Deutsche kommen an den Baikalsee wegen der Natur. Chinesen kommen wegen dieses einen Lieds aus dieser einen Fernsehshow. Ein Lied über Liebe, über Sehnsucht und über Gefühle, die so stark sind, dass sie Schnee schmelzen lassen. Ein Lied, das schon mehr als eine Million mal bei Youtube angesehen wurde, mit Zeilen wie „Du bist kristallklar und geheimnisvoll, wie das Ufer des Baikalsee.“ Die Melodie klebt nicht nur wie Zuckerguss im Gehörgang, sie sorgt auch dafür, dass beim Naturgucken am Baikal die nächste chinesische Reisegruppe nie weit entfernt ist. Ein Running Gag zwischen all der Schönheit und Stille.
Um 6 Uhr in Irkutsk aufstehen, zum Bus laufen, mit dem Bus zur Fähre, mit der Fähre zum Bahnhof und von da an sieben Stunden mit dem Zug am Ufer entlangzuckeln, bei 20 km/h: eine ganz wunderbare Art, an- und runterzukommen zum Start in den Urlaub. Auf Wasser zu gucken entspannt ja ohnehin, und wenn sich dann auch noch die Perspektive permanent, aber behutsam wandelt, erst recht: Felsen, Wald, Wasser, Tunnel. Blumenwiese, Wald, Wasser, Tunnel.
Die Gelassenheit macht sich so breit, dass es schon beim dritten Halt unseres Zuges fast vollkommen egal ist, dass die chinesische Mitreisegruppe mit großer Hingabe „Komm, ich bin dein Vordergrund“ spielt. Einmal mache ich den Test und gehe einfach mal nicht zur Seite, weiche dem Fotografierenden nicht aus, sage aber auch nichts. Er stellt sich so nah wie andere nicht mal im Fahrstuhl. Auf meinem Foto sehe ich später: Chinese, Wald, Wasser, Tunnel.
Noch langsamer als auf der Zuckelzugtour ist das Leben auf Olchon, der größten Insel im Baikalsee. Straßen gibt es hier keine, jedenfalls nicht in der Definition, dass sich irgendwas mit Asphaltoberfläche durch die Landschaft zöge. Stattdessen hat Olchon Pisten aus Schotter oder einfach aus von Reifen festgedrückter Erde. Es ist eine Welt, an der das Wichtigste an einem Auto seine Stoßdämpfer sind und das wichtigste an den Touristenfüßen feste Schuhe.
Ja, auch hier sind die Gruppenchinesen da, und nein, das allmorgendliche Konzert aus Schleimhochziehen und Aufdenbodenrotzen vor der Tür der Reihenholzhütte müsste nicht sein. Aber den restlichen Tag hört man bloß mal eine Möwe, eine Kuh, den Regen auf dem Dach oder eventuell die Brandung. Beim Weg durchs Gelände stieben alle paar Schritte Grashüpfer weg. Der Kiefernwald steht licht und schweiget. Man kann im Baikalsee schwimmen (und Gott, ist das kalt, bis der Kreislauf anspringt und aus dem kalten Wasser rote Wangen macht), man kann aber auch einfach nur vor sich hin schauen. Und was hast du heute so gemacht? Ich habe geguckt.
An einem Tag ist in der Nähe Jahreshauptversammlung der Schamanen, die in einer Prozession zu Gesängen und Trommelschlägen mehrere geschmückte Birkenbäume um einen Platz tragen und sie anschließend zum Lagerfeuer schichten. Obendrauf kommen große Teile eines Schafskadavers, wir Zuschauer ziehen mit den Gläubigen im Kreis ums Feuer und lassen uns von dem Rauch umwabern. Später bespritzen die Schamanen ihre Anhänger mit heißem Wasser und wir sollen uns abwenden. Nicht, um die Privatsphäre der hemdlosen Täuflinge zu schützen, erklärt eine Frau mit Megafon. Sondern weil, wenn das Wasser die Menschen trifft, alles Unreine aus ihnen flieht – und wir Gefahr laufen, dass es sich stattdessen auf uns Besuchern niederlässt.
Abends dann eine Bootstour, die mit Verwirrung beginnt: Hier soll das losgehen? Aber hier ist doch nicht mal ein Anleger. Doch dem Boot, auch wenn es groß ist, ist das egal – es schiebt sich einfach halb auf den Strand und die Passagiere klettern an Bord. Zwei Deutsche und (war ja klar) 30 Chinesen, im Abendrot vereint unterwegs zu einer hohen Felseninsel, auf der Möwen darauf warten, mit Brot zu malerischen Sturzflügen veranlasst zu werden.
Der chinesische Reiseleiter hat ordentlich Toast mitgebracht und verteilt ihn, auch an die beiden Nichtchinesen. Wir werfen mit Brot um uns, fotografieren Möwendetails und Möwentotalen. Das Wasser ist rot. Das Wasser ist violett. Das Wasser ist blaugrau. Das Wasser ist kristallklar und geheimnisvoll.