Es steht ein Kasan im Rheinland

Man muss dieser Geschichte vielleicht vorausschicken, dass ich einen großartigen Bruder habe. Vage kann ich mich noch an Haareziehen und Schwitzkasten im Kinderzimmer erinnern, aber schon mit der Pubertät ist das gekippt. Da war er das plötzlich, der abends extra zu der jeweiligen Freundin kam, bei der ich gerade war, damit ich nicht alleine nach Hause radeln musste. Zusammen haben wir Strategien entwickelt, die bis heute funktionieren: Was besser Mama sagen, damit sie es Papa beibringt? Was besser Papa sagen, damit er es Mama unterbreitet? Und was einfach für uns behalten?

Als ich neu in der ersten großen Stadt war, der Geburtstag anrückte und ich dachte: Naja, bist ja ein rationaler Mensch, Dienstplan ist Dienstplan, dann feierst du halt nächstes Wochenende, wenn du zuhause bist – und dann am Tag vorher merkte, dass Rationalität weder Heimweh noch Sehnsucht verhindert, ist er stundenlang angereist, für ein bisschen Feiern, wenig Schlaf und eine ebenso stundenlange Rückreise. Als ein paar Berufsjahre später ein Projekt anstand, bei dem ich über Wochen einem cholerischen, fiesen Möpp ausgesetzt war, hat mein Bruder sich zunehmend alberne Namen für den Möpp und seine Visionen ausgedacht: „Na, was macht Projekt ‚Häschen in der Grube‘?“ Es waren seltene, dringend nötige Lacher in diesen Tagen.

Ich hab das immer für normal gehalten, Geschwister halt, klar verstehen wir uns. Bis eine Freundin hier in Moskau nach einigem Erzählen irgendwann sagte: „So you’re close, you and your brother.“ Seitdem denke ich da öfter drüber nach, dass das vielleicht doch besonders ist.

Dass wir nicht nur um drei Uhr morgens über die Zukunft der Sozialdemokratie philosophieren können, sondern uns auch über ein paar tausend Kilometer Abstand über den Alltagskram auf dem Laufenden halten. Welche Nichte diese Woche nicht in der Kita war wegen Ohrenschmerzen. Wann der Moskauer Balkonsalat geerntet werden kann. Wir schreiben, wir telefonieren, wir skypen. Wir sagen „Du fehlst mir“ und „Pass auf dich auf“. Wir tun bekloppte Dinge füreinander. Womit die Geschichte vom Kasan dann auch schon anfangen kann.

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Kasan ist nicht nur der Name einer russischen Stadt, sondern auch eines Kessels. Ein großes, gusseisernes Ding, mit einem Metallzylinder drunter, in den Holzscheite kommen. So kann man draußen nicht nur grillen, sondern auch kochen. Anfang des Sommers habe ich das bei Freunden auf der Datscha zum ersten Mal gesehen, daraus Plow gegessen und gewusst: Mein Bruder, der so gerne kocht und grillt, hätte da einen Mordsspaß dran.

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Wo kauft man einen Kasan? Im Supermarkt schon mal nicht, auch nicht im Haushaltswarenladen, wie sich rausstellt, und selbst Utkonos, der Onlineladen für alles Denkbare, hat im Sortiment eine kasanförmige Lücke. Aber dann, auf dem großen Markt an der Dorogomilowskaja: Einer der vielen freundlichen Zentralasiaten versteht mich nicht nur, sondern spielt auch gleich Eskorte zum Stand ein paar Reihen weiter: Samoware, Grillspieße, riesige Messer – und Kasane.

„Haben Sie auch eine Waage?“, frage ich vorsichtig, und so finden wir heraus: sieben Kilo die gusseiserne Schüssel mit Deckel, noch mal fünf Kilo der Untersatz – also, im Prinzip, fluggepäcktauglich. Okay, kein Karton zum Transportieren, aber ein riesiger, fester Plastiksack. Wäre der linke Arm ein bisschen weniger gebrochen, die Schlepperei zur Straße wäre erträglicher, aber immerhin ist so für die kurze Fahrt heimwärts ein Taxi gerechtfertigt.

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Deutlich weniger hilfreich als die Markthändler ist die Telefonauskunft von Aeroflot. Die Schüssel, also der eigentliche Kasan, passt problemlos in den Koffer und landet wenige Wochen später in Düsseldorf. Der Untersatz dagegen ist aus einem Stück geschweißt, die drei Beine lassen sich also nicht abmontieren oder auch nur anwinkeln. Überhaupt passt er nur in die größte Reisetasche, an Koffer ist nicht zu denken. Und selbst dann sieht es aus, als hätte man ein Oktopusbaby in die Tasche genötigt, das nun alle Arme von sich streckt.

Einerseits sind die Maße der Tasche über dem, was laut Kleingedrucktem erlaubt ist. Andererseits sind Gepäckvorgaben in Russland in etwa so bindend, wie wenn man im Sommer zu einem Eis „schmilz nicht“ sagt. Handgepäck? Gerne drei bis vier Teile. Riesenkoffer? Aber hallo! Darf der Kasan also mitfliegen? Die Aeroflotfrau erzählt was von Kilos und Zentimetern, will sich aber nicht festlegen. Dann also ein Versuch mit Sicherheitsnetz.

Als das nächste Mal ein freundlicher Mit-Moskauer auf Stippvisite nach Deutschland fliegt, hat er alles Nötige im Handgepäck. Das Unnötige, also der Kasan und einige Schichten Bläschenfolie und Handtücher, soll in der Reisetasche aufgegeben werden. Für den Fall, dass das nicht klappt, fahre ich morgens um halb sechs mit zum Flughafen und könnte so im Prinzip die Tasche wieder mit nach Hause nehmen. Vorerst aber wird sie russifiziert, sprich: in Plastikfolie eingeschweißt. Das ist für russische Flugreisende absolutes Pflichtprogramm, und wenn es verhindert, dass ein Oktopusbein die Reisetasche durchdringt: um so besser. Wobei, Oktopus? Eingeschweißt sieht das Ding eher wie ein Schwein aus. Ein Schwein mit Henkel.

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Am Check-in-Schalter versuche ich es mit einem verschlafen-apathischen Gesicht. Alles total Routine hier, nur bitte fangen Sie kein Gespräch an, weder mit dem eigentlichen Passagier noch mit mir. Aber warum sollte sie auch. Ein Schwein mit Henkel, ordnungsgemäß eingeschweißt und keine zehn Kilo schwer? Klar fliegt das mit. Kleiner Freudentanz außer Sichtweite und dann ab zurück nach Hause, ins Bett. Zum Frühstück gibt es dann die Nachricht: Das Ding hat den Flug unbeschadet überstanden, alle Beine noch dran am Oktopusschwein. Es steht auch schon im Bruderhaus.

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Ein paar Wochen später hat der Kasan seinen ersten Einsatz. Gulasch für ein Dutzend Leute, gekocht mit russischem Equipment unter rheinischem Himmel. „Und, bist Du zufrieden,“ schreibe ich, kurz darauf kommt die Antwort: „Wenn ich einen zweiten hätte, könnte ich auch die Nudeln zum Gulasch im Kasan machen.“

Vorschläge für den Grimme Online Award 2015

Seit drei Wochen kann man Projekte für den Grimme Online Award 2015 vorschlagen. In dieser Zeit sind schon rund 300 Projekte zusammengekommen; zwei davon habe ich eingereicht und möchte sie auch hier allen ans Herz legen.

Das eine sind die Reviermenschen, Straßenfotografie aus dem Ruhrgebiet. Meine Essener Kolleginfreundin Monika Idems hat ein Händchen für den richtigen Moment und die richtigen Fragen, sonst würden sich ihr die Leute, die ja im Pott gerne mal lakonisch und kurz angebunden sind, nicht so bereitwillig anvertrauen. Und dann würde sich das Fotoblog hier aus der Moskauer Entfernung auch nicht so nach Heimat anfühlen.

Warum sind Sie Stahlbetonbauer geworden?…

Der andere Vorschlag eignet sich im Gegensatz zu den Reviermenschen nicht zum Darinschwelgen. Manches hier fällt einem schwer zu lesen; es zu schreiben, muss also erst recht ein Kraftakt sein. Nora Hespers tut ihn sich derzeit an und rekonstruiert auf Die Anachronistin das Schicksal ihres Großvaters Theo, eines Widerstandskämpfers aus dem Rheinland.

Vielleicht ist es die Mischung aus journalistischem Herangehen und Persönlichem, die mir das so nahe gehen lässt. Es lohnt sich jedenfalls, und ich hoffe sehr, dass die Grimme-Jury einen guten Blick auf dieses Blog wirft, obwohl es erst am Anfang steht.

Viel Stoff, wenig Schlaf

Insgesamt taugt die Vorschlagsliste übrigens durchaus als kleine Fortbildung. „Meine Erlebnisse im Altenheim“ von Katrin Sickert zum Beispiel kannte ich noch nicht. Sie hat MS und zog darum mit 45 Jahren in ein Heim, aus dem sie nun bloggt.

Umgeben sind ihr Blog, die Reviermenschen und Die Anachronistin auf der Liste von vielen Platzhirschen: Reichlich Öffentlich-Rechtliches, Spiegel, Zeit, taz und, warum auch immer, Chefkoch.de. Wer die Vorschläge darum noch um sein persönliches Lieblingsprojekt ergänzen will, hat dazu noch bis zum 15. März Zeit.