Russball, Folge 44: Die Mutter aller WM-Reiseführer

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Diese Russball-Ausgabe ist etwas anders als sonst. Ich treibe mich mal wieder rum in der Welt, außerhalb von Russland und meist offline. Aktuelles aus dem russischen Fußball gibt es hier also diesmal nicht, dafür aber etwas, das ich seit langem schon mal zusammenstellen wollte.

So viele Leute und Redaktionen haben inzwischen ihre Reiseführer zu den russischen WM-Gastgeberstädten veröffentlicht, unterschiedlich erhellend und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Hinzu kommen die Infos, die abseits der WM schön länger existieren. Aus all dem zusammen habe ich hier, Stadt für Stadt, das Beste rausdestilliert. Die Mutter aller WM-Reiseführer, damit ihr euch nicht selbst durch den Wust an Angeboten lesen müsst. Also: Willkommen auf der Metaebene und viel Spaß bei der Reiseplanung!

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⚽ Nischni Nowgorod. „The city with the best commute“ hat der Guardian Nischni Nowgorod mal genannt, die Stadt mit dem besten Weg zur Arbeit. Denn den legen einige Menschen hier inzwischen mit der Seilbahn zurück, wenn ihr Privatleben auf der einen Seite der Wolga stattfindet und ihr berufliches auf der anderen. Bei Wikitravel sind sie in Sachen Sehenswürdigkeiten nicht unnötig überschwänglich: „Im Kreml gibt es eine Kirche, ein Kriegsdenkmal mit ewiger Flamme, ein annehmbares Kunstmuseum“, der Lonely Planet warnt vor einem „Mangel an guten Hotels“, weist aber immerhin auf schöne Restaurants in Kremlnähe hin (konkrete Restauranttipps hier). Was auch interessant klingt: diese Liste von Herrenhäusern, in einem von ihnen soll Peter der Große übernachtet haben.

Was muss man übers Stadion von Nischni Nowgorod wissen? 45.000 Sitze, die Architektur soll an die Wellen der Wolga erinnern. Nach der WM soll hier der örtliche Zweitligaverein Olimpjets Nischni Nowgorod seine Heimspiele austragen.

⚽ Jekaterinburg. Das Stadion in der östlichsten WM-Stadt ist vor alle für seine Tribüne bekannt, die aus dem Gebäude seitlich herausragt – das sorgt für spektakuläre Bilder. Fußballerisch ist Jekaterinburg allerdings keine Heldenstadt, aber immerhin hat Nationalspieler Fjodor Smolow mal beim FK Ural gespielt.

In Jekaterinburg wurde einst die russische Zarenfamilie ermordet, das Kulturmagazin „Calvert Journal“ weist auf den Weißen Turm hin, einen Wasserturm, der typisch ist für die Architektur des russischen Konstruktivismus (der Fernsehturm musste ja neulich dran glauben). Wer es lieber etwas nerdiger mag, schaut sich das QWERTY-Denkmal an oder sucht in der Stadt nach Spuren des alljährlichen Straßenkunst-Festivals „Stenograffia“. Oh, und ein Igel-Orakel haben sie in Jekaterinburg auch. Weiter geht’s von der östlichen zur westlichsten WM-Stadt.

QWERTY-denkmal

⚽ Kaliningrad. Geopolitisch wichtig, historisch interessant – über das frühere Königsberg gibt es viel zu erzählen. Das Stadion sollte eigentlich Ende März eröffnet werden, Schalke hatte sich, Gazprom sei Dank, angesagt. Das Spiel fiel aus, offiziell wegen Kälte. Während der WM finden hier mehrere Gruppenspiele statt, danach wird das Stadion „Baltika-Arena“ heißen – nicht nach dem Bier, sondern nach dem örtlichen Fußballclub. Apropos Bier: Von den Bars, in denen man in Kaliningrad Fußball gucken kann, kann ich das „Hmel“ (Hopfen) aus eigener Erfahrung empfehlen.

An jeder Ecke kann man in Kaliningrad Bernstein kaufen, oder noch besser: Man fährt aus der Stadt raus nach Jantarny, in den Ort, der nach dem russischen Wort für Bernstein benannt wurde. 95 Prozent der weltweiten Bernsteinmenge kommt hierher. Die offizielle FIFA-Seite empfiehlt, wenn auch in arg holprigem Deutsch, eine ganze Reihe Museen, von denen viele einen Deutschland-Bezug haben. Am Wichtigsten ist aber, dass in Kaliningrad Immanuel Kant geboren wurde und dort auch beerdigt ist. Fußball und Kant – die Verbindung liegt auf der Hand:

⚽ Rostow am Don. Ich bin ja arg versucht, die Liste der Rostower Sehenswürdigkeiten mit dem „Haus, das auf dem Kopf steht“ zu beginnen. Aber vielleicht fangen wir erst mal mit dem Stadion hier an: Es ist eine von mehreren WM-Arenen, die letztlich bescheidener ausfallen als die ursprünglichen grandiosen Pläne es vorsahen. Nach der WM wird die Zahl der Plätze von 45.000 auf 40.000 reduziert, und selbst die zu füllen dürfte schon eine Herausforderung werden für den FC Rostow.

Rostow ist die Partnerstadt von Dortmund und von Gera und liegt nicht weit von der ukrainischen Grenze. Man kann hier viel über die Geschichte der Donkosaken erfahren oder es sich einfach in einem der Fischrestaurants gut gehen lassen. Das Calvert Journal, immer eine gute Anlaufstelle für nicht ganz so mainstreamige Kulturtipps, weist auch auf Rostows Unterführungen hin, in denen man immer wieder Mosaike aus Sowjetzeiten findet, auch ein Bummel über den Markt klingt nach einer entspannten, nicht ganz so touristischen Idee.

⚽ Kasan. Für Kasan, das muss ich vielleicht vorweg schicken, habe ich eine Schwäche. Die freundlichen Menschen, der Kreml in seiner Kombination aus russischer Orthodoxie und Islam, die Uni, an der Lenin studiert hat. Das wird übrigens, vor allem für chinesische Touristen, ganz gezielt vermarktet. Wikitravel weist zusätzlich auf das „Museum des sozialistischen Lebens“ hin, beim Guardian kann man nachlesen, warum Kasan als Sporthauptstadt Russlands gilt.

Was noch? Mit dem Boot kann man sich von Kasan nach Weliki Bolgar schippern lassen und sich dort den „Tadsch Mahal von Russland“ ansehen (offiziell: die Weiße Moschee). Und wer sich eher für das Stadion interessiert als für Ausflüge ins Umland und Kulturprogramm: Der Guardian erklärt, was das Stadion mit einer Wasserlilie zu tun hat und was sein wichtigstes Alleinstellungsmerkmal ist.

Die Weiße Moschee bei Nacht
Die Weiße Moschee bei Nacht

⚽ Samara. Noch eine WM-Gastgeberstadt an der Wolga, der Fluss prägt das Bild der Stadt. Zu Sowjetzeiten durften Ausländer Samara nicht besuchen, weil die Stadt eine entscheidende Rolle im Raumfahrtprogramm der UdSSR spielte – mehr dazu im örtlichen Raumfahrtmuseum. Der Lonely Planet hält den für Stalin gebauten Bunker für die wichtigste Attraktion der Stadt, Wikitravel zählt eine ganze Reihe an Alternativen auf, die nicht so spektakulär, aber teilweise dennoch interessant sind (Bonus: Viele von ihnen kann man sich vorab per virtueller Tour ansehen).

Zum Stadion: Bilder vom Bau der Samara Arena gibt es hier, aktuell ist es das Stadion, das am weitesten hinter dem Zeitplan zur Fertigstellung hinterherhinkt. Wenn es denn mal fertig ist, soll es knapp 45.000 Zuschauer fassen und, in Anspielung an Samaras Geschichte, aussehen, als sei es gerade aus dem Weltraum gelandet.

⚽ Moskau. Dass Moskau die einzige Gastgeberstadt ist, in der WM-Spiele gleich in zwei Stadien ausgetragen werden, hat der eine oder andere vermutlich schon gehört, vielleicht auch, wie sich die Moskauer Begegnungen auf die beiden Spielorte verteilen und warum das Spartak-Stadion ein Chamäleon ist. Russian Football News hat außerdem einen guten Überblick über die vielen Moskauer Fußballvereine: Dynamo, Lokomotive, Spartak, Torpedo und ZSKA.

Kreml, Roter Platz, Basiliuskathedrale – die Klassikeer muss man hier ja kaum noch erwähnen. Der offizielle FIFA-Guide legt Besuchern neben dem Hotel Ukraina und dem Museum „Garage“ auch das Alte Telegrafenamt ans Herz, vergisst zu letzterem allerdings den Profitipp: Wer seitlich in den Gasjetnij Pereulok abbiegt, am Eingang irgendwas von „Coworking Space“ nuschelt und dann forsch in den Aufzug steigt, kann das Gebäude auch von innen besichtigen. Es ist noch Zeit übrig für einen Tagesausflug ins Umland? Außer dem Goldenen Ring bietet sich auch der Kunstpark in Nikola-Leniwets an.

Das Hotel Ukraina, im Hintergrund das Weiße Haus, Sitz der russischen Regierung
Das Hotel Ukraina, im Hintergrund das Weiße Haus, Sitz der russischen Regierung

⚽ Saransk. Die Hauptstadt von Mordwinien, das klingt erst mal nach Herr der Ringe. Tatsächlich liegt die eher kleine Stadt Stadt östlich von Moskau, ihr im Ausland bekanntester Einwohner ist Gérard Depardieu, der sich ja vor einigen Jahren nach Russland hat einbürgern lassen, der Steuern halber. Der Mann hat dort inzwischen sein eigenes Kulturzentrum. Die Liste der örtlichen Sehenswürdigkeiten ist kurz, zu ihnen gehört sicherlich das Museum für mordwinische Nationalkultur. Wenn das jetzt alles eher enttäuschend klingt, dann soll hier das Calvert Journal zitiert sein: „Saransk ist (…) eine Elegie an Billigbauten mit krass präsentierten farbigen Glasplatten und leuchtend buntem Stuck. Hier kann man die Kontraste, den Irrsinn und die Gastfreundschaft der russischen Provinz in ihrer Bestform erleben.“

Was das Stadion angeht, finden sich in diversen Quellen sehr unterschiedliche Einschätzungen. Während die offizielle FIFA-Seite poetisch textet, der Bau solle „Sonne, Wärme, Offenheit und Gastfreundschaft“ symbolisieren, sieht der Guardian die Vorzüge der Mordwinien-Arena eher nüchtern: Sie „liegt nah genug am Bahnhof wie auch am frisch fertiggestellten Flughafen für alle Fußballfans, denen eher nach Großstadtleben ist.“

⚽ Sotschi. Eigentlich müsste man immer vorweg schicken, dass „Sotschi“ hier nur so halb stimmt – wir reden von Adler, jedenfalls wenn es darum geht, wo die WM-Spiele stattfinden. Der Vorort liegt eine gute halbe Stunde von Sotschis Stadtzentrum entfernt, das kann man gut mit dem Bus fahren oder, für kleines Geld, auch mit dem Taxi. Andererseits, und das ist für anreisende Fans dann wieder sehr praktisch, liegt der Flughafen in Adler, das sorgt für kurze Wege zu vielen Hotels und ins Fischt-Stadion, das tagsüber sehenswert ist und bei Nacht erst recht. Wo kann man schon mal in der Halbzeitpause aufs Meer blicken?

Sotschi selbst ist ein seit Jahrzehnten populärer Bade- und Kurort, nach Restaurants und Cafés muss man also nicht lange suchen. Auch sonst ist die Stadt, sagen wir mal: touristisch durchaus entwickelt. Oder, etwas drastischer formuliert: „Sotschi ist ein heruntergekommenes Paradies mit Neonschildern, seltsamen Geschäften und sonderbaren Kuranwendungen, hat sich aber trotzdem einen gewissen Charme erhalten.“ Zwischen all dem Geblinke und der Musikbeschallung empfiehlt sich ein Besuch im Dendrarium, einer Art botanischen Garten, der am Hang mit Blick aufs Wasser liegt. Kühl, schattig, halbwegs leise – der perfekte Ort an einem heißen Sommertag.

Auf dem Weg ins Fischt-Stadion in Adler
Auf dem Weg ins Fischt-Stadion in Adler

⚽ Wolgograd. Das Stadion – 45.000 Plätze, ab 2014 ohne größere Zwischenfälle gebaut – liegt in Sichtweite der wichtigsten Wolgograder Sehenswürdigkeit: Auf dem Mamajew-Hügel erinnern eine riesige Frauenstatue und eine Gedenkhalle mit ewiger Flamme an die Opfer der Schlacht von Stalingrad. Selbst bei den Vorbereitungen für den Stadionbau wurden nicht explodierte Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden. An neun Tagen im Jahr heißt die Stadt im Gedenken immer noch „Stalingrad“ statt „Wolgograd“.

Wer in Wolgograd lecker essen gehen will, orientiert sich am besten am „Foodball“-Blog, das Wolgograder Sprachstudenten auf Deutsch, Englisch und Russisch betreiben. Und biegt danach vielleicht noch Richtung „Alaska Bar“ ab – dort soll es Wassermelonenbier geben. Wenn das kein Alleinstellungsmerkmal ist.

⚽ Sankt Petersburg. Hier hat der russische Fußball seine Wurzeln, hier wurde selbst während der Belagerung im Zweiten Weltkrieg noch Fußball gespielt, um die Moral in der Bevölkerung zu unterstützen. Natürlich schaut man sich hier die Eremitage, den Newski-Prospekt und die Isaakskathedrale und die Admiralität an, dazu die Auferstehungskirche und und und… ihr seht das Problem, es gibt einfach verdammt viel zu sehen. Schließlich war das hier lange Zeit die russische Hauptstadt. Auch eine Fahrt mit der Metro lohnt sich wegen zahlreicher prächtiger Stationen (wie das Metrofahren funktioniert, steht hier). Und wenn man mit der Stadt durch ist, gibt es ja auch noch die ganzen Ziele im Umland wie den Lagodasee.

Am Stadion wurde rund zehn Jahre gebaut, manchmal leckt das Dach. Passend zur Größe der Stadt und des Topvereins Zenits ist die Arena hier auch deutlich größer, sie fasst rund 64.000 Zuschauer. Das ist schon ein ziemlich spektakuläres Bauwerk geworden – jetzt, wo es endlich fertig ist. Und überhaupt, zur Frage, warum das alles so lang gedauert hat, gibt es doch eine ganz leicht nachvollziehbare Antwort:

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Das Foto der Weißen Moschee ist von Ramil Photo360 unter CC BY-SA 4.0, das QWERTY-Foto ist von Kristina Wienand – vielen Dank! Nächste Woche bin ich dann wieder in Moskau und schreibe von da die nächste reguläre Russland-Folge. Bis dahin, macht’s gut!



 

Sowjetische Design-Objekte aller Arten, vereinigt euch!

kscheib sowjetunion mode

Bis vor einer Woche habe ich mir eingebildet, mich mit Moskaus Museen auszukennen.

Das Puschkin-Museum, das Garage-Museum, das Museum der Stadt Moskau, die alte Tretjakow-Galerie, die neue Tretjakow-Galerie, das Spielautomatenmuseum, das Multimedia Art Museum, das Museum für Moderne Kunst, das Fotomuseum „Brüder Lumiere“, das Museum für fernöstliche Kunst, das Zoologische Museum, das Darwin-Museum, das Kosmonautenmuseum, das Zentralmuseum der russischen Streitkräfte, das Architekturmuseum, das Museum des Großen Vaterländischen Krieges, das Paschkow-Haus – ich hab sie, so viel Prahlerei muss erlaubt sein, alle gehabt. Einige von ihnen auch mehrfach. Ins Museum gehen ist einfach, auch wenn man die Sprache noch lernt. Museen funktionieren immer gleich – Karte kaufen, rumlaufen, gucken.

Wie mir dabei fast vier Jahre lang das Moskauer Designmuseum durchgegangen ist – keine Ahnung. Mich grämt daran nicht so sehr, einfach ein Museum in Moskau nicht zu kennen – da wird es nicht das einzige sein. Aber so ein tolles, das noch dazu genau mein Ding ist! Wenn ihr mal bitte hier schauen wollt, was zunächst Russland und dann die Sowjetunion so hervorgebracht haben:

kscheib russland becherhalter

Ein Metallhalter, in den man sein Teeglas stellt. So um 1880 entstanden, unglaublich fein ausgearbeitet. Aber wir fangen ja erst an. Zwei Räume weiter, und es geht um russische Handarbeit. Zum Beispiel sowas hier:

kscheib russland design eichhörnchenkleid

So, damit kann ich dann auch endlich den Bergiff „Eichhörnchenkleid“ als Schlagwort für einen Blogpost vergeben – wieder einen Eintrag kürzer, die Bucket-List. Dazu noch die Holzbank im Hintergrund, eines von vielen ausgestellten Möbelstücken, natürlich Handarbeit, natürlich alt. Und wie immer die Frage im Hinterkopf: Gibt es irgendwas, das du mit deinen Händen so gut könntest?

Pappschatullen, schwarz lackiert und dann bemalt, sind russisches Traditionshandwerk – und eine der Kunstformen, die auch nach der Revolution populär blieb. Diese Dose hier ehrt Walentina Tereschkowa, die erste Frau im All und in der Sowjetunion fast so berühmt wie Juri Gagarin.

kscheib sowjetunion Walentina Tereschkowa

Dann, ein Museumszimmer weiter: Porzellan! Weil Hammer und Sichel aus Blumen einfach so viel schöner sind. Und weil doch bestimmt jeder beim Abendbrot vor einem Teller mit Lenins Gesicht und dem Slogan „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ sitzen möchte.

Mein Lieblingsstück ist aber der eckige Teller mit der Baustelle drauf. Dieser Optimismus, dass hier etwas völlig Neues entsteht, wenn alle mit anpacken – das muss man erst mal auf Geschirr unterbringen. Falls es einer auf dem Flohmarkt sieht: Ich nehme dann auch gerne direkt das ganze Service.

kscheib sowjetunion design mischa

Im Seitenflügel des Gebäudes wird es dann bunter, wir sind jetzt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Mischa, der Bär, 1980 das Maskottchen der Olympischen Spiele in Moskau, bewacht eine Vitrine mit Spielzeug – und ja, da ist nun wirklich alles an Farbe am Start, was man sich so denken kann.

Was halt damals plötzlich ging, dank Plastik. Hinten links das Krokodil Gena mit seinem großohrigen Freund Tscheburaschka, das vorne in der Mitte könnte die sowjetische Version von Karlsson vom Dach sein. Und natürlich ein Astronaut, Verzeihung: Kosmonaut.

kscheib sowjetunion design spielzeug

Weitere Erkenntnis: Wenn das Design stimmt, können sogar Haushaltsgeräte gut aussehen. Das türkise Ding in der Mitte mag ein Staubsauger sein, aber zur entfernten Verwandschaft gehört ganz klar ein großes altes Auto, so richtig schön mit Haifischflossen.

kscheib sowjetunion design haushalt

Was noch? Modekataloge, aus denen man sich allerlei bestellen konnte. In den Zeiten vor Layoutprogrammen und Photoshop bedeutete kreatives Marketing offenbar auch schon mal, dass römische Statuen für die neue Winterkollektion ihren Kopf hinhalten mussten.

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Zum Schluss noch ein Design-Exponat mit Deutschlandbezug. Die Zeitschrift heißt, nerdiger geht es kaum, „Technische Ästhetik“ und befasst sich in dieser Ausgabe mit „Der Rolle des industriellen Designs bei der erfolgreichen Ausführung der komplexen, sozial relevanten Aufgaben bei der Gestaltung der materiellen Umgebung“ – und all das dann im Zusammenspiel zwischen UdSSR und DDR, wie das Cover ja zeigt.

kscheib sowjetunion design ddr

Das Moskauer Design-Museum hat seltsamerweise keine Adresse oder Wegbeschreibung auf seiner Website, aber es liegt an der Ulitsa Delegatskaja 3. Der Б-Bus hält fast unmittelbar vor der Tür.

Ein Russe mit Triple-A-Rating

Gegenüber der Leninbibliothek gibt es eine kleine Straße, in der man nur selten Touristen trifft. Wer eine Moskauer Sehenswürdigkeitenliste abarbeitet, läuft ein paar Meter weiter östlich parallel die Mochowaja-Straße entlang, mit Blick auf den Kreml und die Manege. Der Romanow-Pereulok dagegen zeichnet sich dagegen bestenfalls dadurch aus, dass er an der Rückseite der Journalistischen Fakultät entlangführt, an einer Raiffeisenbank – und an dem Haus mit dem roten Sockel und den vielen Gedenktafeln.

Viele mittelgroße Sowjetgrößen haben hier gelebt, zentral und durchaus prestigeträchtig: Marschall Iwan Stepanowitsch Konew, dessen Einheiten Auschwitz und später auch Prag befreiten. Wladimir Pawlowitsch Barmin, der am Weltraumbahnhof in Baikonur mitgebaut hat. Alexei Alexandrowitsch Kusnezow, kommunistischer Parteifunktionär, der mal als Stalins Nachfolger gehandelt und dann auf Stalins Geheiß hingerichtet wurde. Sabit Atajewitsch Orudschew, sowjetischer Öl- und Gasminister.

Für jeden von ihnen wurde hier eine Gedenktafel angebracht – meist mit Porträt, dazu eine kleine Biografie, die Schrift in Grabsteinoptik. Aber keine der Tafeln hat es mir so angetan wie das schlichte, schwarze Rechteck mit den grauen Buchstaben. Kein Porträt, nur Text, alles ganz dezent. Aufgehängt zur Erinnerung an Andrej Andrejewitsch Andrejew. Als ich eben meine Fotos aus dem Romanow-Pereulok auf dem Handy gesichtet habe, stellte sich raus: Dieses Motiv habe ich schon mehrfach fotografiert.

Andrej Andrejewitsch Andrejew

Auch Andrejew fällt in die Kategorie „mittelwichtig“, oder besser noch, wie Kusnezow: „war mal ziemlich wichtig und verlor dann an Macht“. Auf diesem Foto aus dem Jahr 1935 ist er der Mann im schwarzen Anzug, der vor Stalin steht und aussieht wie die Monty-Python-Version eines französischen Malers. Im Politbüro war er vor allem für Landwirtschaft zuständig, Wikipedia hält über Andrejew noch den schlicht-schönen Satz bereit: „Nach ihm wurden Lokomotiven benannt.“

Man merkt, es sind nicht Andrejews Taten, die ihn zu meinem Favoriten in Sachen Gedenktafeln machen. Dass seine mir die Liebste ist, liegt weder an Landwirtschaft noch an Lokomotiven, sondern bloß am Klang. Ich weiß noch, wie ich ihn mir im Kopf vorgesprochen habe, als das Kyrillischlesen noch schleppte. Wie ich mich gefreut habe über Andrej (!) Andrejewitsch (!) Andrejew (!), diesen Dreiklang aus Vorname, Vatersname und Nachname!

Putin mag Wladimir Wladimirowitsch heißen, an Andrejew kommt er erst dann heran, wenn er seinen Nachnamen auf Wladimirow ändert. Andersrum ist meine stille Hoffnung, dass der Fußballspieler Wladimir Wladimirowieser bulgarische Fußballspieler oder Professor Wladimir Wladimirow vielleicht einen Vater namens Wladimir hatte und sein „Wladimirowitsch“ nur vergessen hat, zu erwähnen.

Vor allem aber wünschte ich, es gäbe einen Begriff dafür, wenn ein Russe seine drei Namensbestandteile so schön synchronisiert. Хет-трик (Hattrick) könnte man sagen, klar, aber das ist so allgemein. „Doppelt gemoppelt“ ist zu wenig.

Schön wäre irgendwas zwischen „Namens-Fullhouse“ und „The Real McCoy“, zwischen „Ein-Mann-Triumvirat“ und „Hendiatryoin“, um ihnen allen gerecht zu werden: Nicht nur meinem Moskauer Andrej Andrejewitsch Andrejew, sondern auch Iwan Iwanowitsch Iwanow, Nikolai Nikolaiewitsch Nikolajew und den anderen, so es sie denn gibt. Am besten noch mit einem Ritual dazu: Wem ein solcher Name begegnet, der muss irgendetwas Albernes rufen, sich dreimal um sich selbst drehen und hat dann einen Wunsch frei. Das gilt dann, bitte, ab sofort. Ich stelle mich in den Romanow-Pereulok und überprüfe das.

Der Mann auf dem Boot

boot moskau kscheib

„Komm mit auf ein Bierchen nach Gelsenkirchen,“ sagt der Russe auf dem Ausflugsboot und strahlt. Schalke-Fan sei er, natürlich, und heute Abend für „die Bundesmannschaft.“ Gucken will er mit einem Kumpel, sie haben sich 24 Bier kalt gestellt – 6 Veltins, 6 Leffe und 12 andere. Damals, bei dem Brasilien-Spiel, hatte er sich ja vorgenommen, für jedes Tor ein Bierchen zu trinken – das war ein harter Abend. Eine Flasche Jägermeister kann er jedenfalls durchaus an einem Abend trinken, nicht, weil er Alkoholiker wäre, bloß ein großer Mann halt.

Beruflich war er oft in Deutschland, das da drüben ist übrigens ein Open-Air-Theater, da treten oft so Death-Metal-Bands auf wie die, in der er damals gespielt hat, als er noch die Haare bis zum Hintern hatte, darum ja auch die ganzen Tattoos. Und wir sind also alle drei aus Deutschland? Super, er hat da zwei gute Freunde, Stefan und Ralf. 

Hier, die Brücke ist interessant, oben Autos, auf der Etage drunter nicht nur Schienen für die Metro – ihr sagt „U-Bahn“ auf Deutsch, oder? – sondern sogar eine Haltestelle, mitten auf der Brücke, welche Stadt hat sowas schon. Die Haltestelle heißt „Sperlingsberge“, kleiner Vogel, genau, ja, sparrow – auf Deutsch also Sperling? Okay. „Adler“ kennt er auch, „Storch“, „Taube.“ 

Er interessiert sich ja sehr für Geschichte, vor allem deutsche, der Kaiser damals, die ganze Epoche, und die Marine – meine Güte, was waren das für Schiffe, Riesenschiffe! Politik hingegen – das da vorne ist übrigens eine Sporthalle, wir nennen sie auch die Schildkröte, ihr seht ja, warum, und dahinter das Stadion machen wir gerade schön für die WM 2018. Wobei, die russische Nationalmannschaft, ach, wie die schon laufen, schau mal, so – er dreht die Fußspitzen nach innen und taumelt übers Deck. Nein, die Russen können halt keinen Fußball spielen, Eishockey, ja, aber keinen Fußball, da sind wir für andere Teams, Deutschland, Italien, aber heute Abend, keine Sorge, das schafft Deutschland schon. 55 Zoll groß ist der Bildschirm zuhause, von Hitachi – schon riesig, ne? 

Politik jedenfalls, das ist nichts für ihn. Was die Merkel da mit den muslimischen Flüchtlingen macht, muss sie selber wissen. Und hier in Russland, ach hör auf. Wobei: Ihr denkt immer, Moskau, ja ja, Wodka, Matrjoschkas, Balalaikas – und dann kommt ihr hierher und das ist eine europäische Stadt! Politik ist Scheiße, warte, auf Deutsch: Katzendreck! 

Das sind übrigens Solarzellen und Antennen da oben auf der Akademie der Wissenschaften, sieht ein bisschen aus wie ein Gehirn, ne? Sagt mal, raucht ihr? Nee? Klug, ich leider schon, nicht viel, so fünf, sechs am Tag. Ich bin mal kurz weg.

Ruhig liegt die Moskwa. Ein leichter Wind zieht übers Wasser. Am Ufer sitzen Menschen auf Bänken, unterhalten sich oder blicken einfach in die Ferne und…

Ja, jedenfalls, das mit der Politik. Hitler war verrückt. Stalin war verrückt. Heute weiß man das. Wobei heute ja wieder mehr Leute Stalin mögen, und was schon stimmt: Also gegen Religion hatte Stalin eigentlich gar nichts, der hat auch keine Kirchen einreißen lassen, das waren alles seine Leute in den Ministerien, Chruschtschow, Molotow.

Heute gibt es in Moskau übrigens 600 Kirchen, auch eine Deutsche, und oh, guckt mal da, das Gesicht an der Hauswand, kennt ihr den? Nein? Ach komm – das ist Hermann Hesse, da steckt so ein Künstler hinter. Ja, wir sagen German Gesse, ist halt so auf Russisch, wir haben ja auch German Gering gesagt, und Adolf Aloisewitsch.

Die Brücke da nennen wir ja auch die Kussbrücke, da war mal so eine Aktion fürs Guinnessbuch – über zweitausend Menschen, die sich küssen. Und das da hinten ist unser Außenministerium, und jetzt sind wir ja auch schon da, Kiewer Bahnhof, einer von zwölf Bahnhöfen in Moskau, Flughäfen haben wir vier. Dann macht’s mal gut, wir sehen uns, auf ein Bierchen in Gelsenkirchen! 

2015 – das Jahr in Büchern

kscheib Bücher 2015

Gute Vorsätze so auszuwählen, dass man sie auch einhält – das ist die Kunst. Meine Lesevorsätze für 2015 hießen also:

1. Mehr Bücher von russischen/sowjetischen Autoren – um das inzwischen nicht mehr ganz so neue Heimatland noch besser kennenzulernen.

2. Mehr Kurzgeschichten – weil „The Assassination of Margret Thatcher“ von Hilary Mantel letztes Jahr so viel Spaß gemacht hat, und weil einem Kurzgeschichten viel zu selten begegnen, wenn man sie nicht sucht.

3. Mal wieder was auf Französisch lesen – um zu gucken, ob es noch geht.

Was fehlt auf dieser gebloggten Leseliste? „Londongrad“, das ich nach den ersten Seiten abgebrochen habe (Darf man das? Sollte man sogar? Gerne hier mitreden), weil es so pseudodramatisch rüberkam wie eine Sendeplatzfülldoku über Hitlers Hunde. Und allerlei Dinge, die ich zwar gerne gelesen habe, die der Form nach aber kein Buch waren:

Iterating Grace“ zum Beispiel, diese geheimnisvolle Erzählung, die einige Leute in den USA plötzlich als Band im Briefkasten hatten. Fanfiction, zu „Sherlock“ und, aus Gründen, zu „The West Wing“. Einen Stapel Kurzgeschichten zum Thema „Conflict“, als Jurorin für einen Wettbewerb von Red Line. (Der Siegertext, „Don’t Go Darling Boy“ von Sophie Petit-Zeman, war auch mein Favorit – lesen lohnt sich. Alle Geschichten, die es in dieser Runde auf die Shortlist geschafft haben, hier zum Nachlesen.)

Der Rest waren aber tatsächlich alles Bücher. Hier also die Liste – per Klick auf den Titel lassen sich Details ausklappen.

“Leuchtspielhaus” von Leif Randt.
leuchtspielhaus „Schimmernder Dunst über Coby County“ hab ich vor ein paar Jahren auf diesen Auftritt hin gekauft und gemocht; „Leuchtspielhaus“ liest sich ähnlich gut. Eine Londoner Hipster-Künstler-Modedesigner-Szene, die vor allem aus Nicht-Briten besteht. Darüber schwebt der Mythos um Bea, so eine Art Mischung aus Banksy und Godot, die in der Stadt Kunst hinterlässt, damit die Hipster-Künstler-Modedesigner sie dann finden und ausdeuten können. Ich weiß nicht, ob eine der Figuren auch nur einmal im ganzen Buch einen authentischen Gedanken denkt oder einen Satz sagt, ohne dessen Wirkung auf andere zu reflektieren. Aber die Sätze sind so satirisch-schön, wie sie oberflächlich sind. Existenzkrise: „Alle Katzen, die ich zeichne, scheint man schon auf T-Shirts gesehen zu haben.“ Ein Tag im Park: „Die Luft riecht gebraten; ein Pakistani verkauft eigengewerblich Würstchen.“ Zukunftspläne: „Dann male ich größere Pandas.“

 

“A History of the World in 10½ Chapters” von Julian Barnes.
history of the world barnesEin Holzwurm erzählt, wie er sich auf die Arche geschmuggelt hat. Ein Schauspieler schreibt vom Dreh im Dschungel Briefe an seine Freundin. Eine Frau steigt in ein Boot und fährt los, um der Apokalypse, dem Atomkrieg oder sowas Ähnlichem zu entkommen. Die Geschichten sind nicht nur jede einzeln klasse, sondern erst recht, wenn man so ab Nummer vier oder fünf immer mehr Verbindungen und gemeinsame Themen entdeckt: Noah eben mit seiner Arche. Boote überhaupt. Gott. Bitumen. Holzwürmer. Freier Wille. Oft ist das sehr geschickt von der einen Geschichte in die andere gestrickt – und manchmal auch demonstrativ-dreist noch schnell ein Verweis drangeklatscht, im letzten Satz. Ausgelesen und am nächsten Tag schon weiterverliehen.

 

“The Memorial” von Christopher Isherwood.
isherwood the memorialEin Buch im Taxi zum Flughafen in Moskau aufschlagen, am Gate weiterlesen und die letzte Seite in dem Moment umblättern, wo die Räder des Fliegers Düsseldorfer Boden berühren. So war das mit diesem Isherwood, der seine Figuren immer wieder aus anderen Blickwinkeln zeigt, dabei durch die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg springt und zwischen Wärme und Satire diesen Ton trifft, den ich an Isherwood so mag. Bitte nicht von dem Klappentext abschrecken lassen, den Random House dem Buch verpasst hat. Viel besser trifft es diese Rezension: „The plot of ‚The Memorial‘ can be discussed very briefly: it doesn’t have one. It doesn’t need one. The book proceeds, not forward in time, but inward by layers. Isherwood has a wonderful gift of getting inside people.“

 

“Der überflüssige Mensch” von Ilija Trojanow.
der überflüssige menschInnehalten, ein paar Schritte zurücktreten und einen analytischen Blick auf das werfen, was wir für gegeben halten: Ilija Trojanow macht das in diesem Essay mit dem Kapitalismus und seinen Auswirkungen auf die Menschenwürde. Das ist oft interessant, manchmal eher nölig (alberner Seitenhieb gegen die englische Sprache) und, in seiner Kürze, eher eine Diagnose als eine Anregung, wie etwas anders laufen könnte. Am interessantesten war darum, was ich nicht aus dem Buch, sondern beim Drumherumlesen gelernt habe: dass der „überflüssige Mensch“ eine populäre Figur in der russischen Literatur ist.

 

“Boy Meets Boy” von David Levithan.
boy meets boyEinen Schluck „suspension of disbelief“ nehmen und schon kann man sich verlieren in dieser Highschool-Liebesgeschichte zwischen Paul und Noah. Nötig ist der Schluck, weil in ihrem Heimatort Homophobie kein Thema ist – nicht mal Boy Scouts gibt es hier, die örtliche Abteilung hat sich abgespalten und heißt jetzt Joy Scouts. (Das Buch ist aus dem Jahr 2003, inzwischen sind die einst recht homophoben Boyscouts ein bisschen weiter.) Nach ein bisschen Eingewöhnung ist das hier jedenfalls ein Jugendbuch mit vielen originellen Figuren, das man gut lesen und noch besser jemandem im Highschool-Alter schenken kann.

 

“Pnin” von Vladimir Nabokov.
nabokov pninWie gemein, wie toll beobachtet, wie ungewöhnlich formuliert! Eines dieser Bücher mit so vielen cleveren Wendungen und Anspielungen, dass man ständig zitieren möchte. Die Hauptfigur wird gerade zu Beginn oft als verpeilt und seltsam vorgeführt, ehe man seine komplexeren Seiten kennenlernt. Dazu satirische Seitenhiebe auf den akademischen Betrieb – das war nicht mein letzter Nabokov, so viel steht fest.

 

“What If” von Randall Munroe.
what if xkcdJa, der Randall Munro von xkcd hat das Buch geschrieben, es ist aus einem Nebenprojekt entstanden, bei dem ihm Leute komplett bekloppte Fragen stellen und er sie ernsthaft und nach allen Regeln der Wissenschaft beantwortet: Wenn alle Leute auf der Welt einen Laserpointer auf den Mond ausrichten, ändert sich dann dessen Farbe? (Nö.) Wie hoch kann ein Mensch einen Gegenstand werfen? (14 Giraffen hoch, wenn es ein Profisportler ist.) Was passiert, wenn man das Periodensystem nachbaut aus Ziegelsteinen, bei denen jeder aus dem entsprechenden Element ist? (Einiges, aber spätestens ab Phosphor wird es unerfreulich.) Das beste Kapitel spielt durch, was passiert, wenn man die Ozeane der Welt leerlaufen lässt: Weltherrschaft für die Niederlande!

 

“We” von Yevgeni Zamyatin.
zamyatin weWie der Nabokov weiter oben ein Buchclubbuch, und ja: Mit den richtigen Leuten funktioniert das Prinzip, sich die Buchauswahl aus der Hand nehmen zu lassen. Vor allem, wenn die mehr Ahnung von russischer Literatur haben als ich (also ungefähr alle Leute in Moskau). Dieser totalitäre, dystopische Staat, dessen Bewohner keine Menschen mehr sein dürfen sondern nur noch Ziffern, und der nun daran arbeitet, als letztes Problem auf dem Weg zum uniformen Glück noch die Vorstellungskraft zu vernichten – das liest sich sehr eindringlich, wenn man zwischen Betonklötzen entlang geht oder mit der Metro unter der Stadt entlang rattert.

 

“The Bedroom of the Mister's Wife” von Philip Hensher.
hensher bedroom of the mister's wife„Der war in der Weihnachts-Promi-Staffel von University Challenge so schlau und sympathisch“ ist vielleicht kein ganz gängiger Grund, einen neuen Autor auszuprobieren. Aber auch kein schlechter. Denn solch einen Band Kurzgeschichten kann bestimmt nicht jeder schreiben, jedenfalls nicht so, dass die Geschichten gelingen: eine russische Emigrantin in Cambridge, die ihren Kühlschrank hasst, ein junges Paar, das mit dem Hauskauf das Böse in sein Leben holt, zwei Männer, die sich über eine ominöse Wer-mit-Wem-Übersicht unterhalten, die den einen seine Beziehung gekostet hat. Manches ist autobiografisch angehaucht, einmal läuft Ulrike Meinhof durchs Bild, und immer ist die nächste Geschichte wieder ganz anders. Und die Sprache so, dass ich gelegentlich besonders gelungene Stellen abtippen oder -fotografieren und wem anders schicken musste, zum Mitfreuen. Ganz abgesehen davon, dass ein Autor, der sich bei Twitter meldet, wenn ein Leser was nicht versteht, so falsch nicht sein kann.

 

“Adibas” von Zaza Burchuladze.
ADIBAS_coverIm Vordergrund Party und Konsum, im Hintergrund Krieg. „Fiddling while Rome burns“ heißt das Prinzip das wohl im Englischen, auf Deutsch wäre es vielleicht der „Tanz auf dem Vulkan“. So ganz rund hat sich dieses Buch beim Lesen zwar nicht angefühlt, aber Zaza Burchuladze probiert immerhin viel aus, spielt mit Marken und Logos, mit verschiedenen Text-Genres einschließlich Skype-Chat und Horoskop. Dazu noch eine Ladung „Wenn ihr glaubt, meine Sprache ist obszön, solltet ihr mal überlegen, wie obszön Krieg ist.“ Nicht so richtig neu, aber eindringlich.

 

“Die Sache mit Tom” von Rüdiger von Fritsch.
die sache mit tomRüdiger von Fritsch ist unser deutscher Botschafter hier in Moskau, und nach allem, was man von ihm so mitbekommt zu Themen wie Journalismus, Pressefreiheit und Russland-Berichterstattung, fühle ich mich gut von ihm vertreten. Vor ein paar Jahren hat er aufgeschrieben, wie er 1974, kurz nach dem Abitur, seinen Cousin aus Ostdeutschland herausgeschmuggelt hat. Der Gedanke, dass jemand, der später für den Bundespräsident arbeiten und BND-Vizechef werden würde, in jungen Jahren Pässe gefälscht hat und eine Gefängnisstrafe riskiert, um jemandem zur Freiheit zu verhelfen, gefällt mir.

 

“Halfway to Hollywood” von Michael Palin.
halfway to hollywood palinDer zweite Band der Palin-Tagebücher, wieder im Urlaub gelesen, wieder genau richtig dafür. Beim Tagebuchformat kann man so schön leicht ein- und aussteigen, es lohnt sich also, das Buch auch mal nur für zehn Minuten in die Hand zu nehmen und zu lesen, was ein intelligenter, warmherziger, lustiger Mensch über sich und seine Zeitgenossen schreibt. Ausgelesen und sofort Band drei bestellt, für den nächsten Urlaub.

 

The Children Act” von Ian McEwan.
the children act ian mcewanUnangenehmes Gefühl, ein Buch für unseren Buchclub vorzuschlagen und dann die einzige zu ein, der es so richtig gefällt:  ein moralischer Konflikt, eine interessante, komplexe Hauptfigur in einer Sinn- und Lebenskrise, Musik als Gemeinsamkeit über Generationen hinweg und die kluge, klare McEwan-Sprache – für mich hat’s funktioniert, auch wenn ich es schwer finde, genauer zu erklären, warum. Und „Down by the Sally Gardens“, die Schlüsselmelodie des Buchs, kann man auch gut mal kennen.

 

“The Literature Express” von Lasha Bugadze.
the literature expressWer jemals mit einem Stipendium im Ausland war, bei einem Seminar mit internationalen Teilnehmern mitgearbeitet hat oder auch nur vage verfolgt, was für Kulturprojekte so ausgelobt und gefördert werden, wird an diesem Buch seine helle Freude haben. Denn es gibt so viele Momente zum Wiedererkennen in diesem Band, in dem eine nicht näher benannte deutsche Kulturorganisation (in meinem Kopf: das Goetheinstitut) auf die Idee kommt, eine Gruppe Schriftsteller aus verschiedenen Ländern mit dem Zug durch Europa tingeln zu lassen. Buchmessen und latent anstrengende Lesungen. Gruppendynamik und permanentes Wer-mit-wem-Getuschel. Deutsche Reiseleiter und halbverkrampfte Tanzabende. Zu überlegen, was an diesem Buch Fiktion ist und was Fakt, gehört zum Lesegenuss dazu. Auch, wenn man nicht genau weiß, ob man gerne mitgereist wäre oder dabei doch den Rappel bekommen hätte.

 

“The Imperfectionists” von Tom Rachman.
the imperfectionistsEine doppelte Empfehlung, von gleich zwei Freundinnen, und völlig zu Recht. Es geht um eine kleine Zeitung in Italien, die auf Englisch erscheint – natürlich fällt es da schwer, im Kopf keine Parallelen zu meinem aktuellen Arbeitgeber zu ziehen. Die ganzen Journalistenmacken fand ich gut und glaubwürdig porträtiert, und die Mischung aus versäumten Chancen, fehlender Innovation und inkompetenter Geschäftsführung, die letztlich zur Schließung des Blattes führen, hat man so oder ähnlich auf dem deutschen Medienmarkt auch schon öfter erlebt. Nach dem Lesen ein kurzes Stoßgebet, dass die Moscow Times noch ein paar Jährchen vor sich hat.

 

“Georgisches Reisetagebuch” von Jonathan Littell.
georgisches reisetagebuchKein Buch bloß über, sondern direkt aus dem Georgien-Krieg im Jahr 2008. Der französisch-amerikanische Schriftsteller Jonathan Littell war damals auf beiden Seiten unterwegs und beschreibt hier nun  die Strategien der zwei Konfliktparteien, ihren unterschiedlichen Umgang mit Journalisten und das tagtägliche Kleinklein aus Chaos, Taktieren und Feilschen in der Region. Ein kleiner Band, keine 60 Seiten, aber extrem nah dran und darum lesenswert.

 

“Journey to Karabakh” von Aka Morchiladze.
journey to karabakhGeplant war ein Drogendeal, stattdessen geraten zwei Freunde nach Karabach und dort zwischen die Fronten. Die folgende Geschichte ist manchmal drastisch und oft überraschend leicht. Bemerkenswert auf jeden Fall, dass Gio, die Hauptfigur, als Gefangener im Krisengebiet freier in seinen Entscheidungen ist, als er es zuhause unter der Fuchtel seines Vaters war. (Vor diesem Buch noch mal ein paar Details zu Armenien, Aserbaidschan und Karabach nachzulesen, hilft.) 

 

“Lingo” von Gaston Dorren.
lingo„A language spotter’s guide to Europe“ soll es sein, genau das richtige Buch für einen Sprachnerd also. In jedem Kapitel nimmt sich Dorren eine andere Sprache vor und zeigt eine ihrer Macken. Die vielen, nicht immer schmeichelhaften Versionen des Italienischen für „Frau“ (Donnina? Donnetta? Donnicina?). Das schiere Tempo, in dem Spanier ihre Silben raushauen. Nebenbei gelernt: Bis in die Sechzigerjahre hatten schwule Männer in England ihre eigene Geheimsprache namens Polari. Norweger haben ein Wort für ein Bier, das man im Freien trinkt: Utepils. Und „Quark“ kommt tatsächlich vom Sorbischen „twarog“ – offenbar also ein direkter Verwandter des Russischen „tworog“. 2016 soll das Buch auf Russisch erscheinen.

 

“Jeeves in the Offing” von P.G. Wodehouse.
jeeves in the offingDer erste „Jeeves“-Band hat mich letztes Jahr ja nicht so mitgerissen, den hier fand ich schon viel besser. Was vermutlich weniger an den beiden Geschichten liegt als daran, dass man sich an diese Figuren, ihre Marotten und die Sprache, in der von ihnen erzählt wird, erst mal gewöhnen muss. Dann macht das Wiedererkennen tatsächlich Freude – erst recht als leichte kleine Urlaubslektüre, zu großen Teilen gelesen auf allerlei U-Bahn-Fahrten durch London.

 

“Die Reise nach Armenien” von Ossip Mandelstam.
reise nach armenienZu konfus, zu verwirrend, zu viel wildes Assoziieren: Bei manchen dieser kurzen Skizzen aus den 1930ern wusste ich am Ende immer noch nicht recht, worum es geht. Ja, das ist sicher alles originell formuliert und sprachlich liebevoll poliert – aber Lesefluss gibt es halt keinen. Also: Mandelstam-Gedichte weiterhin jederzeit gerne. Mandelstam-Prosa lieber nicht noch einmal.

 

“Fathers and Sons” von Ivan Turgenev.
turgenev fathers and sonsHat ein bisschen gedauert, bis ich mit den Figuren warm geworden bin – und so richtig hat mich bis zum Schluss nicht berührt, was aus denen allen wird. Ja, der Generationenkonflikt steht für den Umbruch in Russland zu Turgenevs Zeiten, versteh ich alles, aber Bazarov – dieser grundzynische Nihilist, der alles in Frage stellt – hat mich wirklich lange genervt. Trotzdem liest sich das Buch gut, wegen Turgenevs Sprache und dem, was er mit seinen Charakteren so veranstaltet: Der Nihilist zum Beispiel darf nicht Nihilist bleiben, sondern ist zunehmend für die großen Gefühle zuständig, bei sich und bei anderen. Dazu ein paar typisch russische Orte und Themen – Birkenwäldchen, Landsitz, Duellanten. Sommerlektüre. 

 

“The Penguin Book of Russian Poetry” von Robert Chandler, Boris Draalyuk und Irina Mashinski (Hrsg.).
penguin book of russian poetryEines der Bücher, an dem ich in diesem Jahr die meiste Freude hatte. Weil es so schön langsam ging – Gedichte kann man ja nicht einfach so runterlesen wie einen Krimi, oder ich kann es jedenfalls nicht. Also sind mit diesem Buch Erinnerungen verbunden an viele halbe Stündchen auf dem Balkon und ans Abtippen, wenn etwas besonders griffig war. Zusätzlich zu den Gedichten gibt es gut geschriebene, pointierte Kurzbiografien der einzelnen Autoren. Was hängen bleibt von dieser geballten Ladung russische Dichtung, von diesem Band mit seinen über 500 Seiten: Eindrücke davon, was das Leben dieser Autoren geprägt hat, durch die Jahrhunderte, nämlich Orthodoxer Glaube, Natur, Familie, Liebe – und immer wieder politische Verfolgung.

 

“Letters to Georgian Friends” von Boris Pasternak.
letters to georgian friends pasternakFür Pasternak war, wenn man diese Briefe liest, Georgien zeitlebens das Gelobte Land. Weit weg von Moskaus Zwängen, in der Gesellschaft anderer Schriftsteller und ihrer Familien tankte er hier Kraft. Nachdem seine beiden engsten Freunde aus diesem Kreis bei Stalins „Großer Säuberung“ ermordet werden, schreibt er vor allem immer wieder an Nina, die Witwe von Titian Tabidze. Lesenswert nicht nur wegen der Einblicke in Pasternaks Arbeitsalltag zwischen Gedichten, Übersetzerarbeit und später „Doktor Schiwago“, sondern auch dafür, mit welcher Hingabe er Freundschaften pflegt und feiert.

 

“Ein Monat auf dem Lande” von Iwan Turgenew.
ein monat auf dem landeNoch mal Turgenew, diesmal in der deutschen statt in der englischen Übersetzung. Und nein, das war keine bewusste Entscheidung, sondern nur der Tatsache geschuldet, dass die Moskauer Läden eher englische Versionen anbieten, dieses Buch hingegen in Deutschland gekauft ist, ganz stilecht als Reclamheft. Das Setting ist ähnlich wie bei „Fathers and Sons“ (Russland, obskurer Landadel, Sommer), aber dieses Stück hat mich beim Lesen mehr gefesselt. Dabei hat sicher geholfen, dass ich die ganze Zeit die Eindrücke aus London vor Augen hatte, aus der rundum gelungenen Aufführung einer Patrick-Marber-Bearbeitung dieses Stoffes. „Three Days in the Country“ statt ein ganzer Monat – das hat dem Stück gut getan und mir beim Lesen viele Bilder im Kopf beschert.

 

Travelling to Work: Diaries 1988-1998” von Michael Palin.
travelling to work michael palinDrei Bände Palin-Tagebücher à rund 500 Seiten, gelesen innerhalb von anderthalb Jahren, von Monty Python über „Ein Fisch namens Wanda“ bis hin zu seinen Reise-Dokus. Weil der Mix aus Zeitgeschichte und Anekdoten, aus Entertainment-Industrie und Palins Handwerk als Autor, Moderator und Schauspieler sich einfach so gut liest. Wie sich dabei das Leichte, Lustige immer wieder mit dem Ernsten mischt, zeigt ein Tagebuch-Eintrag aus dem Jahr 1996: Als Palins Frau Helen ein Hirntumor entfernt wird, hat der Chirurg beim Nachsorgetermie eine Bitte: Ob er vielleicht mit Palin für ein Foto posieren könnte, als Gumby? Alle Hirnchirurgen seien schließlich große Gumby-Fans, wegen dieses einen Python-Sketches. Das Foto ist dann auch tatsächlich entstanden. Und sobald Palins vierter Band erscheint – das müssten dann die Jahre 1999-2009 sein – kommt er auch wieder auf die Leseliste.

 

“Heavy Water” von Martin Amis.
martin amis heavy waterEine Welt, in der die Mehrheit schwul ist (oder, mutmaßlich, lesbisch, aber es tauchen nur männliche Paare auf) und mit Befremden auf die paar Heten guckt, die da plötzlich für ihre Rechte einstehen. Eine Unterhaltungsindustrie, die total auf Gedichte abgeht, während ein Autor von SciFi-Filmen es zu nichts bringt. Ein Mann, der seine Frau hintergeht – „mit sich selbst“, wie es der Klappentext so taktvoll formuliert. Konstruiert, ja, aber es funktioniert. Nur mit der letzten Geschichte hab ich gekämpft, weil sie lautmalerisch zeigen will, dass da ein Kind spricht, dessen Akzent halb britisch und halb amerikanisch ist. „Jagob is dodally obzezzed by durdles, dordoizes, vrags, doads, labzders, grabs, and all zords of zlimy and weird-shabed rebdiles.“ Das hat sich dann doch mehr nach Gimmick als nach einem Kunstgriff angefühlt.

 

“Going Solo” von Roald Dahl.
going solo roald dahlEin Flohmarktfund. Den ersten Band von Dahls Autobiografie, „Boy“, hatte ich vor Jahren mal gelesen und gemocht. In diesem Buch erzählt er von seinem Leben als Shell-Mitarbeiter in Afrika in den 1930er Jahren, vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und von seinen Einsätzen als Kampfpilot – alles mit diesem Roald-Dahl-Blick, der ihn auch zu so einem tollen Kinderbuchautor macht: Neugier, Staunen, Freude am Fabulieren. Gewundert hat mich nur, dass dieser Band als Buch für junge Leser vermarktet wird: bunt gezeichnetes Cover, „superb stories, daring deeds, fantastic adventures“ als Anreißer auf der Rückseite, erschienen bei Puffin, der Kindersparte von Penguin. Von Dahls detailliert beschriebenen Kriegsverletzungen bis hin zu dem, was er an Wissen über Frontverläufe, Hitlerdeutschland und das Vichy-Regime voraussetzt, ist das hier vielleicht was für Jugendliche, die sich für Geschichte interessieren. Aber sicher kein Kinderbuch.

 

“The Time Traveller's Guide to Medieval England” von Ian Mortimer.
time travellers guideEine Alltagsgeschichte des 14. Jahrhunderts, mit all dem, was sie einem als Journalist so einbimsen übers Reportageschreiben: Was sieht, hört, riecht man? Vieles schildert Mortimer so anschaulich, dass es bei mir auf Dauer hängengeblieben ist: Der Geruch von Abwasser, wenn ein Wanderer sich damals einer großen Stadt näherte – in Exeter hieß der Bach, in den all das geleitet wurde, ehrlicherweise gleich „Shitbrook“. Die Stille des Alltags, und wie sehr dadurch Musik zur Geltung kam. Bloß die Kapitel über Krankheit und mittelalterliche Chirurgie waren so anschaulich, dass ich einige Absätze überspringen musste.

 

“Prater Violet” von Christopher Isherwood.
prater violet isherwoodReicht „ist halt von Christopher Isherwood“ als Begründung, warum auch das hier wieder ein großer Lesegenuss war? Der Autor Isherwood macht sich liebevoll über seinen Protagonisten Isherwood lustig und verbindet außerdem eine Geschichte über die Filmindustrie in den Dreißigern mit Hitlers dräuendem Aufstieg, der politischen Situation in Österreich und der britischen Haltung irgendwo zwischen „da muss man doch was machen“ und „was geht uns das an?“. Und all das mit diesen Isherwoodbeobachtungen: „The King’s Road was wet-black and deserted like the moon. It did not belong to the King or to any human being. The little houses had shut their doors against all strangers and were still, waiting for dawn, bad news and the milk.“

 

“Soviets” von Danzig Baldaev & Sergei Vasiliev.
Soviets baldaev vasilievKarikaturen und Fotografien aus Sowjetzeiten, die Zeichnungen offen kritisch, die Bilder eher zeitgeschichtliche Dokumente. Zusammen sind das zwei interessante Blicke auf den Alltag in der UdSSR, auf Arbeit und Korruption, Kirche und Staat, auf Machthunger hier und sehr realen Hunger dort. Viele der Karikaturen sind mutig, andere legen einen krassen Antisemitismus an den Tag. Bei beiden war ich froh über die Fußnoten zum historischen Kontext.

 

“Hack Attack” von Nick Davies.
hack attack nick daviesEiner der besten britischen Investigativjournalisten lässt sich in die Karten gucken: In „Hack Attack“ beschreibt Nick Davies, wie er über Jahre hinweg nach und nach das Ausmaß aufgedeckt hat, in dem das Murdoch-Blatt „News of the World“ die Telefone von Prominenten, Politikern, Opfern von Verbrechen und deren Angehörigen abhören ließ. Erschütternd ist daran vor allem, wie eng Polizei und Politik mit diesem Konzern verquickt waren und die Ermittlungen verschleppt oder behindert haben: Andy Coulson, zu dessen Zeit als Chefredakteur das Abhören gängige Praxis war, wurde später Pressesprecher des frisch gewählten Premierministers David Cameron. Was das Buch außerdem zeigt: Dass eine solch intensive Recherche nur selten aus spektakulären Undercover-Wallraffiaden besteht und sehr viel öfter aus Beharrlichkeit, Papierkram, Kontaktpflege und dem Bau von Allianzen. Und dass es nicht nur Journalisten braucht, die solche Themen recherchieren, sondern auch Chefredakteure wie Alan Rusbridger vom „Guardian“, die das Rückgrat haben, solche Geschichten zu veröffentlichen.

 

“Ёжик в тумане (Joschik w tumane)” von Juri Norstein.
igel im nebelDas Kinderbuch zum berühmten sowjetischen Zeichentrickfilm über den kleinen Igel, der sich auf dem Weg zu seinem Freund, dem Bären, im Nebel verläuft. Eine gruselige Welt, in der er sich dort findet, aber dank der Ideen des Igels hat sie auch ihren Zauber: „Der Igel riss einen Grashalm aus, auf dem ein Glühwürmchen saß, und hielt ihn hoch über den Kopf, als wäre es eine Kerze.“ Weil Patenkind 2 das Buch zu Weihnachten bekommt, habe ich es gelesen und ins Deutsche übersetzt. Ein Erfolgserlebnis, und ein Stückchen mehr russische Alltagskenntnis.

 

Malentendu à Moscou” von Simone de Beauvoir.
malentendu a moscouJa, es klappt noch mit dem Lesen auf Französisch, wenn auch langsamer als früher. Die Geschichte: Ein Paar, beide gealtert und darüber unglücklich, reist in die Sowjetunion – die Konstellation erinnert an Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. In Moskau haben sie ständig strammes Programm mit der Tochter des Mannes, und irgendwann sind beide genervt genug, dass sie aneinander geraten, spektakulär und dramatisch, wie man sich das bei einem französischen Paar so dem Klischee nach vorstellt. Die ganze Beziehung steht in Frage, aber dann liegen sie plötzlich wieder zweisam in einer Blumenwiese und lieben sich doch noch. Für mich hat sich das auf der Zielgeraden sehr hopplahopp angefühlt, dieser U-Turn Richtung Happy End. Der Weg dahin hat sich trotzdem gelohnt, vor allem, wenn diese wohlhabenden Pariser Bildungsbürger mit der Realität in der Sowjetunion konfrontiert sind, die sie als gesellschaftlichen Entwurf eigentlich unterstützen. Aber sie haben ja auch das Privileg der Touristen, wieder abreisen zu können.

 

“How to Build a Girl” von Caitlin Moran.
how to build a girlStellenweise ein bisschen doppelig, wenn man Caitlin Morans Autobiografie/Feminismushandbuch „How to be a Woman“ kennt, denn auch bei diesem Roman bedient sie sich großzügig am eigenen Leben. Diesmal aber nicht mit dem abgeklärten, analytischen Blick einer etablierten Journalistin, sondern aus der Perspektive einer jungen Frau kurz vor der Volljährigkeit, die beschließt, sich komplett neu zu erfinden – und dabei leiderleiderleider die Idee verwirft, sich künftig „Belle Jar“ zu nennen. Egal, ob sie über das Leben am Existenzminimum schreibt, über die britische Musikszene oder über Sex („Moran is in danger of becoming to female masturbation what Keats was to nightingales“), Moran ist so gut, dass wir einen kompletten Flug Moskau-Düsseldorf miteinander verbracht haben. (Aeroflot-Bordessen unterstützt, gerade in Sanktionszeiten, die Atmosphäre von Armut und notgedrungen vitaminfreier Ernährung recht gut.)

 

How Not to Become a Spy” von Justin Lifflander.
lifflander how not to become a spyEin paar Monate haben wir uns bei der Moscow Times überschnitten, Justin Lifflander und ich, er hat dort das Wirtschaftsressort geleitet. Dass er sich in Russland gut auskennt, wusste ich – dass er bereits zu Sowjetzeiten aus den USA hierher kam mit dem Plan, Spion zu werden, hab ich erst aus dem Buch erfahren. Nach einem Job als Botschafts-Busfahrer war er später einer der Inspektoren, die kurz vor dem Ende der Sowjetunion den IFN-Abrüstungsvertrag überwachten. Das klingt extrem seriös – nur dass Justin halt der Hausmeister und zeitweise auch Koch des Teams war, mit großem Talent zur Insubordination: Er baute im Keller der Unterkunft einen illegalen Whirlpool, versuchte sich als Kidnapper einer Ziege und verliebte sich in Sophia – die KGB-Frau, die ihn, den Überwacher, überwachen sollte. In diesem NPR-Interview hier kann man ab 2’50“ hören, was Justin für ein Geschichtenerzähler ist. Sophia und er sind übrigens immer noch zusammen.

 

Lenin Lives Next Door” von Jennifer Eremeeva.
lenin lives next door jennifer eremeevaDas Buch meiner Moskauer Mit-Bloggerin Jennifer habe ich gebraucht gekauft, und als es geliefert wurde, waren auf dem Schutzumschlag mehrere Ringe von abgestellten Gläsern. Passt gut zum Plot rund um (meist englischsprachige, meist wohlhabende) Expats, die in Russland Wurzeln geschlagen haben und sich das Leben nun mit Parties, Drinks und eisernem Zusammenhalt erträglich machen. Das Kapitel „The Red Handshake“ beschreibt, wie es ist, für ein russisches Unternehmen zu arbeiten – und ja, all die Vertrösterei, Verpeiltheit und allgemeine Unlust, Verantwortung zu übernehmen, hab ich aus dem Stand so wiedererkannt. Im vielleicht lustigsten, weil absurdesten Kapitel geht es um die russische Masche, Balkons rundum zu verglasen, damit man dort nicht an der frischen Luft sein muss, sondern drei Quadratmeter mehr Stellfläche für Gerümpel hat.

 

Der Papyrus des Cäsar” von Jean-Yves Ferri und Didier Conrad.
asterix Der Papyrus des CäsarEs hätte mir ja schon völlig gereicht, wenn der neue Asterix (der erste, an dem weder René Goscinny noch Albert Uderzo mitgearbeitet haben) die Tradition nicht ramponiert. Dass er sogar richtig gut ist, mit Anspielungen auf Edward Snowden, staatliche Abhörpraktiken, Twitter und Kommunikation per Mail- bzw Brieftaubenanhang, ist um so schöner. Und das „Postskriptum“, ganz besonders das vorletzte Bild des Bandes – okay, keine Spoiler. Nur ein geseufztes „Hach“.

 

Down There on a Visit” von Christopher Isherwood.
down there on a visitDas dritte Buch von „Mr Issyvoo“ dieses Jahr, wieder in einem Rutsch innerhalb weniger Tage durchgelesen. Dabei den rundum faszinierenden Denham Fouts (im Buch „Paul) kennengelernt und bei vielen anderen Namen gerätselt, wer sie wohl in Wirklichkeit waren. Hugh Weston war leicht als WH Auden erkennbar, aber sonst? Und wer war wohl der G. aus dieser Anekdote: „Just back from a weekend in the country with G. A great mistake. Trailing all the way down to Kent just to make love in an inn gave the love-making an altogether false importance. We had to play up to it, pretend it was romantic, or at least fun. And it wasn’t. It was depressing, like the cold bedroom and the lumpy bed. Right in the midst of the act, I found myself grunting and groaning extra loud, out of sheer politeness. I dare say G., who is really very sweet, was doing the same thing. But I couldn’t discuss this. We don’t know each other well enough.“

 

Sophia, der Tod und ich” von Thees Uhlmann.
sophia der tod und ichWenn der Tod an der Tür klingelt und du hast nur noch drei Minuten – was machst du damit? Die Frage stellt sich nur kurz, denn diesmal dauert alles ein bisschen länger: Der Tod, sein vorerst weiterhin untotes Opfer und dessen Ex-Freundin treiben sich noch ein bisschen auf der Erde rum. Dabei entwickelt der Tod eine große Lebensfreude und der (namenlose) Mann, den er holen soll, erlebt mit dem Gevatter und der Ex ein kleines Roadmovie. Ein Buch mit vielen Pointen und anderen schönen Stellen, immer wieder zum laut Vorlesen. Und der Hype, weil das eben das erste Buch von Thees Uhlmann ist, sorgt für genug Leute im Freundeskreis, die es auch gerade gelesen haben, um gemeinsam unklare Stellen auszudeuteln.

 

Hottentottenstottertrottel” von Wolf Schneider.
U1_978-3-498-06435-8.inddWie Wolf Schneider als Kind kurzzeitig stotterte und sich dies dann mit Disziplin und Fleiß wieder abtrainierte – diese Anekdote, auf die sich der Titel bezieht, nimmt im Buch nur wenig Raum ein. Ein ziemlich offensichtliches „Schau mal, lieber Leser, auch ich hatte Schwächen, zumindest kurz“, denn ansonsten lässt Schneider vor allem die Leistungen seiner vielen Jahrzehnte als Journalist Paroli laufen. Das steht ihm zu, sicher, vor allem als Ausbilder und als Kämpfer für eine gute, klare Sprache hat Schneider viel geleistet. Aber dieser permanente Unterton von „da hab ich dem Nannen in der Konferenz aber mal als einziger Kontra gegeben“ und „da hab ich aber diesen linken Redakteuren mal gezeigt, wo der Hammer hängt“, von Seitenhieben Richtung Hartz-IV-Empfänger und Feminismus – Mann, Mann, Mann! Der Klappentext beschreibt Schneider als jemanden, „der schon politisch unkorrekt ist, bevor es den Begriff überhaupt gibt.“ Kann man so beschreiben. „Arroganz, Populismus und ein letztes Beharren, wer hier bitteschön immer noch die Deutungshoheit hat“ ginge aber auch.

 

“Granta 67: Women and children first”.
granta 67 women and children firstDie Kaltmamsell liest immer Granta, das reicht als Argument. Oder, doch etwas ausführlicher: Etwas lesen, worauf ich sonst nicht käme – das ist ein Reiz an sich. In diesem alten Band, gefunden beim Umzug unserer Redaktion, findet sich zum Beispiel ein Text von Zadie Smith, ehe sie mit „White Teeth“ bekannt wurde. Einen anderen Beitrag konnte ich vor lauter grausamen Bildern im Kopf schließlich nur noch querlesen: „The Problem Outside“ von Linda Polman, einer Augenzeugin des Massakers von Kibeho in Ruanda.

 

“Slam” von Nick Hornby.
nick hornby slamMeh. Der Plot und die Kunstgriffe (Zeitreisen, Dialoge mit einem Skater-Poster) haben mich überhaupt nicht überzeugt. Nach ein paar Seiten hat man begriffen, dass das düstere Ereignis, auf das alles zusteuert, die ungewollte Schwangerschaft eines Schüler-Paares ist. Und dann muss man da halt die nächsten mehr als 200 Seiten durch, mit Sam, dem 16 Jahre alten Vater des Kindes, der sich nach aller Kraft wie ein anständiger Mensch zu verhalten versucht. Und wartet auf eine Wendung, irgendwas, worauf das Buch noch hinsteuern könnte. Kommt aber nichts, nur Stress und Sorgen und Panik, und dann ist das Baby da, und Sam gibt seinem Leben 3 von 10 möglichen Punkten. Das Buch ist für „young adults“ gedacht, und die Botschaft an die ist offenbar tatsächlich: Ein paar Sekunden Pech können Dein Leben zerstören, aber eventuell wird es Jahre später wieder ein ganz klein wenig besser.

 

“Die juristische Unschärfe einer Ehe” von Olga Grjasnowa.
juristische unschärfe einer eheDas zweite Buch von Olga Grjasnowa, nach „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, und eigentlich wieder richtig gut. Zwei winzige Stadtproträts zum Beispiel: „die Auslagen der Geschäfte simulierten Reichtum als gesellschaftlichen Konsens“ (Baku). „Berlin war wunderbar – Homosexualität und Menschsein schlossen sich in europäischen Großstädten nicht mehr aus.“ Das einzige, was nervt, sind die vielen sprachlichen Fehler: „Servierten“ statt „Servietten“, „Liberal Art College“ statt „Liberal Arts College“, „Fouttés“ statt „Fouettés“. Dass mir sowas besonders auffällt, mag eine Berufskrankheit sein – aber spätestens bei „auf dem Wasser schwamm ein feiner Ölfilter“ liest es sich einfach nach Autokorrektur-Panne. Schade, weil es von einer interessanten Geschichte ablenkt.

 

“Fingerlickin' Fifteen” von Janet Evanovich.
fingerlickin' fifteenGenau das richtige Buch für krank-auf-dem Sofa. Hohe Literatur sind die Krimis um Kopfgeldjägerin Stephanie Plum nicht, dafür aber so formelhaft, dass man auch mit rasselnden Bronchien und verschleimten Nebenhöhlen folgen kann. Stephanie hat nie Kugeln in ihrer Pistole, scheitert zunächst beim Versuch, eine ihrer Zielpersonen festzunehmen, steht permanent zwischen denselben zwei Männern, hat jeweils mit beiden dann doch ganz knapp keinen Sex, zerstört früher oder später zwei bis drei Autos und nimmt am Ende doch noch wen fest.

 

“Sizzling Sixteen” von Janet Evanovich.
sizzling sixteenGanz schön hartnäckig, diese Erkältung, also ran an den nächsten Stephanie-Plum-Band. Plötzlich und unerwartet hat sie auch diesmal keine Kugeln in ihrer Pistole, scheitert zunächst beim Versuch, eine ihrer Zielpersonen festzunehmen, steht permanent zwischen denselben zwei Männern etc. Neu dabei ist eine Herde Hobbits. Alles leicht und lustig – kein Wunder, dass Evanovich aktuell mal wieder auf der Bestsellerliste der New York Times steht, diesmal mit Nummer 22 der Plum-Krimis.

 

“Forty Stories” von Anton Chekhov.
chekhov forty storiesSein Grab auf dem Neujungfrauenfriedhof, eine seiner Kurzgeschichten im aktuellen Repertoire eines Moskauer Theaters, die Kladde mit seinem stilisierten Gesicht auf dem Schreibtisch einer Kollegin. Wie präsent Tschechow noch heute in Russland ist, war mir nicht klar, aber nach diesem Band verstehe ich, warum: Ob Prinzessin oder Waisenkind, ob ein sterbenskranker Bischof oder eine Katze, der in bester Pawlow-Manier abtrainiert wird, auch nur eine Maus zu jagen – über alle schreibt er so klug, authentisch und mitfühlend, dass man es ihm sofort abnimmt. „Angeblich teilen sich Leser in Russland in zwei Lager auf, Tolstojaner und Dostojewskijaner,“ sagt T., meine Russischlehrerin. „Aber wenn das die Auswahl ist, bin ich weder noch. Ich bin Tschechowianerin.“

 

“Nothing is true and everything is possible” von Peter Pomerantsev.
pomerantsev everything is trueEine Leseempfehlung für alle, die mehr über Russland wissen wollen als Putin-dies und Lawrow-das. Pomerantsev berichtet aus der Zeit, als er für einen russischen Fernsehsender arbeitete. Gewünscht waren Wohlfülgeschichten, aber er stieß immer auf Abgründe – Korruption, Sekten, Meinungsmache und Menschen, die sich mehr oder weniger geschickt verbiegen, um in dieses Russland zu passen. Da verzeiht man auch sein Faible dafür, Moskau alle paar Kapitel mit Gotham City zu vergleichen. (Dem Guardian hat Pomerantsev erzählt, was sein Konzept beim Schreiben des Buches war.)

 

“Pushkin Hills” von Sergei Dovlatov.
dovlatov pushkin hillsEine kleine Episode aus Sowjetzeiten, in der ein nicht sehr erfolgreicher Schriftsteller sich als Reiseführer versucht und dabei eine unterhaltsame Bocklosigkeit an den Tag legt. Wenn er Details aus Puschkins Leben mal nicht weiß, wird halt geblufft. Leicht, lustig, lässig liest sich das, bis seine Frau ihm eröffnet, dass sie mit der gemeinsamen Tochter das Land verlassen will. Sein Durchwurschteln durchs Leben, ihre Suche nach grundsätzlichen Werten wie Freiheit – Zeitgeschichte.

 

“Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit” von Thomas Kunze und Thomas Vogel.
Porträts von 15 Ländern, die früher Sowjetrepubliken waren – jeweils als politisch unterfütterter Reisebericht plus Steckbrief. Das klang interessant und übersichtlich, aber irgendwo zwischen „Djen Pobeda“ (sic) und „Perestoika“ (sic), zwischen fehlerhaften Transliterationen aus dem Russischen und schiefen Bildern („die gelockerten Zügel ließen es gären“) fiel es mir zunehmend schwer, das ernst zu nehmen. Und da war mir noch gar nicht aufgefallen, dass auch ein Buch aus dem Kopp-Verlag zitiert wird, war mir da noch gar nicht aufgefallen. Und das in einer Ausgabe der Bundeszentrale für Politische Bildung. Seltsam.

 

“My Discovery of America” von Vladimir Mayakovsky.
mayakovsky discovery of americaGerade mal drei Jahre gab es die Sowjetunion, als Majakowski über Mexiko in die Vereinigten Staaten reiste. Es ging ihm vor allem darum, was man sich dort in Sachen Industrie und Elektrifizierung abgucken konnte. Leider hakt alles ein wenig, weil Majakowski so gut wie kein Englisch spricht und ihm immer wieder die Fakten durcheinander geraten (da retten die Fußnoten das Buch). Insgesamt nicht uninteressant, aber lange nicht so aufschlussreich wie „Das eingeschossige Amerika“.

 

“Hyperbole and a Half” von Allie Brosh.
hyperbole coverJa, das ist das Buch zum Blog. Ein paar Einträge kannte ich, aber das meiste war neu und genau richtig für die Zeit zwischen den Jahren: leicht, aber mit Tiefgang. Besonders gefallen hat mir, wie sie für ihre beiden bekloppten Hunde eine eigene Sprache (eigentlich eher eine eigene Syntax) erfindet. Das Kapitel „Dog’s Guide to Understanding Basic Concepts“ gibt es zwar nur im Buch, aber auch in diesem Blogpost bekommt man einen guten Eindruck.

 

“Die heimlichen Revolutionäre - Wie die Generation Y unsere Welt verändert” von Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht.
Hurrelmann_GenerationY_K1_140312.inddWarum kommt mir das nur so vertraut vor, was über die Generation eins unter meiner (hallo Y, hier winkt X) in diesem Buch steht? Es hat gedauert, bis der Groschen fiel: Weil das, was für die inzwischen allgemein gilt, uns werdenden Journalisten schon früher eingebimst wurde: Nicht damit planen, dass euch mal wer fest anstellt. Auf befristete Verträge einstellen, aufs Leben als Freiberufler. Darum liest sich das hier wie eine Mischung aus „über die“ und „über uns“ und damit doppelt interessant – auch wenn ich mir manches hätte etwas gestraffter gewünscht hätte.

Eine Nacht bei Stalins Schwester

Kotelnitscheskaja Moskau 12

Seit wir hier sind, faszinieren mich die Sieben Schwestern – die riesigen Gebäudekomplexe, die Stalin hat hochziehen lassen, um 800 Jahre Moskau zu feiern. Wenn man nicht gerade in einer engen Gebäudeschlucht steht, kann man von überall im Zentrum eine der Schwestern sehen, oft sogar mehrere.

Die Uni, das Außenministerium, das Hotel „Ukraina“ – sie verbreiten eine Atmosphäre irgendwo zwischen Hogwarts und Berlins Karl-Marx-Allee. Imposant sind sie allemal, bei Sonnenlicht wirken ihre Fassaden warm, sonst auch schon mal bedrohlich. An Wintertagen gibt es Momente, in denen es mich nicht überraschen würde, wenn aus dem runden Emblem oben am Ministeriums-Turm Laserstrahlen auf angreifende Aliens gefeuert würden.

Wie das wohl ist, in so einem Haus zu wohnen? Zwei von den Sieben sind zwar Hotels, aber beide zu teuer, um nur fürs Erlebnis mal dort zu übernachten. Geklappt hat es stattdessen, AirBnB sei Dank, im Wohnblock am Kotelnitscheskaja-Ufer, wo die Jausa in die Moskwa mündet. Wer hier schon mal eine Bootstour gemacht hat kennt das Gebäude als das, vor dem die Schiffe wenden und zurückfahren.

Besonders berühmte Menschen wie die Ballerina Galina Ulanowa haben im Haupthaus gelebt, mittelberühmte wie der Dirigent Konstantin Iwanow in der Wohnung im Seitenflügel, in der wir uns nun für eine Nacht einquartiert hatten. Und selbst der hatte es schon sehr nett, auch wenn er mit Zweizimmerküchebad zufrieden sein musste: hohe Decken, Stuck, Kronleuchter, Parkett, und dann der Blick.

Heute ist die Wohnung gut in Schuss, im Treppenhaus dagegen gibt es, siehe oben, auch ein paar recht idyllisch runtergekommene Stellen. Und, ganz oben, einen halbrunden Mini-Balkon mit einem Gitter, das man sich ein paar Jahre jünger wünschen würde. Egal, ein vorsichtiger Schritt nach draußen muss sein. Der Blick, wie gesagt. Ihr versteht.

Kotenitscheskaja Moskau 15

Putin der Woche (XX)

putin der woche stalin

Gesehen: Bei Twitter – und ursprünglich in Wladikawkas, via Natalia Antonova und Yaroslava Pulinovich.

Begleitung: Josef Wissarionowitsch Stalin.

Text: Keiner.

Subtext: Auge in Auge. Ein Händedruck von Mann zu Mann. Ich hab mir mal das Standard-Werk „Krim“ in zwei Bänden unter den Arm geklemmt. Und du, immer noch mit Schnäuz? Wär mir ja zu fusselig. Aber gut, Du willst so aussehen, wie sie dich in Erinnerung haben. Wobei das mit der Erinnerung eine recht selektive Sache ist, sonst hätten wir ja wohl kaum so eine Pro-Stalin-Stimmung hier. Forderungen nach einem Museum zu Deinen Ehren, dafür wird das Gulag-Museum weichgespült. Inzwischen halten bei Umfragen 16 Prozent der Russen Deinen Einfluss für „eindeutig positiv“, 36 Prozent für „eher positiv als negativ“. In dem Klima kann ich auch gut mal den Hitler-Stalin-Pakt verteidigen. Nichts zu danken. Aber das mit dem Schnäuz überleg Dir noch mal.

Oben-Ohne-Punkte: 0/10

Da lacht der Kommunist

Das Dom Knigi, Moskaus großer Buchladen, hat ein ganz solides Angebot an englischsprachigen Büchern. Neulich hab ich dort auf gut Glück „Hammer & Tickle – A History of Communism Told Through Communist Jokes“ mitgenommen und behellige seither Freunde und Verwandte mit Perlen wie dieser:

Was ist der Unterschied zwischen Stalin und Roosevelt? Roosevelt sammelt Witze, die Leute über ihn erzählen. Stalin sammelt Leute, die Witze über ihn erzählen.

Es ist ein Buch zum Film, entstanden aus einem Projekt des Dokumentarfilmers Ben Lewis. Anschaulich, in vielen Anekdoten und an Interviewpartnern entlang erzählt, die im Ostblock Kabarettisten oder Karikaturisten waren, Bürokraten oder Oppositionelle.

Hammer and Tickle Book CoverDass sich Lewis wie ein braver Wissenschaftler an der Hypothese abarbeitet, der Humor habe zum Fall des Eisernen Vorhangs beigetragen, stört nicht weiter beim Lesevergnügen. Soll er gern tun, aber auch ohne Weltformel des kommunistischen Witzes gibt es hier viel zu entdecken.

Zum Beispiel die Geschichte von Iwan Burilow, der unter Stalin zu acht Jahren im Gulag veruteilt wurde. Er hatte 1917 auf seinen Wahlzettel das Wort „Komödie“ geschrieben, das reichte dem Staat als Rechtfertigung. So scheint immer wieder Bitteres durch – egal, um welches Land und welches Jahrzehnt es gerade geht.

– Hast Du schon gehört, dass sich seit dem Frühling die Lebensqualität in Rumänien verdoppelt hat? Vorher haben wir gefroren und gehungert, jetzt hungern wir nur noch.

– Wann feuert ein guter Grenzsoldat den Warnschuss ab?
– Am Ende vom zweiten Magazin.

– Wie wird 1964 die Ernte?
– Durchschnittlich – schlechter als 1963, aber besser als 1965.

Dafür, dass er über die subversive Kraft von Witzen schreibt, kommt Ben Lewis selbst oft ganz schön verbissen und humorlos rüber. Wenn er Gespräche mit seiner Freundin wiedergibt, ist er der Rechthaber in Siegerpose, der ihr stets gern und ungefragt immer wieder erklärt, warum das kommunistische System, in dem sie aufgewachsen ist, scheitern musste.

Von oben herab sind meist auch die Sätze, mit denen er seine Zeitzeugen einführt. Keine Ahnung, ob da ein Dokumentarfilmer dem geschriebenen Wort nicht traut und meint, er müsste dem Leser auch gleich noch immer durchbuchstabieren, was er von wem zu halten hat.

Abgesehen davon aber ist das Buch saftige, unterhaltsame Lektüre. Epoche für Epoche ordnet Lewis die Witze, die er aus teilweise ziemlich obskuren Quellen zusammenträgt, in den geschichtlichen Zusammenhang ein. Dazu gehört auch ein Exkurs zum Humor im Nationalsozialismus – und zum Schluss ein Blick auf Humor im post-kommunistischen Russland:

Wladimir Putin geht mit den Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern in ein Restaurant. Der Kellner kommt und will Putins Bestellung aufnehmen.
– „Ich nehme das Steak.“
– „Und was ist mit dem Gemüse?“
– „Die nehmen auch das Steak.“

Wer jetzt noch nicht genug hat, kann sich hier von einem gelernten Vortragskünstler weitere Witze aus Sowjetzeiten erzählen lassen. (Gesehen bei Breakfast in Moscow.)