Zehn Threads, um schlauer aus dieser Woche rauszugehen als rein

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Ein Ding, das Twitter in diesen Tagen noch erträglich, ja oft sogar lohnend machen, sind für mich Threads. Nicht die rantigen, nicht die, in denen irgendwelche heißen Stories über die Sitznachbarn im Flugzeug erzählt werden. Nein, ich meine die Threads, in denen Leute, die sich mit einem Thema auskennen, ihr Wissen mit uns teilen. Die Queen, die mit ihren Broschen Signale an Donald Trump schickt, sowas in der Art. Ich hab mal bei Twitter nach Beispielen gefragt, es kamen so einige zusammen.

Erst hatte ich überlegt, einen Thread über solche Threads zu twittern – total meta und so. Aber im Blog hat man dann doch mehr Platz, um jeweils ein paar Sätze zur Einordnung loszuwerden. Darum hier, als Lesefutter für euer Wochenende, zehn Threads, dank derer ihr schlauer aus dieser Woche rausgehen könnt, als ihr reingekommen seid. (Wer sich mit Twitter nicht so auskennt: ein Klick auf jeden der hier eingebundenen Tweets öffnet ihn und zeigt den ganzen Thread dann darunter an.)

1. Die Jugend von heute und von damals

Die aktuell jeweils junge Generation ist natürlich immer die schlimmste aller Zeiten – respektlos, faul, laut und so weiter. Nach einem Artikel in der Times über Millennials als „the lamest generation“, die zu unterrichten angeblich nahezu unmöglich ist, hält Jenny Bann dagegen.

Sie hat historische Quellen dazu ausgewertet, wie sich Studenten im 18. Jahrhundert so danebenbenommen haben. Von „Sänfte mieten und sie dann zerstören“ bis „sich mit dem Chemie-Dozenten über die Frage prügeln, warum Soldaten Rot tragen“ ist so ziemlich alles mit dabei.

2. Kindersoldaten kehren heim

Zehntausende Kinder hat die sogenannte „Lord’s Resistance Army“ (LRA) in Uganda entführt und gezwungen, als Soldaten für sie zu kämpfen. Die Journalistin Sally Hayden sitzt mit im Auto, als drei von ihnen 16 Jahre später zu ihren Familien zurückkehren. Ein berührender Thread, aus dem man viel über die jüngste Geschichte in Uganda lernen kann.

3. Ein Roadmovie mit zwei englischen Adeligen

Tröstlich zu wissen, dass auch im 17. Jahrhundert eine gesellschaftlich herausgehobene Stellung und gesunder Menschenverstand nicht immer zusammengehörten. Damals machten sich nämlich zwei englische Adelige auf den Weg nach Spanien, total inkognito. Also: So inkognito, wie man halt sein kann, wenn man nicht mal ausreichendes Kleingeld für die Fähre dabei hat und daraufhin versucht, ganz lässig mit einem ganzen Goldstück zu bezahlen.

4. Die hellste Oberfläche im Weltall

Diese Mischung aus Weltraum-Nerdtum, Fachwissen und Spaß an Alltagssprache – das ist der Mix, der die Tweets von @DLR_next. so gut macht. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt lässt dort jemanden twittern, der erkennbar Spaß an Wissenschaftskommunikation hat. Von den vielen Threads, die das zeigen, habe ich mir einen vergleichsweise kurzen rausgesucht:

5. Handarbeit und der Untergang einer Dynastie

Was soll ich sagen: Wenn deine Schwägerin dir eine von ihr handbestickte Tasche schenkt, schenk sie halt nicht deinem Liebhaber weiter. Erst recht nicht, wenn der dann dumm genug ist, sie öffentlich zu tragen.

6. Das Tor zur Hölle

Noch ein Geschichtsthema: Im antiken Griechenland war die Stadt Hierapolis berühmt für ihr angebliches Tor zur Hölle. Priester führten Tiere in diese Höhle, die daraufhin innerhalb kürzester Zeit tot umfielen – nicht aber die Menschen, die sie begleiteten. Wie das kam, und warum dort noch immer Vögel tot aus der Luft fallen:

7. Wie unsere Augen lügen

Ein Thread, den ich zweimal lesen musste und dann erst mal googeln: Dieser Mechanismus, der da beschrieben ist, klingt einfach extrem seltsam und unwahrscheinlich. Ist er auch – aber eben auch wahr. Und jetzt weiß ich auch endlich, warum es oft so wirkt, als ob der Sekundenzeiger einer Uhr stehengeblieben ist, wenn man neu auf sie blickt.

8. Ein finnischer Scharfschütze

Marina Amaral, das habe ich beim Zusammenstellen dieser Beispiele gelernt, ist sowas wie die Mutter des historischen Threads. Manche davon, zum Beispiel zu König Edward VII, dem ältesten Sohn von Königin Victoria, ziehen sich über Dutzende von Tweets. Mich hat aber, vielleicht wegen des Russlandbezugs, dieser hier besonders interessiert, in dem sie die Geschichte von Simo Häyhä erzählt.

9. Das gehässigste Fleckchen Erde in ganz New York

„Spite houses“, das Phänomen kannte ich: Häuser, die auf eine bestimmte Art gebaut wurden, um Nachbarn zu ärgern oder die Kirche oder andere Familienmitglieder. Dass aber auch schon ein kleines Dreieck an Grundbesitz ausreichen kann, um auf seinem Standpunkt zu beharren und es den anderen mal so richtig zu zeigen, habe ich aus diesem Thread hier gelernt:

10. Raumfahrt und die Menschen im Altai

Paul Cooper hat weiter oben schon die Geschichte mit dem Tor zur Hölle erzählt, aber was soll’s – der Mann schreibt so großartige Threads, der darf hier auch zweimal vorkommen. Diesmal geht es um das einst sowjetische, heute russische Raumfahrtprogramm. Beim Start einer Rakete von Baikonur fallen die aufgebrauchten Stufen nach dem Start im Altai-Gebirge zur Erde und werden so zu einer Gefahr für die Menschen, die dort leben. (Das beeindruckende Foto ist, wie einige in diesem Thread, von Jonas Bendiksen.)

(Das Foto zu diesem Blogpost zeigt den Saturnmond Enceladus. Quelle: NASA/JPL/Space Science Institute)

So viel rohe Gewalt steckt in einem Spitzenschuh

Vor einigen Wochen habe ich mir ein paar Ballettschuhe gekauft. Spitzenschuhe. Apricotfarbene.

(An dieser Stelle eine kurze Pause, damit alle persönlichen Bekannten ihr Gelächter loswerden können. Das gilt auch und vor allem für Freunde aus Schulzeiten, die sich an meine naturgegebene Grazie und an meinen Enthusiasmus für sportliche Leistungen erinnern – kollektiv manifestiert in einem akuten Schwindelanfall mit Beinahe-Sturz vom Schwebebalken.)

Fertig? Gut. Es ist nämlich so, dass Russland nicht nur ein Land mit großer, glänzender Balletttradition ist, sondern auch die Heimat von Grishko, einem der Hersteller von Spitzenschuhen. Ich wusste das auch nicht, eh ich hierher gezogen bin, dann Besuch von einer ballettkundigen Freundin bekam und inzwischen mit Ballettänzern und -mitarbeitern befreundet bin. Russland, das bedeutet eine schleichende Ballettifizierung des Lebens. Aber auf die Idee, mir selber so ein paar Schuhe zu kaufen, wäre ich bis zu diesem Tag trotzdem nie gekommen.

Die Grishko-Fabrik, die wir uns hier als kleine Gruppe anschauen dürfen, ist zunächst einmal kleiner als das Bild, das man bei „Fabrik“ im Kopf hat. Eine Manufaktur vielleicht? Eine Werkstatt? Jedenfalls wird hier Stoff in diesem speziellen Farbton, den die Firma sich extra hat schützen lassen, zurechtgeschnitten – immer direkt ein ganzer Stapel aufeinanderliegender Stoffbahnen. Es wird genäht, geformt, geleimt, geklopft, getrocknet. Aber das Interessanteste sind die Kirgisen.

Man muss das vielleicht kurz erklären. Grishko ist, wie gesagt, in Russland ein großer Name. Es gibt ganze Ballettcompagnien, die nichts anderes als Grishko-Schuhe an die Füße ihrer Tänzer lassen. Die Frau, die uns durch die Werkstatt führt, erzählt von einer Star-Ballerina am Bolschoi, die in einem Monat mehr als 30 Paar Grishko-Schuhe durchtanzt, weil sie so viel probt und auftritt.

Als wir vor dem Regal mit den Pappkisten stehen, jede schön mit Namensschild, ist mir also völlig klar: Das sind wohl die Namen berühmter Tänzer, für die hier gerade die paar Dutzend Schuhe für den nächsten Monat entstehen.

Grishko Pappkartons Namensschilder

Komplett falsch. Die Namen auf den Pappkisten gehören den Leuten, die hier die Schuhe herstellen. Manche Tänzer, erzählt unsere Werkstattführerin, finden, wenn ein Spitzenschuh besonders gut sitzt, den Namen des Menschen heraus, der ihn – nach vielen anderen Produktionsschritten – fertigstellt und in Form bringt: „Dann bekommen wir eine Bestellung, auf der steht: Unbedingt nur von Meister Soundso.“ Und diese Meister sind, jedenfalls bei Grishko, oft Kirgisen.

Warum, kann keiner so richtig erklären. Gastarbeiter aus Zentralasien sind in Russland keine Seltenheit, aber warum gerade Kirgisen, und gerade in dieser Werkstatt – niemand weiß es. Was man aber wissen kann, und was ich definitiv nicht wusste, ist, dass die Herstellung von Spitzenschuhen nach all dem glänzenden Satinzuschnitt, all den akkuraten Näharbeiten, den pastellfarbenen Bändelchen und sorgfältig aufeinandergeklebten Stoffschichten am Ende vor allem eines braucht: brutale, brachiale Kraft.

Grishko Spitzenschuh 1

Wir haben Glück und stehen daneben, als ein Schuh mit Gewalt in seine endgültige Form geprügelt wird, von einem schlanken, konzentrierten Kirgisen. Auf der Oberfläche der Arbeitsplatte, an der er sitzt, ist an der Ecke eine Metallplatte angebracht. Er nimmt den Schuh, hält ihn mit der Spitze nach unten, hebt ihn mit beiden Armen hoch – und knallt ihn dann mit maximaler Kraft senkrecht auf die Platte.

Grishko Spitzenschuh 2

Stille. Dann nimmt der Meister die Hände weg, und der Schuh bleibt stehen. So muss das sein – eine absolut gerade Fläche an der Spitze des Spitzenschuhs. Nur wenn der alleine stehen kann, darf er auch an den Fuß einer Tänzerin.

Grishko Spitzenschuh 3

Wir gehen dann noch ein bisschen weiter – in die Küche, wo die Blecheimer mit der ramponierten Emaille-Oberfläche noch ganz warm sind von dem Leim, der gerade erst angerührt wurde. Auf dem Fensterbrett liegt eine Katze. Wären nicht so viele fremde Leute da, könnte sie sich wieder gemütlich auf einem Eimerdeckel zusammenrollen. Wir gehen durch einen Raum, in dem ein halbes Dutzend Männer von Hand Nähnadeln durch die Ledersohlen stechen, um sie am Schuh zu befestigen.

Grishko Werkstatt Moskau Näher

Träfe man einen dieser Männer auf der Straße, man würde vermuten, dass er sein Geld als Rausschmeißer verdient, mit einem Nebenjob als einhändiger Sandsackschlepper. Diese Pranken, riesig, rauh und tätowiert. Um die Knöchel dicke Ledermanschetten, damit die Sohle nicht versehentlich an der eigenen Hand festgenäht wird.

Grishko Lederschutz für Knöchel

Zum Schluss noch ein Schlenker durch die Marketingabteilung. Frauen an Tischen, auf manchen steht neben dem Telefon ein einzelner Schuh als Stifteständer. Wer will, darf jetzt noch schnell selbst ein Paar anprobieren – und ganz ehrlich, wer kann das nicht wollen? Ein pastellseidig glänzendes Stück russischer Tradition, entstanden durch Fingerfertigkeit und Muckis?

Grishko Spitzenschuh als Stiftständer

Mit dem Hintern auf dem Stuhl und den Füßen auf dem Boden schmücken die Schuhe ganz ungemein. Aufstehen? Gar auf die Spitze? Schon der Versuch, im Sitzen die Füße auf die Zehenspitzen zu stellen, schmerzt. Es drückt, überall.

Nicht nur, weil die Schuhe so neu sind (Videos, in denen Ballerinas ihre neuen Spitzenschuhe weichklopfen, sei es mit dem Hammer oder gegen eine Wand, sind in Tänzerkreisen ein populäres Genre). Nichttänzerfüße sind den Ansprüchen, die diese Schuhe an sie stellen, einfach nicht gewachsen.

Grishko Schuhe anprobieren

Trotzdem kaufe ich mein Paar nach dem Anprobieren – 500 Rubel, ein Schnäppchen, im Laden kosten sie mindestens das Vierfache. Diese Schuhe werden niemals tanzen. Aber jetzt, wo ich weiß, wie viel Unverhofftes in ihnen steckt, bin ich mir sicher: Auch ihrem neuen Job neben dem Fernseher werden sie gewachsen sein.

Grishko Spitzenschuh mit Fernbedienung