleien in Parlamenten rund um die Welt, unter anderem in Kiew.

Und nein, eh es hier jemand einfach möchte, Wiktor Fedorowytsch Janukowytsch ist nicht Caius Marcius Coriolanus. So weit kommt’s noch. Aber einen Tag nach dem Sturz und Fluchtversuch des ukrainischen Präsidenten, nachdem sich Eltern mit ihren Kindern wieder auf den Maidan trauen und Julia Timoschenko frei ist, wäre es schon seltsam, bei diesem Stück nicht an die Ukraine zu denken.

Schließlich geht es in „Coriolanus“ um Macht (okay, wann nicht), genau genommen darum, wie sie sich legitimiert. Wie muss ein Herrscher sein, was muss er können? Welche Rechte hat das Volk? Darf jemand herrschen, wenn er das Volk – abseits der eigenen Klasse – verachtet? Darf das Volk reagieren, indem es ihn in Schande wegjagt? Wenn die einen böse sind, sind die anderen dann gut? Wer ist sichtbar, und wer manipuliert im Hintergrund?

Ein heftiger Abend, mit viel Blut und wenig Bühnenbild, mit großen Namen auf kleinem Raum. Bei Tom Hiddleston war ich froh, dass er mir vorher nur vage ein Begriff war – da konnte seine Schauspielerei überzeugen und nicht die Tatsache, dass MTV ihn für den sexiest man (alive? in the world? ever and no kidding? irgendsowas) hält. Andererseits: Mark Gatiss kannte ich (Sherlock geguckt, seine „Lucifer Box„-Trilogie gelesen) und das hat auch nicht weiter gestört. Und so, wie „Macbeth“ öde wäre ohne Lady Macbeth, lebt dieses Stück von Coriolanus‘ Mutter (Deborah Findlay). Alle liefern sie heftigstes Drama und feine Details, stürzen gemeinsam vom einen Ausnahmezustand in den nächsten, ohne dass es sich abnutzt.

Was bleibt? Die Erkenntnis, dass Theater im Kino funktioniert (bei so Sachen wie „Metropolitan Opera im Kino“ bin ich immer noch skeptisch). Dass die Sache mit der Katharsis tatsächlich stimmt. Und dass es im Shakespeare-Jahr eine gute Idee wäre, mal nachzusehen, welche anderen Shakespeare-Stücke wohl auch noch ungelesen darauf warten, entdeckt zu werden.

Gesichter des #euromaidan