Wir haben Weißwein in Omas guten Gläsern. Wir haben Oliven in kleinen, weißen Schälchen. Wir haben Zahnstocher, um uns die Oliven aus ihren Schälchen herauszupicken. Ein zivilisierter, lehrreicher Abend soll es werden, für ein Grüppchen Deutsche um einen Tisch in einem Moskauer Wohnzimmer. Er beginnt damit, dass unsere Lehrerin vier Worte aufschreibt und hochhält: Schwanz. Fotze. Ficken. Hure.
Was soll ich sagen: Es geht hier um Linguistik und um Landeskunde, um ein Alltagsphänomen der russischen Sprache, das im normalen Russischunterricht nicht vorkommt: Wir lernen heute Mat, die russische Fluchsprache. Was hatten wir Witzchen gemacht vor diesem Treffen: „Was soll ich denn mitbringen zu dem verdammten Abend?“ – „Ach, vielleicht ein paar Kekse oder so nen Scheiß.“ Ein netter Versuch, bestenfalls. Wir hatten ja keine Ahnung.
„Ich liebe Mat, es ist unglaublich vielseitig und variabel“, sagt Dascha, die heute Abend netterweise die Dozentin gibt. Sie ist Russin, Journalistin und Mat-Sprecherin mit Hingabe und aus Überzeugung. „Das ist kein Phänomen, das du nur bei der ungebildeten Landbevölkerung findest, auch die Intelligenzija verwendet es“, erzählt sie und erwähnt den Namen eines Chefs aus den Zeiten, als sie und ich noch beide Redakteurinnen bei der Moscow Times waren. „Erinnerst du dich, der hat mich gesiezt, aber gleichzeitig im Gespräch mit mir Mat verwendet.“ Diese Fluchsprache sei daher vieles, aber jedenfalls kein verlässlicher Anhaltspunkt für das Bildungs- oder sonstige Niveau ihres Benutzers.
Eines hat Dascha von Anfang an klar gemacht: Wenn, dann machen wir das hier richtig. Sie hat ein kleines Whiteboard gekauft, einen Vortrag vorbereitet – 30 Minuten sind angepeilt, danach Zeit für Fragen. Genau so strukturiert geht sie auch ihre erste Runde Vokabeln an, schreibt erst auf Russisch, dann nach englischen Ausspracheregeln transliteriert, schließlich die Übersetzung. Neben „хуй“ steht erst „khui“, dann „dick“. Sieben brave Schüler nicken und notieren auf Deutsch: „Schwanz“.
Chui, pisda, jebat und bljad. Schwanz, Fotze, ficken und Hure. Es sind die vier Wörter, die in Russland qua Gesetz eigentlich kein Journalist in seinen Artikeln und kein Musiker in seinen Songs verwenden soll. Was sie natürlich für viele musikalische Genres erst recht interessant macht. „Von manchen großen Hits gibt es zwei Versionen, eine mit Mat und eine ohne“, erzählt Dascha, selbst in Puschkin-Gedichten fänden sich Mat-Flüche. Dascha selber sollte, so will es die russische Tradition, mit dieser Flucherei eigentlich nichts am Hut haben, „weil wir Frauen ja schließlich alle zarte kleine Blümchen sind, da tut man das nicht.“ Wenn sie in einem Café sitzt und mit einer Freundin mal so richtig angeregt redet, gespickt mit Mat, dann kommt auch schon mal ein Mann vom Nebentisch rüber und sagt sowas wie: Nanana, Mädels, das gehört sich aber nicht, wie ihr da sprecht.
Dascha ist das egal, im Café genau so wie bei unserem kleinen Crashkurs. Einmal das Whiteboard wischen und weiter geht’s, denn von jedem der vier Kernbegriffe gibt es unzählige Ableger. Eine kleiner Auszug, am Beispiel von „chui“:
– paschol na chui: wörtlich „geh zum Schwanz“, bedeutet sowas wie „verpiss dich“
– mnje pachui: „ist mir schwanzegal“
– nachui: wörtlich „zum Schwanz“, bedeutet in etwa „zur Hölle damit“
– nachuija: ein gefluchtes „Weshalb“, in etwa so: „Weshalb zum Schwanz regnet es heute schon wieder?“
– nichuja: ein gefluchtes „Nichts“, in etwa so: „Ich warte auf den Anruf, und was passiert? Kein Schwanz.“
– chujowi: beschissen
„Das Beste kommt aber erst jetzt“, sagt Dascha und grinst. „Ihr könnt von diesen vier Wörtern nicht nur Formulierungen ableiten, um etwas schlecht zu finden, sondern auch für das Gegenteil. ‚Ochujenno‘ zum Beispiel bedeutet ausgezeichnet, ‚ochuitelno‘ heißt großartig.“ Der Wortkern allerdings bleibt für jeden Russen klar erkennbar. Wenn sie also bei ihren Schwiegereltern zu Besuch sei, sagt Dascha, verwende sie natürlich die standard-russischen Wörter für „großartig“ und „ausgezeichnet“ – nicht die, aus denen immer noch der „Schwanz“ rauszuhören ist.
So spielen wir sie durch, die vier Kernbegriffe, Variante für Variante. Dascha bringt uns Ausweichwörter analog zum deutschen „Scheibenkleister“ bei und erzählt, wie manche Flüche durch Reime ersetzt werden: Egal, was das Ergebnis im Wortlaut bedeutet, jedem ist klar, auf welchen ursprünglichen Ausdruck man anspielt. So wird dann aus „jobanni w rot“ (in den Mund gefickt) erst „jobanni krot“ (gefickter Maulwurf) und dann „schowanni krot“ (zerkauter Maulwurf).
Zeit für das große Finale, für das, wozu die Russen „dreistöckiges Fluchen“ sagen – so, als wäre ein gelungener Fluch ein Haus, gebaut aus verschiedenen Mat-Begriffen. Denn da man sie munter drehen und wenden kann, vom Verb zum Adjektiv zum Substantiv und so weiter, lassen sie sich auch miteinander verbinden. „Pis-da-bljad-sko-je mu-da-jo-bi-sche“, diktiert Dascha, auch wenn das von den vier Grundvokabeln ein wenig abweicht. „Mudak“, Arschloch, ist eines der milderen Mat-Wörter, das hier nun einmal glänzen darf. Ergebnis: Fotzenhuriges Arschlochgeficke! Zu verwenden, wenn man wirklich ziemlich unzufrieden ist, sagt Dascha, oder jemand echt nervt, oder man sich gerade an irgendwas gestoßen hat. Wir nicken, spießen noch eine Olive auf und machen uns Notizen.