Das Jahr ohne Chor

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Dieses Jahr habe ich in keinem Weihnachtskonzert gesungen – weiß nicht, wann das zuletzt so war. Vielleicht zu Unichorzeiten, wo die Konzerte eher während des Semesters lagen? Sonst aber kenne ich es nicht anders: Wenn andere die letzten Grillparties und Radtouren des Jahres machen, befassen wir Chorsänger uns mit Jauchzet-frohlocket-venite-adoremus-gnadenbringende-jingle-all-the-way-il-est-né-le-tusen-juleljus-i-mnogo-mnogo-radosti.

Diesmal war das anders, und spätestens da habe ich gemerkt, wie sehr mir das dieses Jahr gefehlt hat. Einmal die Woche zusammen runterkommen, ausatmen, einatmen, konzentrieren und Musik machen. Einen Chor finden, das habe ich in so gut wie jeder neuen Stadt stets direkt erledigt, und auch in Berlin habe ich es versucht, aber es war verkorkst. Nicht nur, weil ich zum ersten Mal nicht mehr in einem Alter bin, wo man es bei Chören namens „Junge Stimmen/Klänge/Sänger“ versucht. Oder auch weil ich nach fünf Jahren lustig, laut und legato im Moscow International Choir unsicher war, was ich eigentlich noch kann, so an differenzierterem, komplexerem Musizieren. Irgendwas ist immer dazwischengekommen.

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Anfang des Jahres will die Neue Philharmonie Carmina Burana aufführen, da braucht man gut über 100 Sänger. Wir bewerben uns gemeinsam, S. und ich, nachdem wir schon in Moskau mehrere Jahre lang zusammen Musik gemacht haben. Die Proben sind super – der Chorleiter verlangt viel, justiert permanent nach und hat erkennbar Spaß an den anzüglichen Texten. Und schau, er hat einen Chor – da könnten wir doch über Carmina hinaus mitsingen! Doch leiderleider: Proben zweimal die Woche, dazu Konzertreisen, das schaffen weder S. noch ich. Immerhin bleibt uns, dass wir beide unser erstes Berliner Konzert direkt im Großen Saal der Philharmonie gesungen haben.

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Dann dieser Chor, der in einem der schönsten Kirchen der Stadt probt und so wunderbar klar klingt. Das Repertoire ist anders als alles, was ich bisher kenne, schon nach dem ersten Probenbesuch muss ich Musikbegriffe googeln, die ich noch nie gehört habe. Einige der Sänger komponieren sogar selbst, viele sind musikalisch deutlich fitter als ich, und ich habe total Lust, mich so richtig reinzuhängen und aufzuholen. Nach der Probe stehen wir noch rum, stoßen an, blicken über die Stadt. „Ich kann schon nicht glauben, dass ich hier proben darf“, sagt eine Sängerin, „aber noch weniger, dass ich hier oben Wein trinke.“ Zwei Proben bin ich dabei, finde mich rein, komme schon ganz gut mit – dann kommt die Chorleitung, die vorher auf Reisen war, zurück, und damit hat sich die Sache dann auch erledigt: So unwirsch, so abweisend, so von oben herab – ein Sänger, der unser Gespräch mithört, nimmt mich danach beiseite und sagt Dinge wie „lass dich nicht abschrecken“, „schlechten Tag erwischt“ und „sonst ganz anders“. Mag sein, mag nicht sein. Aber hier bin ich falsch.

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Vielleicht mal melden bei der Singakademie? Vor Jahren habe ich da schon mal mitgesungen, manche musikalischen Erklärungen des Chorleiters sind mir bis heute im Gedächtnis und immer noch hilfreich. Hätte ich damals schon gebloggt, ihr hättet euch einiges anhören müssen hier, über ein Konzert im Berliner Dom und – die Götter wandeln unter uns – einen Workshop mit dem Hilliard-Ensemble. Kurz hingemailt, schnelle, freundliche Antwort: Ja, gerne vorbeikommen, hier ist schon mal das Programm fürs nächste Konzert, und bitte das verpflichtende Probenwochenende beachten. Klar, dass das an einem Termin liegt, den ich nicht freischaufeln kann. Womit sich auch das erledigt hat.

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So geht das bis in den Herbst. Ein Kollege erzählt von seinem Chor, bald beginnen die Proben fürs Weihnachtsoratorium, es ist wieder diese Zeit. Jauchzet, frohlocket, aber bei mir ist die Luft raus. Ich bekomme es nicht mal auf die Reihe, den Chorleiter anzumailen.

Warum es dann doch noch geklappt hat? Facebook-Anzeigen-Targeting. Denn dass dieser „sponsored post“ in meiner Timeline auftauchte, kann nur daran liegen, dass ich ein paar Chor- und Musikseiten in Berlin folge: ein Kammerchor in Kreuzberg sucht Verstärkung, das Reperoire klingt so interessant, dass ich ein Vorsingen ausmache und es – trotz Erkältung, trotz fünf Jahren lustig, laut und legato – hinbekomme. Geprobt wird in einer nicht allzu gut geheizten Kirche, unten im Foyer Kerzen und Adventskranz, auf dem Klo erinnert ein Foto von Greta Thunberg daran, das Licht auszumachen.

Oben sitzen wir, der Chorleiter erklärt, wie man einen gregorianischen Gesang liest, der auf vier statt fünf Linien notiert ist, er kommt von Hölzchen auf Stöckchen auf Dorisch auf Phrygisch auf Dinge, die ich zuletzt im Musikschulunterricht gehört habe. „Riecht nach Essen hier, findest du nicht?“, sagt die Frau neben mir. Ja, erklärt jemand, das kommt aus dem Raum hinter der Orgel, wo sonst die Konfirmanden sind, da lebt eine Familie im Kirchenasyl. Auf unserer Seite der Orgel sind wir so wenige, dass man wirklich jede Stimme hört. Kammerchorfreude: auf der einen Seite der Sopran, auf der anderen der Tenor, beide so nah, dass ich mich an ihre Melodien anlehnen kann, zur Orientierung. Ausatmen, einatmen, konzentrieren. Und Musik machen.

Der Chorworkshop mit Voces8 in acht Highlights

Milton Abbey Summer School Scores

Kein Ausschlafen, Essen in der Kantine, jeden Tag stundenlange Probenarbeit, abends Konzerte und wenn man gerade ins Bett gefallen ist, weckt einen der Feueralarm. Man muss schon eine besondere Sorte Musik-Nerd sein, um so seinen Urlaub zu verbringen.

Wir sind 150, und jeder einzelne ist froh, einen Platz ergattert zu haben. Denn die Dozenten bei diesem Chorworkshop in der südenglischen Pampa sind Voces8. Wenn man sich als Sänger von jemandem etwas abgucken möchte, dann sind die acht schon keine so ganz schlechte Wahl. (Hier singen sie das ohnehin ziemlich großartige „Ubi Caritas“ von Ola Gjeilo.)

Sportler fahren ins Trainingslager. Wir sind hier, in Milton Abbey, einer Schule im historischen Gebäude. Die Highlights der Woche, natürlich in acht Punkten:

1. Das Einsingen

Das mag komisch klingen, aber ja, die Einsingübungen waren für mich tatsächlich einer der Höhepunkte. Wahrscheinlich, weil der Kontrast so groß ist zum Chor hier in Moskau, wo die Devise „im Zweifel forte und marcato“ gilt und das Aufwärmen chronisch zu kurz kommt.

Die halbe Stunde Wachwerden jeden Morgen – Körper, Atmung, Stimme – war gerade deshalb eine super Sache. Erst recht, weil jeder von den acht Sängern/Dozenten seine eigenen Methoden mitgebracht hatte.

Gähnen, Hecheln, Explosivlaute, Tonfolgen, das kennt man ja. Luftgitarre spielen (und hinterher zerdreschen) war mir dagegen neu – genau wie das allmorgendliche Gefühl, dass eine halbe Stunde mehr Schlaf der Auge-Hand-Koordination vielleicht ganz gut getan hätte. („Try not to hit yourself in the face“, siehe Video, bringt es ganz gut auf den Punkt.)

So sorgfältig betreut hat die Stimme dann auch tatsächlich sechs Tage Proben, drei Konzerte, zwei Gottesdienste und allerlei abendliches Spontangesinge gut überstanden.

2. Das Zuhören

Töne angeben? Ach komm, ihr seid doch schon groß, der Grundton reicht. So in etwa war die Haltung, egal, mit wem von Voces8 wir gerade gearbeitet haben. Fiel mir am Anfang schwer, weil es lange keiner mehr eingefordert hatte. Noch ein Grund also, sich zu konzentrieren. Und ein Erfolgserlebnis, je verlässlicher es nach und nach wieder klappte.

3. Der Ort

Schon sehr englisch, unser Zuhause für eine Woche – die Architektur, der perfekte Rasen, die zermatschten Erbsen beim Mittagessen, die Unterbringung in den verschiedenen Schulgebäuden („In welchem Haus bist Du denn?“ – „Slytherin.“).

Milton Abbey

In einem Aufenthaltsraum hängt noch die Liste, welches Haus im letzten Schuljahr die meisten Punkte gesammelt hat. Ein junger Tenor sieht aus wie Neville Longbottom. Und wie heißt der Gastmusiker, der mit uns am zweiten Tag etwas einstudiert? Alexander L’Estrange. Keine weiteren Fragen.

4.  Das Repertoire

Jedes Land hat ja für jedes Niveau so seine typischen Chorwerke, und irgendwann hat man die meisten mal gesungen oder zumindest gehört. Die Woche in Dorset war also auch eine Chance, viele neue Stücke kennenzulernen: Fyre, Fyre! von Thomas Morley (Schmackes!), Stephen Paulus‘ Pilgrim’s Hymn (Mystik!), My spirit sang all day von Gerald Finzi (Taktwechsel! Noch einer! Schon wieder!) – und das war nur die Kammermusik.

Außerdem gelernt: Shantys und Lieder aus der Tudorzeit lassen sich problemlos mischen. Henry VIII hat mehr komponiert als nur Greensleeves. Und so eine kleine Mozartmesse kann man im Notfall auch ganz gut vom Blatt singen.

5. Die Atmosphäre

Dass die Leiter eines Workshops bei den Proben und Konzerten ansprechbar sind, ist klar. Wie viel man aber auch sonst mit einigen von Voces8 zu tun hatte – in der Essensschlange, an der Bar, zwischen Tür und Angel – das war schon sehr sympathisch.

Manche waren sogar mit Eltern/Partner/Nachwuchs angereist, und auch sonst war die Atmosphäre durchweg familiär: Gäste wie Alexander L’Estrange und seine Band oder Paul Phoenix kamen also nicht nur zu ihren Proben und Konzerten, sondern blieben länger und gaben ihrerseits Feedback und Tipps („Wenn ihr ‚Falalalala‘ singt, denkt dran: Das haben die damals so getextet, weil sie nicht offen sagen konnten ‚Oh, Baby, ich mag, was Du da gerade tust‘.“). Wahrscheinlich hat es auch denen in der Milton-Abbey-Idylle gefallen.

6. Die Kammermusikgruppen

Endlich mal wieder ein Madrigal singen, und dann auch noch in so einer madrigaligen Atmosphäre: liebliches Südengland, Sommer (jaja, englischer Sommer – Unterhemden, Longsleeves und eine Wärmflasche für nachts, so packt der Profi). Geprobt im Ballsaal mit sehenswerter Decke, aufgeführt in einer Abteikirche, wie man das halt so tut.

 

Milton Abbey Ballroom Ceiling

Alles, was im großen Ensemble unter „passt schon irgendwie“ fällt, hat uns unser Chorleiter hier nicht durchgehen lassen (danke, Chris!).  Schön, mal wieder so konzentriert und in kleiner Besetzung an ein paar Stücken zu arbeiten.

7. Der Französisch-Fail

Kein Gemeinschaftserlebnis, sondern ein komplett persönliches: Wie sehr der Versuch, sich mit den französischen Teilnehmern zu unterhalten, gescheitert ist. Zuhören, verstehen, kein Problem. Aber antworten? J’habite à Moscou, i je rabote chez une gasyetta. Gelächter auf beiden Seiten.

Jedenfalls habe ich beschlossen, das als Erfolgserlebnis zu deuten. Weil die ganzen gepaukten Vokabeln offenbar im Hirn inzwischen gut Wurzeln geschlagen haben.

8. Die anderen Sänger

Was das für eine vielfältige, internationale Gruppe war, fiel vor allem an den Abenden auf, wo alle aufgerufen waren, eine Kleinigkeit aufzuführen – „your party piece“. Hätte ich doch nur mehr Videos gemacht! Von der wahrscheinlich ältesten Kursteilnehmerin, sicher gut in den Siebzigern, als Eliza Doolittle mit „Wouldn’t it be loverly“.

Von den drei Jungs, alle noch diesseits des Bartwuchses, mit Gitarre, Ukulele und einem selbstgebastelten Mash-up aus zwei Pop-Nummern.  Von allem, was da stimmlich zwischen Opernhaus und Fankurve so abging. Und von Händels Halleluja-Chor, kurz vor Mitternacht, ohne Noten, aber mit Vehemenz. Alle zusammen.