„Ich habe ja nichts gegen Fußball, aber…“

Es wäre ja auch zu schön gewesen. Schön, wenn sie einfach mal gestimmt hätten, diese Erklärungen im Vorfeld der WM, wonach schwule Fans, lesbische Fans, überhaupt LGBTQ-Fans unbesorgt nach Russland kommen können. Die Realität sieht anders aus: Als Security eingesetzte Kosaken-Gruppen kündigen an, jedes gleichgeschlechtliche Paar, das sich in der Öffentlichkeit küsst, der Polizei zu melden. Der Aktivist Peter Tachell wird festgenommen, als er in der Nähe vom Roten Platz gegen die Verfolgung von Homosexuellen in Tschetschenien protestiert.

Dem „Diversity House“ in St. Petersburg wurde kurz vor der Eröffnung der Mietvertrag gekündigt und der Strom abgedreht. Wer sich gelegentlich damit beschäftigt, wie in Russland mit NGOs umgegangen wird, kennt diese Art von Schikane, sie hat Methode.

Wie gut tat es da, einen Tweet zu lesen, der hier in Russland gerade die Runde macht.

„Ich hab ja nichts gegen Fußball, aber warum muss man das allen unter die Nase reiben? Warum kannst du nicht einfach zuhause sitzen und es still angucken, anstatt irgendwelche Meisterschaften zu veranstalten? Warum sollen euch alle bei eurem Privatvergnügen zusehen? Wie soll ich all diesen Unfug bloß meinen Kindern erklären?“

Ihr merkt, worum es geht. Und viele andere Twitter-Nutzer merkten es auch und stimmten ein.

„Und dann guckt mein Kind plötzlich sowas und will auch Fußballer werden!“

„Wegen dieser Fußballspieler wird die Menscheit in 100 Jahren ausgestorben sein, wollt ihr das?“

„Sowas gab’s hier früher in Russland nicht, damals spielten sie still vor sich hin normale russische Spiele. Dann erfanden die grässlichen Europäer diese Abscheulichkeit, in kurzen Shorts herumzulaufen, das ist doch nicht orthodox…“

„Ich habe auch einen Freund, der Fußballer ist. Aber der ist normal und zieht kein Fußballtrikot an, und der scherzt auch mit und lacht, wenn man Witze über Fußballer macht“

„1. Ein Fußballer zu sein, ist einfach unnatürlich. Wo sieht man das schon jemals in der Wildnis? 2. Die Faschisten waren ursprünglich auch Fußballspieler. 3. Dies ist eine Sünde und eine schwere Krankheit, da helfen nur Fasten und Gebete. Und überhaupt, sollen sie doch irgendwo im Wald spielen, wo ich sie nicht sehen muss.“

„Stimmt! Die gehören in die Fabrik und zur Armee unter normale Männer, das treibt ihnen diese Flausen schon aus“

„All diese Perversionen mit einem Haufen Männer auf einem Spielfeld – das wird ganz klar von der Soros-Stiftung finanziert! Ich habe selber gesehen, wie sie Bälle aufgepumpt haben, und mit diesen Bällen Kinder trainiert haben – sie spielen mit ihnen und werden dann auch zu solchen Leuten. VERSTEHT IHR, WIE ALL DAS ENDEN WIRD?“

Moskau

Moskau, Moskau. Das ARD-Hörfunkstudio dort bekommt 2014 einen neuen Korrespondenten. Und ich geh mit.

Nach ein paar Probeläufen, bei denen die Kollegen vor Ort es uns leicht und die Abende lang gemacht haben, sind wir zu dem Schluss gekommen: kann man machen. Also bereiten wir uns vor auf den Umzug in ein Land, das auch mehr als zwanzig Jahre nach Ende der Sowjetunion im Umbruch ist. Ein Land voller Kultur und Traditionen, das 2014 die Olympischen Winterspiele ausrichtet. Ein Land, zu dessen Staatschef „lupenreiner Demokrat“ und „Oben-ohne-Fotos“ die einfachen, aber nicht die wichtigsten Assoziationen sind. Ein Land, in dem NGOs drangsaliert und Schwule und Lesben diskriminiert werden. So ein Land kann gar nicht genug Journalisten haben.

Was auch bedeutet: Ich bin hiermit wieder auf dem Markt. Nach fast sechs Jahren im kleinen, feinen Online-Team bei DerWesten, drei Chefredakteuren, deutlich mehr Geschäftsführern. Einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Kollegen und Freunden vielfach auf das Erfreulichste verschwommen sind. Und in der ich einiges gelernt habe über Innovation, über Einfach-mal-Ausprobieren und mindestens genau so viel über Beharrungskräfte. Der Chef kann sich vorstellen, mich im Anschluss an Moskau zurückzunehmen. Ich kann mir vorstellen, im Anschluss an Moskau zurückzukommen. Bis dahin bin ich freigestellt und kann ab Februar in Russland für jemand anderen arbeiten, sofern es nicht die unmittelbare Konkurrenz ist. Was in Moskau eher unwahrscheinlich sein dürfte.

Vielleicht heißt das zum Start auch erst mal: ein paar Monate die alten Russischkenntnisse auffrischen (wann sagt man noch mal год/года und wann лет?) und neue darauf aufbauen. Ankommen, organisieren, Wurzeln schlagen. Nur auf Dauer ist „mitreisende Partnerin“, glaube ich, kein Vollzeitjob.  Im Moment weiß ich nicht mal, ob es wieder Onlinejournalismus sein soll, ob überhaupt Journalismus, oder etwas ganz anderes. Es wird sich finden, und wenn ihr Moskau-Verbindungen habt, freu ich mich über Tipps und Links.

Russland ist ein schönes Land. Werft die Gläser an die Wand.