Russball, Folge 38: Fußball bei eisigen Temperaturen

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Was man so macht bei einer Kältewelle in Russland: Erst mal angrillen. Neben dem Gefühl, zu den ganz Harten zu gehören, nehme ich auch eine Erkenntnis mit: Irgendwann ist es so kalt, da beginnt sogar der russische Supergrillanzünder (Mit Kirscharoma! Und ner halbnackten Frau auf der Flasche!), langsam zu gefrieren. Wer den so entstandenen Slushie auf die Kohle kippt, läuft Gefahr, mit Grillanzünder das Feuer zu löschen – und damit die Ironieschallmauer zu durchbrechen.

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⚽ Was das mit Fußball zu tun hat? Viel, denn an diesem Wochenende ist nach 80 langen Tagen die russische Winterpause vorbei. Endlich wieder Liga-Fußball! Glückliche Fans rennen in die Stadien – am Sonntag bei vorhergesagten 6 Grad unter null zum Beispiel zum Lokalderby zwischen Lokomotive Moskau und Spartak. Für die Begegnung versprach Loko-Präsident Ilja Gerkus gestern schon einen Rekord mit Ansage: „Fünf Tage vor dem Spiel (…) sind mehr als 85 Prozent der Eintrittskarten verkauft. Wir können schon jetzt sagen, dass wir bei den Einnahmen aus diesem Spiel einen neuen Vereinsrekord aufstellen werden.“

Loyale Fans in Ehren, ganz unumstritten sind Fußballspiele bei Minusgraden in Russland aber nicht. Lutsch-Energija Wladiwostok zum Beispiel muss heute Abend gegen den FK Tosno ran, auch das voraussichtlich bei Temperaturen deutlich unter null. Für Trainer Aleksandr Grigoryan bedeutet das nichts anderes, als willentlich die Gesundheit von Spielern und Fans aufs Spiel zu setzen. „Was ist das für ein Fußball, wenn sich die Leute die Zehen abfrieren? (…) Fußball soll Freude bringen und keine Folter sein.“ Irgendwann, ist sich Grigoryan sicher, werde ein Spieler sich schwer verletzen oder erkranken, und dann müsse jemand die Verantwortung übernehmen.

⚽ Apropos Winterwetter: Bei Zenit St. Petersburg hatten sie sich ja ein schönes Trainingslager in Italien einfallen lassen. Flucht aus dem kaltfingerigen Würgegriff von Väterchen Frost, ab in den Süüüüden. Hat ja auch super geklappt. Nicht.

⚽ Wenn sie aus Italien zurück sind, müssen die Zenit-Jungs dann am 8. März gegen RB Leipzig ran. Da lohnt sich doch ein Blick darauf, was russische Fußballfans aus der örtlichen Fachpresse über den Europa-League-Gegner der Petersburger erfahren. Zenit-Trainer Roberto Mancini betreibt schon mal Erwartungsmanagement und spricht von einem „jungen Team mit viel Erfahrung“, das ein sehr schwieriger Gegner sein werde.

Alexander Bubnow von Sport FM hält dagegen: Im Vergleich zur letzten Saison sei Leipzig diesmal deutlich schwächer, mit 100 Prozent Einsatz könne Zenit das deutsche Team also schlagen. Als „gut organisierte, disziplinierte Mannschaft, die ergebnisorientiert spielt“ wird Leipzig anderswo beschrieben, für Fußballverhältnisse sei der junge Klub „noch ein richtiges Kleinkind“. Und Sport Express fasst zusammen: „Aktives Pressing (…), schneller Wechsel von der Verteidigung zum Angriff und viel Kombinationsspiel – in seiner aktuellen Form ist Leipzig sehr stark.“

⚽ Gerade ist in der Hauptstadt wieder ein großes Infrastrukturprojekt abgeschlossen worden, seit Montag hat Moskaus ohnehin riesiges Metronetz fünf neue Haltestellen. Auf diesem Bild sind sie als kurze, türkisfarbene Linie dargestellt:

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Vom Delowoi Zentr, der Haltestelle unter den Hochhäusern von Moscow City, kommt man nun also schneller zu den Stationen ZSKA und Petrowski Park/Dynamo. Anders gesagt: zu zwei Moskauer Fußballstadien, in denen bei der Fußball-Weltmeisterschaft nun so gar keine Spiele stattfinden. (Dynamo ist im Moment sogar nur eine große Baustelle.) Andererseits: Einem U-Bahn-System, mit dem an Spitzentagen knapp zehn Millionen Menschen unterwegs sind, tut jede Entlastung gut – erst recht im Stadtzentrum. Und wenn das Dynamo-Stadion wirklich so schick wird, wie sich das in diesem Video andeutet, dann lohnt es sich für WM-Touristen auch, da ohne Spiel einfach mal vorbeizuschauen.

⚽ Wenn das mal keine Knaller-Überschrift ist: „Russische und ausländische Fans dürfen psychotrope Substanzen zu WM-Spielen mitnehmen“. Substanz ist dann aber genau das, was dem eigentlichen Artikel fehlt. Es geht, schlicht gesagt, um Menschen, die von ihrem Arzt zum Beispiel Cannabis verordnet beommen haben. Die dürfen, wenn sie einen beglaubigten Schrieb vom Arzt dabei haben, dieses Cannabis auch im Stadion dabeihaben, jedenfalls in einer für Medizin üblichen Menge.

Was anfängt wie eine Skandalmeldung, ist Ende für fast alle Leser egal – und für einige Menschen mit Multipler Sklerose oder chronischen Schmerzen die Möglichkeit, trotz ihrer Erkrankung ein WM-Spiel zu sehen. Aber das ist natürlich sehr viel weniger spektakulär als die urprüngliche Überschrift.

⚽ Nun findet ja jeder andere Dinge attraktiv, aber: Täusche ich mich, oder ist „durchtrainierter Fußballspieler mit ambitioniertem Bart sitzt halbnackt auf seinem zerwühlten Bett und baut an einem Modellboot“ schon eine ziemlich spezifische Nische? Championat.com besetzt sie aktuell mit einem großen Interview mit Maksim Beljajew, der sich ansonsten vor allem über seine Liebe zu Büchern auslässt und in Moskaus größtem Buchladen fotografiert wurde.

Beljajew, der seine Karriere bei Lokomotive Moskau begann und aktuell bei Arsenal Tula spielt, spricht über Agatha Christie, J.R.R. Tolkien, Jules Verne und die Scifi-Romanreihe „Metro 2033“. Und wenn er dazwischen so Klopper raushaut wie „Wir brauchen einen Alleinherrscher, der alles kontrolliert, sonst gibt es Chaos“, dann scrollt man halt drei Zeilen weiter: Ob er am 18. März zur Wahl gehen wird, will der Interviewer wissen – och nö, sagt Beljajew, eher nicht, da ist bestimmt irgendwas, ein Fußballspiel oder so. Aber wenn irgendwie doch, dann natürlich Putin. Ach ja. Alleinherrscher. Dann passt’s ja.

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Zum Schluss noch was für euren Kalender: Gerade hat Russlands Nationalelf ihre Länderspielplanung fürs restliche Jahr veröffentlicht. Nach der WM im eigenen Lande ist erst mal Pause bis September, dann folgen bis Jahresende sechs Begegnungen. Eine davon wollt ihr euch vielleicht schon mal notieren: Am 15. November kommen die Russen zu einem Spiel nach Deutschland.

Sobald bekanntgegeben wird, in welcher Stadt die beiden Nationalmannschaften gegeneinander antreten, erfahrt ihr’s hier. Und falls ihr Freunde habt, die das auch interessiert, können sie sich hier für den Russball-Newsletter anmelden. Bis nächste Woche, macht’s gut!



 

Das Problem am Winter in Russland

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Das Problem am Winter hier in Russland sind halt die Temperaturen. Es ist einfach zu warm.

Zu warm in der Metro, wenn man 15 Minuten über vereisten Schnee dorthin geschlittert ist, um dann plötzlich mitten im Rolltreppenrudel zu stehen, von heißer Luft umweht und von dem, was man selbst und die Mitreisenden so ausdünsten. Zu warm beim Schaufenstergucken, wenn die Güterabwägung im Kopf so geht: Das da vorne ist eine echt schöne Jeans. Aber dafür jetzt Winterjacke, Fleecejacke, Mütze, Handschuhe, Schal, Halstuch, die Stulpen an den Handgelenken, die Stiefel, die Stulpen an den Knöcheln, die Hose und die Leggings drunter ausziehen? So schön kann keine Jeans sein.

Zu warm ist es auch in der Wohnung, weil die Nachbarn alle bis zum Anschlag heizen – kostet ja nix, oder fast nix jedenfalls. Was hab ich damals die potenziellen Vermieter verwirrt, als ich beim Wohnungssuchen nach den Nebenkosten gefragt habe. Nebenwas? Was will die komische Ausländerin? Ach, Öl, Gas, Strom? Naja, ein paar hundert Rubel halt im Monat, fünf Euro oder vielleicht zehn. Russland ist reich an Ressourcen, die Temperatur wird also reguliert nach dem Prinzip: Heizung läuft immer, zentral angeschaltet, und bei Bedarf kann man ja lüften. Nur seltsame Zugereiste lassen Ventile an die einzelnen Heizkörper dranflanschen, um zumindest die Wahl zwischen an und aus zu haben. Drehknöpfe mit einer Skala von 0 bis 5? Gibt es, sind aber so selten wie Plusgrade im Januar.

Drinnen überheizt, draußen knackig kalt, dazu das extrem harte Wasser. Der Moskauer Winter ist also auch der Grund, warum Haut und Haare hier besonders viel Liebe brauchen. Duschöl statt Duschgel, kein Shampoo ohne Spülung. Bodylotion, Handcreme, Gesichtscreme – zum ersten Mal im Leben besitze ich eine Fußcreme, ja sogar eine Nasencreme, für wenn das Salzwasser-mit-Bepanthen-Spray nicht mehr reicht, um die Schleimhäute halbwegs feucht zu halten. Als eine irische Freundin zum ersten Mal bei uns zu Besuch war, war sie arg perplex von den schwarzen Plastikwürfeln, die in den verschieden Zimmern vor sich hinsummen: „Was sind das, Luftbefeuchter? Bei uns zuhause hat jedes Haus einen Luftentfeuchter!“

Vielleicht ist es dieses Überangebot an Wärme, das uns den russischen Winter dann besonders lieben lässt, wenn er so richtig zeigt, was er kann. Nicht irgendwo um die standardmäßigen -15, nein – da gilt tatsächlich alles, was ich gerade beschrieben habe. Aber dann, wenn die Minusgrade in den Zwanzigern oder gar Dreißigern liegen, wird es interessant. Du trittst vor die Haustür und merkst, wie die Feuchtigkeit in der Nase gefriert. Du willst Fotos vom Roten Platz im Winter machen, aber nach einer Minute fühlst du deine Fingerspitzen nicht mehr (und kurz darauf stirbt ohnehin der Akku). Du stapfst eine halbe Stunde durch den Schnee, den Schal bis vor den Mund hochgezuppelt, so dass die ausgeatmete Luft am Stoff gefriert – und fühlst dich hinterher wie ein Held, während du im Café wartest, dass die Oberschenkel aufhören zu prickeln.

So ein Wetter hatten wir in den ersten Tagen dieses neuen Jahres, und was haben wir es genossen! Sind mit dem Zug ins Moskauer Umland gefahren, um dort an kleinen Kirchen vorbei durch noch mehr Schnee zu stapfen. Haben im Gästezimmer Käpt’n Blaubär vom Fensterrahmen losgeeist, an dem er leider mit seinem flauschigen Hintern festgefroren war. Waren in eisigster Winternacht in der orthodoxen Weihnachtsmesse. Haben wilde Experimente mit gefrierenden Seifenblasen, Schnee aus kochendem Wasser und einem steif gefrorenen Handtuch gemacht.

Ein großer Spaß, auch wenn wir permanent drei Handys dabei haben mussten zum Filmen, weil bei 30 Grad unter null eben nach wenigen Minuten der Akku entscheidet, dass jetzt aber auch genug ist. Wir hätten gerne noch mehr probiert – ob man mit einer gefrorenen Banane tatsächlich einen Nagel in die Wand schlagen kann zum Beispiel. Gestern Abend hatten Patenkind 3 und sein großer Bruder noch Wünsche angemeldet, doch sie werden warten müssen: Über Nacht kam der Wetterumschwung, heute bietet Moskau nur noch einstellige Minusgrade.

Es ist einfach zu warm.