So viel Hass auf den Bart von Karl Marx

Der Bart von Karl Marx im Jahr 1867 (Wikicommons)
Der Bart von Karl Marx im Jahr 1867 (Wikicommons)

Lange nicht mehr übers Lesen gebloggt, aber heute muss es dringend mal sein. Vor ein paar Wochen waren wir mit Freunden in St. Petersburg, bei einem Stadtrundgang standen wir igendwann vor einem Haus, und unser Tourguide erzählte, dass dort lange Maxim Gorki gewohnt hat und auch mal Besuch von H.G. Wells hatte. Ja, genau, der mit „Krieg der Welten“, was dann als Hörspiel mit Orson Welles 1938 reihenweise amerikanische Radiohörer in Panik versetzte.

Ein paar Wochen später, und ich habe die Reportagensammlung vor mir liegen, die H.G. Wells über seine Russlandreise im Jahr 1920 geschrieben hat. Sein Besuch, bei dem er tatsächlich bei Gorki wohnte, fiel in eine Zeit, in der in Russland Chaos herrschte: Zwei Jahre nach der Ermordung der Zarenfamilie, die Bolschewiken an der Macht, mit der sie laut Wells‘ Bericht oft kaum wussten, was sie anfangen sollten.

Hier zum Beispiel beschreibt er, wie die Kommunisten, die ja nun so gut wie allen Privatbesitz verboten haben, mit dem umgehen, was vor der Revolution einmal Privatbesitz war: Sie sammeln alles, was irgendwie wertvoll sein könnte, an einem Ort. Wozu? Unklar.

„Der Palast, in dem einst die britische Botschaft untergebracht war, ist nun wie ein vollgestopfter Kunstladen in der Brompton Road. Wir gingen durch Zimmer um Zimmer, in dem sich das schöne Gerümpel des früheren russischen Gesellschaftssystems stapelte. Es gibt dort große Räume, vollgestopft mit Skulpturen; niemals habe ich so viele marmorne Venusse und Nymphen an einem Ort gesehen, nicht einmal im Museum von Neapel. Es gibt Stapel von Bildern jeder Art, Duchgänge, in denen sich Schränkchen mit Intarsienarbeit bis zur Decke türmen, ein Zimmer voller Kisten mit alter Spitze, stapelweise grandiose Möbel. Diese Anhäufung ist gezählt und katalogisiert worden. Und da ist sie nun. Ich konnte nicht herausfinden, dass irgendjemand eine Idee gehabt hätte, was letztlich mit all diesem herrlichen, eleganten Müll geschehen sollte. Das Zeug scheint auf keine Art und Weise in diese neue Welt zu passen, die die russischen Kommunisten organisieren. Sie hatten nie damit gerechnet, dass sie sich einmal um solche Dinge würden kümmern müssen.“

Maxim Gorki in dem von Wells beschriebenen Depot in der früheren britischen Botschaft
Maxim Gorki in dem von Wells beschriebenen Depot in der früheren britischen Botschaft

Den Bolschewisten steht Wells durchaus wohlwollend gegenüber. Vieles, was in Russland derzeit im Argen liege, habe seine Wurzeln in der Zarenzeit, argumentiert er. Mit Karl Marx kann er dagegen gar nichts anfangen, und wie er auf ihm und seinem Bart rumhasst, ist meine bisherige Lieblinsgpassage in dem Buch – schon beim Übersetzen musste ich so lachen, dass ich kleine Pausen einlegen musste:

„Ehe ich zu dieser letzten Reise nach Russland aufbrach, empfand ich keine aktive Feindseligkeit gegenüber Marx. Ich mied seine Werke, und wenn ich Marxisten begegnete, wurde ich sie wieder los, indem ich sie bat, mir zu erklären, welche Menschen genau zum Proletariat gehören. Kein Marxist weiß das. (…) Ich muss gestehen, dass in Russland aus meiner passiven Ablehnung von Marx eine sehr aktive Feindseligkeit wurde. Wo immer wir auch hinkamen, trafen wir auf Büsten, Statuen und Bilder von Marx. Zwei Drittel von Marx‘ Gesicht besteht aus Bart, einem riesigen, ernsten, wolligen, ereignislosen Bart, der jegliche normale Bewegung unmöglich gemacht haben muss. Es ist nicht die Art von Bart, die einem Mann einfach so passiert, es ist ein Bart, der kultiviert, gehegt und patriarchisch der Welt entgegengestreckt wird. Er ist in seiner hirnverbrannten Fülle genau wie „Das Kapital“, und der menschliche Teil des Gesichts blickt eulenhaft darüber, als wolle es sehen, wie der Wuchs die Menschheit beeindruckt. Ich fand die allgegenwärtigen Bildnisse dieses Bartes zunehmend nervtötend. In mir wuchs ein nagendes Bedürfnis, Karl Marx rasiert zu sehen. Irgendwann, wenn ich diesen Tag noch erlebe, werde ich Schere und Rasierer erheben gegen „Das Kapital“, ich werde „Die Rasur des Karl Marx“ schreiben.“

(Aus: H.G. Wells, Russia in the Shadows, Hodder and Stoughton, London, 1921. Mehr Fotos aus dem Buch gibt es hier.)

Friedrich Engels und der Eisfischer von Kasan

Mit Moskauer Erwartungen nach Kasan zu kommen, bringt viele Überraschungen. Lächelnde Menschen auf der Straße. Blickkontakt im Restaurant. Autos, die an Zebrastreifen halten. Die Museumswärterin, die merkt, dass wir den Anfang der Ausstellung zur tatarischen Geschichte nicht finden und sagt, „na, kommen Sie, ich zeig es Ihnen“, dann mit Blick aufs Ziel mir freundlich den Arm tätschelt und die Richtung weist.

Okay, das Familienzentrum, das aussieht wie eine gusseiserne Schale auf einem langsam in die Grätsche gehenden Stövchen, ignoriert sein eigenes Öffnungszeitenschild und hat geschlossen. Aber wären wir nicht durch den Schneematsch hierher gestapft, hätten wir sie nicht gesehen, die Handvoll Kapuzengestalten, denen der Sonntagmorgen zwei Dinge bringt: einen kalten Hintern und einen guten Fang. 

Kasan Russland Eisfischer 2

Breit ist die Kasanka hier, wo sie sich mit der Wolga trifft. Und selbst so nah am Stadtzentrum ist es, Winterwetter sei dank, so still, dass man am Ufer hört, wie die Eisfischer ihren Bohrer ansetzen. Ein Riesentrumm, fast so groß wie die Angler selbst, und so schlicht wie eine schnell hingezeichnete Skizze. Schraube unten, Griff oben, dazwischen was zum Drehen. 

Kasan Russland Eisfischer 1

Später laufen wir uns über den Weg, zwei der Männer sind auf dem Weg runter vom Eis, zum Auto, ins Warme. „Entschuldigung, aber darf ich ein Bild von Ihnen machen mit…“ – ich weiß das Wort für Ausrüstung nicht. „Mit den Fischen?“, souffliert der eine und grinst. „Nein, mit… dem Instrument da.“ – „Ah, eine Foto-Session? Aber sicher!“ Und schon wirft er sich in Pose. Ein Mann, ein Bohrer. 

Kasan Russland Eisfischer 5

Ein paar Fragen hat er dann auch noch: Wie gefällt Ihnen Kasan (gut), was genau (Architektur, Geschichte), woher kommen Sie (aus der Nähe von Düsseldorf). „Kenn‘ ich nicht, ich kenne nur Trier, da haben Freunde von mir mal gearbeitet.“ – „Ah, ja, schöne alte Stadt, waren Sie da auch mal?“ – „Nein, aber ich weiß, dass es die Stadt von Karl Marx ist.“ – „Und ich komme aus der Nähe von Wuppertal, der Stadt von Friedrich Engels.“ – „Dann kommen Sie doch am 5. August wieder und wir feiern zusammen!“ Gelächter, großes Hallo, Verständigung findet statt. 

Er zeigt noch seinen Fang, „Sudak“, mit feinem Muster auf der Haut und ordentlichen Zähnen. Ein Zander. Dann fahren die beiden nach Hause, wir gehen einen Tee trinken, und die restlichen Fischer sitzen weiter tapfer auf dem Eis.

Kasan Russland Eisfischer 3

Kasan Russland Eisfischer 4