Wenn das Internet alle ist

Moskau Unterführung Automat Frau

Die Webseite lädt und lädt und lädt, dann erscheint der Hinweis unseres Providers: Das Internet ist alle. Mal wieder. Und die Art, wie wir es wieder aufladen, durchaus speziell:

  • den Zettel mit unserer Vertragsnummer raussuchen
  • prüfen, ob genug Geld im Portemonnaie ist
  • Schuhe und Jacke anziehen
  • aus dem Haus über den Hof zur Straße gehen
  • an der Straße links bis zur nächsten Unterführung
  • runter und zu dem Automaten an der Stirnseite

Seit dem дефолт, Russlands Wirtschaftskrise Ende der Neunziger, ist das Vertrauen in Banken hier chronisch niedrig. Überweisungen oder gar Daueraufträge sind, jedenfalls bei Privatkunden, unüblich – viele Moskauer Freunde tragen jeden Monat ihre Miete in bar zum Vermieter. Stattdessen also: Geld auf dem Konto (oder noch lieber in der Hand) und wissen, wo der nächste Automat steht. Hier kann man seine Stromrechnung bezahlen, sein Knöllchen – und eben sein Internet:

  • Auf dem Bildschirm blättern, bis der richtige Provider angezeigt wird
  • „Internet zuhause“ auswählen
  • Zettel mit der Vertragsnummer rauskramen
  • Vertragsnummer eintippen, mit Nullen vorne, bis die Zahl der Stellen passt
  • in den Schlitz am Automaten einen Tausend-Rubel-Schein schieben

An Kredit- oder sonstigen Karten hat der Automat kein Interesse. Überhaupt erinnert er in seinem fast schon gusseisernen Charme eher an einen amerikanischen Briefkasten als an irgendwas, was mit Zahlungsverkehr zu tun hat. Trotzdem: Er schluckt den Schein und zeigt eine Bestätigung an. Also:

  • aus der Unterführung wieder raufgehen
  • Straße, Hof, Hauseingang etc
  • Jacke aufhängen, Schuhe ausziehen und ans Laptop setzen
  • Seite neu laden: läuft immer noch nicht!
  • einsetzender innerer Unlust-Monolog („Eh ich da jetzt noch mal rausrenne, mach ich nen Hotspot mit dem Handy!“)
  • Router neu starten
  • Seite noch mal neu laden: läuft!

Parallelwelten

moscow st andrews jumble sale распродажа

Manchmal fügen sich plötzlich Facetten zu einem Bild zusammen, sortiert sich Wissen im Kopf neu zu Zusammenhängen. Neulich hatte ich so einen Moment, in dem plötzlich ein wenig klarer wurde, wie dieses Moskau funktioniert. Es ist eine Geschichte von Angebot und Nachfrage, von Neuem und Gebrauchtem, von zwei parallelen Welten, die sich an mehr als nur einer Stelle berühren.

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Alle drei Monate gibt es am Wosnessenski Pereulok 8 einen kleinen Flohmarkt, je nach Wetter entweder auf dem Hof der St. Andrew’s Church oder drinnen im Gebäude. Kinderkleidung auf Klapptischen, Schuhpaare auf dem Boden, Bücherstapel vorm Altar. Es ist die Kirche der anglikanischen Gemeinde von Moskau, zu der vor allem Briten und Amerikaner gehören. Viele von ihnen arbeiten für große Unternehmen, die sie für einige Jahre nach Russland geschickt haben, ehe ein neuer Einsatzort folgt.

Wenn diese Expats vor dem nächsten Umzug wieder mal ihren Hausstand eindampfen müssen, wird vieles aussortiert, was nicht billig war und kaum Gebrauchsspuren hat. Ein lieber Gast aus Deutschland hat hier im Sommer eine blaue Ikea-Tasche voller Babyklamotten für den noch zu gebärenden Sohn zusammengekauft. Mancher Strampler sah aus wie noch nie getragen. Das wusste ich alles.

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Jeden Donnerstag klingelt es bei uns an der Tür, dann kommt M. Sie ist Filipina und hat diese Wohnung schon sauber gehalten, als es noch nicht unsere war. Sie tut dasselbe mit den Wohnungen mehrerer Freunde und Kollegen. Am Anfang, in der Kennenlern-Phase, hat sie uns mit „Ma’am“ und „Sir“ anzusprechen versucht. Es fühlte sich alles unangenehm kolonial an, bis wir uns aneinander gewöhnt und einen normalen Umgangston gefunden hatten.

Bei den Freunden, deren Wohnungen nicht von M. saubergemacht werden, übernimmt das R. Oder, wenn R. ausgebucht ist, B. Es ist eine Schar philippinischer Frauen, die unsere Böden wischen und unsere Kinder hüten. Ja, noch mehr: Ich habe noch von niemandem hier gehört, dessen Putzfrau keine Filipina wäre.

Kommt jemand neu aus Deutschland nach Moskau, empfehlen wir M. und R. und B. weiter. Von dem Geld, das sie hier verdienen, geht das meiste zurück auf die Philippinen. Fängt das neue Semester an, braucht M. manchmal einen Vorschuss, um die Studiengebühren ihrer Tochter zu bezahlen. Das wusste ich auch.

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„Weißt Du eigentlich, wie wir den Termin für die Flohmärkte festlegen,“ fragt eine Bekannte aus der St-Andrew’s-Gemeinde, während ich meine gerade gekauften Bücher einpacke und mich frage, ob es wohl auch Halstücher gibt. „Wir richten uns nach dem Philippinen-Container.“ Es stellt sich raus, dass jedes Vierteljahr jemand einen Container organisiert, der von Moskau nach Manila verschifft wird. Für 50 Dollar, sagt sie, darf man einen vollen Karton in diesen Container packen.

Tatsächlich sieht man, wenn der Flohmarkt gerade begonnen hat, Frauen mit dunklen Haaren, die in kleinen Grüppchen und mit System die Trödelwaren durchsuchen. Jede Hosennaht wird überprüft, die Räder am Spielzeugauto noch mal gedreht, das Buch vorsichtig am Rücken angehoben, ob auch keine losen Seiten rausfallen. 50 Dollar für einen Karton, da ist Platz kostbar.

„Wenn der Termin für den nächsten Container feststeht, setze ich für zwei Wochen vorher einen Flohmarkt an und poste die Info in den Internet-Foren, wo die Leute von den Philippinen das sehen,“ erzählt die Bekannte weiter. „Was wir heute verkaufen, ist zu Weihnachten dort.“

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Als ich M. ein paar Tage später darauf anspreche, nickt sie schon nach der halben Frage. Ja, das sei praktisch mit dem Container, schließlich ist die russische Post notorisch unzuverlässig. „Da kommt sogar ein Mann vorbei und holt den Karton ab,“ sagt sie. Populär sei übrigens nicht nur der Kirchenverkauf, sagt sie noch, sondern auch ein Online-Trödelmarkt. „Die Internetadresse weiß ich gerade nicht. Aber ich guck’s zuhause nach und schick Dir eine SMS.“

Wirtschaft in Georgien – der Chatschapuri-Index

Chatschapuri-Index Georgien

Dass Chatschapuri (extrem leckeres georgisches Käsefladenbrot) zum Tortendiagramm taugt, dafür braucht es nicht viel Fantasie. Dass es auch Balkendiagramme inspirieren und zur Illustration der wirtschaftlichen Lage herhalten kann, darauf muss man erst mal kommen. Respekt also an die Kollegen von „The Financial„, einer kostenlosen Zeitung, die in Cafés in Tiflis ausliegt.

Gemeinsam mit dem ISET Policy Institute veröffentlichen sie – angelehnt an den Big-Mac-Index – regelmäßig den Chatschapuri-Index, wobei die beiden Indizes unterschiedliche Zwecke haben: Per Big-Mac-Index lässt sich die Kaufkraft von Währungen vergleichen. Der Chatschapuri-Index dagegen leitet aus den Preisen der Zutaten für das (wirklich ungemein leckere) georgische Brot Monat für Monat die aktuelle Kaufkraft des georgischen Lari ab. Mehl, Hefe, Eier, Butter, Milch und Käse, dazu Gas und Elektrizität – es sind gerade mal acht Faktoren, die in den Index einfließen.

Wer will, kann sich gerne weiter in die Methodik vertiefen, für Experten ist allerdings wohl vor allem eines wichtig: Der Index basiert auf einem imeretischen Chatschapuri (Imeruli), also rund und mit Käse – nicht zu verwechseln mit dem adscharischen Chatschapuri (Atscharuli), bei dem der Teig zwei Griffe hat und über dessen Mitte nach dem Backen ein rohes Ei geschlagen wird. Oder dem Megruli Chatschapuri mit extra Käse obendrauf. (Hier noch mal die drei im Vergleich, lecker hab‘ ich schon gesagt?)

Chatschapuri-Index Ausriss

Im letzten Monat ist der Index gefallen – unter anderem, weil in der orthodoxen Fastenzeit viele Gläubige auf Milchprodukte verzichten. Jetzt, nach der Fastenzeit, ist also mehr Käse auf dem Markt, zu niedrigeren Preisen.

Die Detailanalyse, auch mit Blick auf importierte vs in Georgien hergestellte Zutaten, gibt es hier*. Und falls jemand jetzt das dringende Bedürfnis hat, selber Chatschapuri zu backen: Die Debatte im Freundeskreis über das beste Rezept läuft noch. Aber das hier – für die adscharische Variante – klingt schon mal super.

*Update: Der an dieser Stelle verlinkte Post mit den Zahlen für April ist nicht mehr online. Ich habe per Mail nachgefragt, warum, aber bisher nichts gehört. Darum leider nur noch der Ausriss aus der Print-Berichterstattung.

Der Russland-Alltag in Zahlen

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3 Menschen aus dem Moskauer Bekanntenkreis haben in den letzten Wochen Reisen abgesagt haben, weil das Geld knapp wird.

10 Prozent weniger Gastarbeiter sind 2014 nach Russland gekommen, der Schritt scheint sich nicht mehr zu rechnen.

15,4 Prozent sind Lebensmittel innerhalb des vergangenens Jahre laut offiziellen Daten teuer geworden.

22 Wohnungsgesuche/-angebote wurden im Dezember in einer großen Facebook-Gruppe für Moskauer Expats im Dezember gepostet. Hinzu kommen die Posts, in denen Leute Möbel, Bücher oder Kleidung verkaufen wollen, ehe sie Russland verlassen.

77,7 Prozentpunkte ist der Preis für Buchweizen innerhalb einer Dezember-Woche (16. bis 22.) laut Rosstat gestiegen. Buchweizen ist in der traditionellen russischen Küche ungefähr so wichtig wie Kartoffeln in der deutschen.

79,60 Rubel kostete ein Kilo Graubrot im November.

82,50 Rubel kostete ein Kilo Graubrot im Dezember.

700 Dollar bekam vor kurzem eine Freundin abends in den „Soho Rooms“ für eine Nacht geboten. Als sie absagte, wurde das Gebot auf „700 Euro, plus Kokain“ erhöht. Ihre Reaktion beim Erzählen: „Und ich hatte eine Strickjacke an. Eine Strickjacke!“

1982 Stunden arbeiten Russen durchschnittlich pro Jahr. Damit liegen sie oberhalb des OECD-Durchschnitts. In Deutschland sind es 1397 Stunden.

50,000 Rubel pro Stück möchte ein Kollege für sein iPad Air 2, 64 GB, das er per Rundmail an alle verkaufen will. Der offizielle Preis im Apple-Onlinestore sind 54,990 Rubel.

15.7 Millionen Menschen in Russland leben derzeit unter der Armutsgrenze. Die Regierung rechnet damit, dass diese Zahl 2015 steigt, vor allem bei Familien mit Kindern.

(Foto: Lifeofpix)