Russball, Folge 39: Komm, wir spielen Find-den-Ball!

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Worum es diese Woche nicht geht: Darum, auf welche Handgepäckregeln sich deutsche Fans einstellen müssen, wenn sie im Sommer mit Aeroflot nach Russland fliegen wollen. Das Thema ist zwar interessant, aber zu komplex, um es in zwei, drei Absätzen aufzuschreiben. Mehr dazu also hier, und schon geht’s los!

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⚽ Ihr kennt das Gefühl: Vom Einkaufen für die Party nach Hause kommen, in der Küche stehend die Tüten auspacken – und dann, beim Blick in den Kühlschrank, der Geistesblitz: Mist, ich hab vergessen, Bier zu kaufen! So ging das am Wochenende auch beim Lokalderby zwischen Lokomotive Moskau und Spartak Moskau, bloß nicht mit Bier. Es hatte ziemlich geschneit, frischer Schnee ist für gewöhnlich weiß – da hat es sich eingebürgert, anstelle eines schwarz-weißen Balles einen roten Ball zu nehmen.

Auf den offiziellen Nahaufnahmen ist der Ball meist zu sehen. Von der Tribüne aus sah das ganz anders aus. (Foto: Lokomotive Moskau)
Auf den offiziellen Nahaufnahmen ist der Ball meist zu sehen. Von der Tribüne aus sah das ganz anders aus. (Foto: Lokomotive Moskau)

Den hatte bloß leider niemand besorgt – offizielle Sprachregelung: Der Sponsor stellt leider nur weiße und gelbe Bälle zur Verfügung. „Wir konnten vor lauter Schnee den Ball nicht sehen“, berichtet eine Freundin, die im Stadion war. „Wie kann man vergessen, sich um rote Bälle zu kümmern in einem Land, wo es im Winter fast permanent schneit?“ Sie ist nicht der einzige genervte Fan – erst recht nicht unter denen, die zwei Stunden im Stadion in der Kälte standen, ohne das Spiel richtig verfolgen zu können. Aber immerhin, ein schönes Spott-Format ist aus dem Fußball-Fail entstanden: „Finde den Ball“ bei Sports.ru – meine Lieblingslösung, wenn auch nicht die richtige, ist Nummer 3.

⚽ Dieser Text ist mir durchgegangen, als er im Februar veröffentlicht wurde, aber er hat sich gut genug gehalten, um ihn auch heute noch zu verlinken. Okay, die letzten vier Absätze fühlen sich etwas seltsam und drangeklatscht an. Aber der restliche Artikel wirft einen gründlichen Blick auf mögliche Gewalttaten russischer Hooligans bei der Fußball-Weltmeisterschaft.

Die Einschätzung von Autor Marc Bennetts in kurz: Hooligan-Attacken bei der WM sind nicht auszuschließen, aber zumindest im großen Maßstab doch eher unwahrscheinlich. Weil nun mal bei solch einem Renommierprojekt mit massiver Innen- und Außenwirkung ganz genau darauf geachtet wird, dass niemand die schöne Inszenierung ramponiert.

⚽ Was macht eigentlich Miroslav Klose? Er passt, mit Umweg über Thomas Brolin, zu Wladimir Putin, der darauf hin zu Gianni Infantino passt. Klingt nach Fiebertraum, ist aber das offizielle FIFA-Video anlässlich von nur noch 100 Tagen bis zur Fußball-Weltmeisterschaft.

Ein Fußball spielender Putin, das ist eher selten in der präsidialen Selbstinszenierung. Normalerweise zeigt er sich lieber beim Judo oder beim Eishockey.

⚽ Stanislaw Tschertschessow ist der Joachim Löw von Russland, Anfang des Jahrtausends waren sie sogar mal beim gleichen Verein, Tschertschessow allerdings damals noch als Spieler. Noch heute spricht Russlands Nationaltrainer super Deutsch, was er neulich genutzt hat, um mit Löw ein bisschen über die Probleme zu frotzeln, die man als deutscher oder als russischer Coach vor der WM so hat.

„Wir haben die gleichen Symptome, aber die Diagnose ist eine andere: Er hat zu viele Spieler, ich habe zu wenige“, hat Tschertschessow das Gespräch in einem dpa-Interview zusammengefasst. Ein rundum lesenswertes Stück, in dem es auch um die Chancen von Roman Neustädter und Konstantin Rausch geht, bei der Weltmeisterschaft für Russland auflaufen zu dürfen.

⚽ Ach komm, dann direkt noch ein Update zu einem anderen russischen Trainer: Leonid Sluzki, letztes Jahr ehrenhaft bei Hull City gescheitert, könnte bald schon in die Niederlande wechseln, genau genommen nach Gelderland. Vitesse Arnheim hat bestätigt, dass Sluzki sein Lieblingskandidat ist, um Henk Fraser abzulösen. Der Club ist aktuell Tabellensechster in der Eredivisie, also der obersten Liga. Sluzkis Kalkül, sich mit dem Job in Hull für andere internationale Positionen zu empfehlen, scheint also aufzugehen.

⚽ So, jetzt denke ich mal an einen Moskauer Fußballverein und ihr ratet, an welchen, okay? Als kleinen Tipp gibt es hier das Logo.

kscheib russball logo tschertanowo

Okay, das ist erkennbar weder Lokomotive noch Spartak oder ZSKA – zu wenig Rot. Von den Farben her könnte es Dynamo sein, aber deren Logo sieht auch anders aus. Torpedo also? Nein, nein, nein, falsch, falsch, falsch. Der Verein, zu dem die Raute mit den Teufelshörnern gehört, ist Tschertanowo Moskau.

Wenn euch das nichts sagt: Das ging mir bis vor ein paar Tagen genau so. Dann las ich dieses Vereinsporträt und erfuhr: Tschertanowo stellt prinzipiell ausschließlich Spieler auf, die an der eigenen Fußball-Akademie ausgebildet wurden. Kommt man so in die oberen Ligen? Bisher nicht. Ist es ein interesanter Ansatz in einem Land, das bei der Nachwuchsförderung der internationalen Konkurrenz hinterherhinkt? Ganz bestimmt.

⚽ „Ich werde eine große Mauer bauen – und niemand baut Mauern besser als ich, glauben Sie mir – und ich baue sie sehr kostengünstig. Ich werde eine große, große Mauer (…) bauen und ich werde Russland für diese Mauer bezahlen lassen.

Okay, das ist jetzt ein bisschen überspitzt, war aber das erste, was mir zu dieser Meldung hier einfiel: „England Requests 6-Meter Wall Around Training Pitch for World Cup in Russia“. Wohlgemerkt: Eine Zwei-Meter-Mauer gibt es schon (Fotos hier zum Blättern), die ist den Engländern bloß nicht hoch genug.

In Moskau kann einem die englische Nationalmannschaft dieser Tage schon mal auf der Straße begegnen, während der WM will sie sich aber mit einer hohen Mauer abgrenzen
In Moskau kann einem die englische Nationalmannschaft dieser Tage schon mal auf der Straße begegnen, während der WM will sie sich aber mit einer hohen Mauer abgrenzen

⚽ Gibt es Gesetze in diesem Land, die Schwule und Lesben diskriminieren? Sind Pride-Paraden verboten? Herrscht in der Bevölkerung schwulenfeindliche Stimmung? And diesen und anderen Fragen orientieren sich die Macher des Gay Travel Index. In der gerade veröffentlichten Ausgabe für 2018 schneidet Kanada am besten ab, Deutschland ist eines von mehreren Ländern auf Platz drei.

Wer Russland finden will, muss auf die vorletzte Seite der Liste runterscrollen – dahin, wo die Ländernamen rot hinterlegt sind. Da kann Alexei Smertin noch so sehr betonen, dass LGBT-Fußballfans ohne Sorgen zur WM kommen können. Solange hier so viele Fans schwulenfeindlich sind und Fußball-Offizielle unwidersprochen Hass-Sprüche raushauen können, hat Russland seinen 157. Platz leider verdient.

⚽ Zum Schluss noch ein bisschen Wolfscontent: Alma lebt im Zoo der WM-Gastgeberstadt Rostow am Don, und neulich haben die Tierpfleger ihr einen Fußball ins Gehege gelegt. Das Ergebnis macht großen Spaß zu gucken, jedenfalls, wenn man das penetrante Musikbett ausschaltet.

Etwas gehässig verkauft das Video TV Swesda, der offizielle Fernsehsender des russischen Verteidigungsministeriums. (Doch. Wirklich. Ja. Ich weiß.) „Wölfin zeigt russischer Nationalmannschaft, wie man richtig Fußball spielt“, heißt dort die Überschrift.

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Eh wir uns verabschieden noch schnell die Lösung für ein Problem, das euch sicherlich auch schon länger beschäftigt: Russball gibt es bekanntlich nur einmal in der Woche, das reicht natürlich nicht, wenn man jeden Tag was Neues über das Fußball-Land Russland lesen will.

Darum blogge ich ab sofort für die Kollegen drüben bei n-tv einen täglichen WM-Countdown – ein Format, auf das ich mich schon deshalb freue, weil man da auch mal etwas mehr in die Tiefe gehen kann als in einem Newsletter. Was wir mit dem Countdown genau vorhaben, steht hier, die erste richtige Folge erscheint dann im Laufe des Mittwochs hier.

Wenn es Themen gibt, zu denen ihr dort etwas lesen wollt: Sagt gerne Bescheid!



 

Mein kleiner, roter Koffer: Aeroflot ändert zweimal in einem Monat seine Handgepäck-Regeln

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Diese Geschichte spielt zwar in Russland, aber sie beginnt in China. Dort habe ich Ende 2012 nach ein paar Monaten in Peking gemerkt, dass auf dem Rückflug nach Deutschland nicht alles in den Koffer passen würde. Kurz darauf stand ich in einer Markthalle einem Verkäufer gegenüber, der die Vorzüge eines kleinen, roten Hartschalenköfferchens demonstrierte, indem er mit beiden Füßen darauf rumhüpfte: Sehen Sie mal, wie robust der ist!

Stimmt. Als Handgepäck ist der kleine Trolleykoffer seitdem mit mir in alle möglichen Länder gereist, mit allen möglichen Fluglinien, auch Aeroflot. Wir waren zusammen in London und in Bischkek, in Dänemark und Dubai, in Irkutsk und in Israel. Die Gurte innendrin sind ein bisschen leierig, aber die Hartschale weiterhin hart. Es hätte ewig so weitergehen können. Dann dachte sich jemand bei Aeroflot etwas Neues aus.

Reise mit einer russischen Fluglinie, und du lernst eine völlig neue Definition des Begriffs „Handgepäck“ kennen: Während ich den roten Koffer und meine Jacke ins Klappfach über den Sitzen schiebe, verstaut der Sitznachbar: einen Koffer, zwei Plastiktüten aus dem Duty-Free-Shop, einen Blumenstrauß, eine Reitgerte, ein Paar Stiefel, einen Reithelm, einen Ledersattel, vier Ballen Heu und ein leise vor sich hin wieherndes Shetlandpony. Wer da zu spät kommt, den bestraft der Platzmangel.

Kein Wunder also, dass Aeroflot da was ändern will und ankündigte: 1. Ab Mitte Februar nur noch ein Stück Handgepäck (plus Handtasche, das bleibt). 2: Das Handgepäck darf nur noch 40 x 55 x 20 Zentimeter groß sein. Zollstock ans rote Köfferchen: 22 cm. Bei Lufthansa dürfte er 23 haben, bei British Airways und vielen anderen Fluglinien 25. Anders gesagt: Fünf Reisejahre lang hat niemand uns getrennt, nun stehe ich in Moskau am Flughafen, und ein Aeroflot-Kontrollmann sagt: Nein, stop, das müssen Sie aufgeben, das ist kein Handgepäck. Ja, auch wenn die Kollegin beim Check-in den Trolley gerade durchgewunken hat – zurück auf Null, noch mal von vorne in die Schalterschlange.

Mit dem Ärger, der bei der zweiten Runde Anstehen im Bauch grollt, bin ich nicht allein. Als erstes haben sich Russlands Musiker gegen die neuen Regeln gewehrt – und eine Sonderregelung für sich erkämpft. In einer Moskauer Facebookgruppe für Journalisten beraten vor allem die Fernseh- und Fotokollegen, welche Airline in Sachen Kamera und Stativ im Handgepäck entgegenkommender sind. Und bei Twitter und Facebook bekommt Aeroflot die volle Breitseite an Fragen und Beschwerden ab – und antwortet dort oft eher ungelenk.

Nach dem Doppel-Check-in ist genug Zeit, ein Beschwerdeformular auf der Aeroflotseite auszufüllen. Kurzfassung: Ich verstehe, dass ihr weniger Handgepäck-Stücke zulasst. ich verstehe nicht, warum eure Größenvorgaben unter denen der Konkurrenz liegen. Sollen eure Passagiere sich jetzt ein neues Köfferchen kaufen, nur für Aeroflot-Flüge? Abgeschickt, rein in den Flieger nach Deutschland und eine Woche lang Wichtigeres getan: Mit der Familie den 80. Geburtstag der Lieblingstante feiern. Freunde besuchen. Von Patenkind 1 hören, wie es nach der Grundschule weitergeht. Mit Patenkind 2 eine seiner ersten Skatrunden spielen. Patenkind 3 die subtile Frage nach eventuell mitgebrachten Geschenken beantworten. Visumskram. Arztkram. Kramkram.

Auch Aeroflot scheint die Zeit gut genutzt zu haben: In der Woche zwischen meinem Hin- und Rückflug hat es die neue Regel wieder abgeschafft, jedenfalls den Teil mit den Koffermaßen. Oder, wie es in der Antwortmail auf meine Beschwerde heißt: Zwei lange Absätze „Warum die neue Regeln gut und richtig sind“, gefolgt von einem kleinen Absatz „…aufgrund der hohen Zahl von Nachfragen unserer Passagiere nach einer Änderung der Maße für Handgepäck (…) gelten nun 55 cm Länge, 40 cm Breite und 25 cm Höhe.“

Nach zwei Wochen (und was wird eigentlich aus all den Gebühren, die Passagiere in dieser Zeit unverhofft für ein zweites Gepäckstück zahlen mussten?) nun das große Zurückrudern. Wir werden also weiter zusammen reisen können, auch bei Aeroflot – der kleine, rote, chinesische Koffer und ich. Nur der Typ mit dem Shetlandpony – der hat weiterhin ein Problem.

Russball, Folge 30: WM-Flugtickets für 5 Rubel (aber nicht für euch)

Russball kscheib Suus Agnes 2 signedFaule Journalisten fangen ihre Reportagen ja gerne damit an, dass sie an irgendeinem Ort ankommen und dann erst mal ausgiebig ihren Taxifahrer zitieren. Der erste Russe, mit dem ich mich 2018 unterhalten habe, war ebenfalls ein Taxifahrer – er hat uns auf einen Hügel am Rand von Murmansk gefahren, von wo aus man das Nordlicht sehen konnte. Viel Warten, viel Hochgucken, und dann plötzlich: ein grünes Leuchten am Himmel, das langsam intensiver wird. Einatmen. Ausatmen. Staunen.

Als wir genug nach oben geguckt hatten, gönnte uns der Taxifahrer auf dem Heimweg noch einen Blick in die Zukunft: „Natürlich bin ich mir nicht komplett sicher – aber zu 99,9 Prozent werdet ihr dieses Jahr wieder Weltmeister.“ Für so einen schmeichelhaften WM-Orakelspruch ist hoffentlich auch der „Journalist zitiert Taxifahrer“-Einstieg ausnahmsweise okay.

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⚽  So kann’s gehen: Letzten Mittwoch die neue Russball-Folge veröffentlicht, in der Witali Mutko ankündigt, sein Amt als Chef des russischen Fußballverbandes ruhen zu lassen. Und dann kommt ein paar Stunden später die Meldung, dass Mutko auch als Leiter des WM-Organisationskomitees abtritt. Habt ihr sicherlich alle mitbekommen, darum eher der Vollständigkeit halber hier noch ein Link mit den Details.

⚽ Russischer Fußballfan müsste man sein, dann könnte man zu den WM-Spielen der eigenen Mannschaft für nur 5 Rubel – also 7 Cent – anreisen. Mit dem Flugzeug, wohlgemerkt, und auch nicht mit irgendeinem dubiosen Billigflieger, sondern mit Aeroflot. 70.000 solcher Tickets will der Staatskonzern zur Verfügung stellen – oder auch mehr, je nachdem, wie weit Russland im Turnier kommt. Eh einer fragt: Nein, das ist keines dieser Angebote nach dem Ryanair-Prinzip, wo zum Ticketpreis dann noch Gebühren für Gepäck, Kreditkartennutzung, Sitzplatzwahl und Essen an Bord anfallen. In den 5 Rubeln sind bereits alle Gebühren drin, verspricht Aeroflot. Wie das neue Angebot publik gemacht wurde? Bei einem öffentlichkeitswirksamen Gespräch zwischen Vorstandschef Witali Saweljew und Russlands Präsident Wladimir Putin. Der möchte schließlich im März wiedergewählt werden – da gibt es vorher Geschenke an die Wähler, bis hin zu Ticket-Schnäppchen. Den ganzen Wortlaut des Gesprächs („Können die Fans nicht einfach umsonst fliegen?“ – „Nein, aber…“ – „Ich weiß! Für einen Rubel“ – „Nein, aber…“) kann man hier nachlesen.

Aeroflot-Chef Saweljew im Gespräch mit Wladimir Putin (Foto: Kremlin.ru)
Aeroflot-Chef Saweljew im Gespräch mit Wladimir Putin (Foto: Kremlin.ru)

⚽ Preisfrage: Welche Heimatstadt eines deutschen Bundesligisten wird hier beschrieben? „In XY leben mehr als 500.000 Menschen. Für junge Leute gibt es hier nichts zu tun, also ziehen sie zum Studieren und Arbeiten in respektablere, lebendigere Städte wie Düsseldorf, Berlin oder Frankfurt.“ Liebe Dortmunder, ihr seid gemeint! So stuft euch jedenfalls Witali Subzow ein, der für Sports.ru recherchiert hat, wie man auch bei fast ausverkauftem Stadion noch an Karten für ein BVB-Spiel kommt.

Das Touristen-Paket – mit Ticket, Unterkunft, Begrüßungsmappe, Eintritt ins BVB-Museum und weiterer Bespaßung – scheint Subzow sehr beeindruckt zu haben. Selbst die Stadionwurst („exzellente Qualität“) wird lobend erwähnt. Alles in allem liegt ein Hauch des Staunens über Subzows Erlebnisbericht. Selbst Russlands Top-Mannschaften spielen nur selten vor ausverkauften Stadien. Und hier, in dieser wenig respektablen, wenig lebendigen Stadt, gehen die Eintrittskarten „schneller weg als das neue iPhone oder Turnschuhe von Kanye West.“ Entsprechend bringt der Autor seinen Lesern dann auch noch ein deutsches Wort bei: „ausverkauft“.

⚽ In Russland ist ja nicht Weihnachten, sondern Neujahr das Fest, wo man mit der Familie um einen festlich geschmückten Baum sitzt und Geschenke auspackt. Das nur für den Hinterkopf, damit klar ist, warum diese Neujahrs-Videos von ZSKA Moskau für unseren Geschmack so weihnachtlich aussehen. Inhaltlich sind sie jedenfalls eine Übung in Selbstironie. An einer Pinnwand sollen die Spieler Zettel mit ihren Plänen und guten Vorsätzen für 2018 anbringen. Pontus Wernbloom, bekannt für sein Temperament, will seine Selbstbeherrschung verbessern – hat ja auch direkt super geklappt:

Der Brasilianer Vitinho möchte gerne für die Nationalmannschaft spielen – schon erscheint ein Mitspieler und winkt mit einem russischen Pass. Auf dem Zettel von Trainer Wiktar Hantscharenka steht „Stürmer kaufen“ – ZSKA-Präsident Jewgeni Giner nimmt den Zettel grinsend wieder ab. Und was passiert, wenn dein Plan fürs neue Jahr „Kapitän werden“ heißt – und dann kommt der aktuelle Kapitän vorbei, während du gerade den Zettel an die Wand pinnst? Auftritt Alexander Golowin und Igor Akinfejew:

⚽ Auch Jewgeni Sirjankin, Fußballexperte von Sport Express, hat seine Neujahrswünsche aufgeschrieben. Ganz oben auf der Liste steht selbstverständlich das Thema Fußball-WM. Der Wunsch, der sich da in Großbuchstaben manifestiert, ist so realistisch, dass es schon fast Satire ist: „RUSSLANDS NATIONALMANNSCHAFT ERREICHT DAS VIERTELFINALE DER WELTMEISTERSCHAFT“ – “!!!111!!!!einself!!”, möchte man hinzufügen.

„Wenn dieses Wunder geschieht“, schreibt Sirjankin weiter, „kann sich die Nationalmannschaft schon zu den Siegern des Turniers zählen. Denn darüber hinaus gibt es nur noch die unerreichbaren Sterne.“ Glücklich der Fan, der seine Wünsche so auswählt, dass sein Team sie auch erreichen kann.

⚽  Wer Moskau von seiner besten Seite sehen will, muss rauf auf die Sperlingsberge. Zur einen Seite die Moskauer Lomonossow-Universität (MGU), ein Prunk- und Prachtstück im stalinistischen Zuckerbäckerstil. Zur anderen Seite die Aussicht runter auf die Stadt, mit so gut wie allen Sehenswürdigkeiten auf einen Blick. Wenn wir Besuch in Moskau haben, fahren wir oft abends dort hoch, weil das Panorama im Dunkeln besonders schön ist.

Der perfekte Ort also, um dort während der WM eine Fan-Zone einzurichten, oder? Kommt drauf an, wen man fragt. Viele Studierende der MGU sind alles andere als begeistert von der Idee, einen Monat lang jeden Tag Remmidemmi direkt vor der Haustür zu haben – zumal das Unigebäude nicht nur aus Hörsälen, Seminarräumen und Büros besteht, sondern zu einem großen Teil auch Studentenwohnheim ist. Krach, Verkehrskollaps, Störungen beim Vorlesungsbetrieb, betrunkene Fans – auf einem Flyer haben die Gegner der Fan-Zone ihre Sorgen aufgelistet.

kscheib russball studenten protest MGU fanzoneMehr als 10.000 Nutzer informieren sich bei VKontakte über den Protest. „Ich weiß gar nicht, was mich mehr nervt – die eigentlichen Beeinträchtigungen selbst, oder die Achtlosigkeit und der Mangel an Dialog. Wahrscheinlich eher letzteres,“ sagt Michail Schirjajew, der Fußballfan ist, an der MGU Materialwissenschaften studiert und den Protest mit organisiert. Nur die Universitätsleitung sei in die Pläne von WM-Organisatoren, Stadt und FIFA eingebunden gewesen. Wie andere Studierende zu der Fan-Zone vor ihrer Haustür stehen, und wie die Planer ihr Projekt verteidigen, hat Sports.ru gegenübergestellt.

⚽ Endlich steht fest, welche russischen Fernsehsender die WM übertragen werden: Das Konsortium „2 Sport 2“ hat die Rechte gekauft, es vertritt drei Sender, darunter den erst vor ein paar Jahren gegründeten Sport-Kanal „Match TV“. 32 Millionen Dollar sollen die Rechte gekostet haben – ziemlich wenig, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die FIFA dafür ursprünglich 120 Millionen haben wollte. Der Hollywood Reporter verspricht eine Erklärung unter der Überschrift: „Why Russian Networks Got Soccer World Cup Rights for a Fraction of the Asking Price“. Im Text dann: keine Erklärung, nur der Hinweis, dass die russischen Geschäftspartner nun mal nicht mehr bezahlen wollten. Soso. Aha.

⚽ Amkar Perm kämpft ums Überleben. Dem Erstliga-Club fehlt das Geld, so einfach ist es, aber dann auch wieder nicht. Denn hinter den Sorgen des Vereins steckt auch ein strukturelles Problem im russischen Vereinsfußball: Viele Mannschaften gehören bis heute dem Staat – sei es direkt, oder durch einen Staatskonzern. In Perm ist es die Regionalregierung, die wiederum hat seit Jahresbeginn einen neuen Sportminister, und der will lieber in den Breitensport investieren als in einen Verein, der irgendwo unten in der Erstligatabelle rumdümpelt.

Bricht einem Verein, der in Privatbesitz ist, ein Investor weg, dann macht er sich auf die Suche nach einem neuen. Amkar Perm hat diese Option nicht, es gibt schließlich keine zweite Regionalregierung mit zweitem Haushalt und zweitem Sportminister. Bis zum 11. Januar, so die Vereinsführung, müsse die Finanzierung für die Rückrunde stehen. Sonst werde der für den Tag geplante Abflug des Teams ins Trainingslager abgesagt. Stand Ende Dezember gab es immerhin noch Verhandlungen zwischen Verein und Regierung.⚽ Zum Schluss noch was Historisches. Es geht um einen Putschversuch, nicht allzu lange nach dem Ende der Sowjetunion. Ein sportpolitischer Staatsstreich, quasi: Kurz vor der Weltmeisterschaft in den USA forderten 14 Spieler der russischen Nationalmannschaft einen neuen Trainer – auf ganz großer Bühne, per offenem Brief an Boris Jelzin.

Die Geschichte war mir komplett neu, und sie ist so interessant, dass man sogar den ziemlich krautigen Stil verzeihen kann, in der Russian Football News sie erzählt. Einfach beim dritten Absatz einsteigen, wo es um den Begriff „Refusenik“ geht, und ein Stück postsowjetischer Sportgeschichte nacherleben.

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Ach so, mein Neujahrswunsch ist übrigens: Falls ihr dass Gefühl habt, das Russball euch gut informiert, unterhält oder gar beides, dann sagt das doch gerne weiter – dem Kollegen am Nebentisch, der Freundin auf dem Bolzplatz oder einfach den Followern bei Twitter. Ich mach das hier gerne und freue mich über jeden, der mitliest. Bis dann!



Russball, Folge 11: Russische Fußballstadien und ihre Probleme

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Es ist die erste Russball-Folge nach dem Urlaub, darum erst einmal danke für all die positiven Rückmeldungen zur zeitlosen, hintergründigen Ausgabe letzte Woche! Und, weil Fragen kamen: Ja, demnächst blogge ich auf jeden Fall auch über die Zeit in Kirgistan, es war wirklich beeindruckend dort. Fußball kam allerdings nur am Rande vor, mit einem abendlichen Flutlicht-Match in einem Fußballkäfig in Bischkek – Fotos hier und hier.

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⚽  Zum Start eine Folgeempfehlung: James Ellingworth, der für AP über Sport in Russland schreibt, tingelt gerade die Gastgeberstädte der Fußball-Weltmeisterschaft im kommenden Jahr ab. Die Fotos, die er von dieser Tour twittert, geben einen guten Eindruck von den WM-Vorbereitungen. Außerdem bekommt, wer James‘ Tweets liest, die Chance, sich schon mal auf die Tücken des Pressezentrums im Stadion von Jekaterinburg vorzubereiten. Also, Folgen lohnt sich.

⚽  Letzte Woche ging es hier um die endlosen Reisen, die Mannschaften der FNL (Russlands zweiter Liga) auf sich nehmen müssen, weil das Land so groß und die Stadien entsprechend weit von einander entfernt sind. Für viele Vereine ein großes finanzielles Problem.

Nun hat Russian Football News nachgelegt und macht – in epischer Länge – Vorschläge, wie man die FNL reformieren und das Problem lösen könnte. Knackpunkt wäre eine geographische Aufteilung, wie man es aus dem Eishockey kennt: Sowohl die NHL als auch die KHL funktionieren ja nach dem Prinzip regionaler Konferenzen.

⚽  Warum bekommt ZSKA Moskau sein schickes neues Stadion nicht voll? Am sportlichen Erfolg kann es nicht liegen, es ist einer der russischen Spitzenvereine, und das schon länger. Nach der Analyse von Sports.ru tragen viele Faktoren dazu bei, dass in der WEB-Arena so viele Plätze frei bleiben: Vergleichsweise hohe Ticketpreise. Undurchschaubare, immer wieder neue Regeln beim Ticketkauf. Ein langweiliger, zu klein geratener Fan-Shop. Rucksäcke, die nicht ins Stadion mitgenommen werden dürfen, müssen umständlich abgegeben werden – mit langen Wartezeiten beim Abholen nach dem Spiel.

Die offiziellen Begründungen des Vereins für leere Tribünen klingen dagegen ganz anders: „Heute ist es heiß, alle sind auf die Datscha gefahren“ (29. Juli) – „Mittwoch ist halt ein Werktag“ (2. August) – „Es ist Urlaubszeit, da haben viele die Stadt verlassen.“ Klar, dass dazu den Fans anderer Teams einiges an Gefrotzel einfällt: „Die Fans von ZSKA sind das ganze Jahr auf der Datsche.“

⚽  Anderes Stadion, andere Probleme: Das neue Krestowski-Stadion in St. Petersburg soll ein Prestigeprojekt sein, stattdessen regnet es rein, immer wieder. An Spieltagen posten regennasse Fans Videos von immer neuen undichten Stellen. Nun, endlich, wissen wir, wer schuld ist: der gemeine Kormoran.

So hat das jedenfalls Vizegouverneur Igor Albin in einem Interview hergeleitet: Das Stadiondach sei mit einem wasserabweisenden Schutzfilm bedeckt, der zwar bis zu 400 Kilo Gewicht pro Quadratmeter tragen kann, aber keinen Vogelschnäbeln widerstehen. Der „berühmte Vogel“ Kormoran mit seinem „mächtigen Schnabel“ macht also laut Albin die Fans nass, weshalb das Stadion nun, ähnlich wie ein Flughafengelände, gegen Vögel gesichert werden soll.

⚽  Dieses Jahr der Confed-Cup, nächstes Jahr die Fußball-WM – was bedeutet das für Russlands Wirtschaft? Die Hotelbranche blickt zurück und ist unzufrieden: Bis zu 90 Prozent Auslastung waren während des Confed-Cups angepeilt, die tatsächlichen Zahlen lagen deutlich niedriger. Das lag möglicherweise daran, dass das Turnier nicht allzu viele ausländische Fans angelockt hat. Denn wer innerhalb Russlands zu einem Match anreist, bei dem ist die Chance größer, dass er direkt im Anschluss wieder heimfährt, ohne Übernachtung vor Ort.

Andererseits meldet der Flughafen in Sotschi – wo während des Confed-Cups die deutsche Mannschaft drei Spiele austrug – einen deutlichen Anstieg bei den Passagierzahlen. So richtig lukrativ dürfte die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr vor allem für Aeroflot werden. Russlands staatliche Fluglinie hat vorsorglich schon mal die Preise für Flüge von Moskau zu diversen Austragungsorten erhöht, und zwar deutlich: Flugtickets nach Wolgograd kosten künftig sechsmal mehr, nach Rostow am Don viermal mehr. Es lohnt sich also erst recht, sich rechtzeitig um eines der kostenlosen Zugtickets für WM-Besucher zu kümmern.

⚽  Neulich war hier schon mal die Rede davon, dass Russlands Nationalmannschaft ein Freundschaftsspiel gegen Dynamo Moskau plant. Nun wissen wir, dass auch ein Spieler des 1. FC Köln zum Kader gehören wird: Konstantin Rausch, geboren so gerade noch in der Sowjetunion. „Dynamik, Tempo und Spielwitz waren genau die Attribute, der der russischen Mannschaft beim Confed Cup im Sommer immer wieder gefehlt hatten“, begründet der Kicker die Auswahl – und was sagen die russischen Medien zum Neuzugang im Kader?

Argumenty i Fakty erwähnt, dass Rausch „meist als linker Verteidiger oder im linken Mittelfeld spielt, RBK zählt seine Karrierestationen auf, einschließlich Fritz-Walter-Medaille. Und Sport Express hat nicht nur bei Instagram grandiose Fotos des „deutschen Sibiriers“ ausgegraben, sondern verweist auch auf ein Interview mit Rausch aus dem Jahr 2016. Schon damals hatte er gehofft, sich durch gute Leistungen in Köln für einen Platz im russischen WM-Kader zu empfehlen.

⚽  Zenit St. Petersburg hat besser als viele andere Vereine verstanden, wie Social Media funktioniert: kleinteilig, nah am Fan, nicht nur aufs Sportliche konzentriert, sondern auch mal verspielt. Besonders hübsch war unlängst dieser Tweet, mit dem der Verein für seine 200-Rubel-Tickets beim Spiel gegen Rostow warb:

https://twitter.com/fczenit_en/status/898537927478784001

⚽  Ein Zückerchen für alle, deren Sehnsucht nach Fußballstatistik mit so profanen Informationen wie gelaufenen Kilometern einzelner Spieler, Ballbesitz-Anteilen beider Teams oder deren Chancenverhältnis noch lange nicht gestillt ist. Es geht um die Frage, welcher russische Verein die jüngste Mannschaft stellt.

Wer nun glaubt, da müsse man ja nur das Alter der Spieler addieren, dann durch die Zahl der Spieler teilen, der darf sich schon mal seine Buntstifte nehmen und das hier ausmalen. Schön leise, ja? Die Erwachsenen lesen unterdessen hier weiter: das Durchschnittsalter russischer Fußballmannschaften, gewichtet danach, wie viele Minuten jeder Spieler in der bisherigen Saison auch tatsächlich eingesetzt wurde.

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Das Schlusswort gehört diese Woche Artur Jussupow. Der russische Nationalspieler, der im Moment von Zenit an Rostow ausgeliehen ist, wurde gefragt, wie er zur geplanten Neuregelung in Sachen Fußball-Legionäre steht. (Russlands Fußball-Offizielle wollen sich im September mit dem Thema befassen.) Seine Antwort schafft es, ein Seitenhieb gegen gleich zwei Vereine zu sein: „Ohne eine Begrenzung für Legionäre würden bei Zenit elf Argentinier spielen, bei Spartak elf Brasilianer, und die beiden würden die Meisterschaft unter sich ausmachen.“

Wenn euch diese Folge gefallen hat, freu ich mich, wenn ihr es euren Freunden und Kollegen sagt. Mehr Russball dann wieder in einer Woche – bis dann!