Manchmal fügen sich plötzlich Facetten zu einem Bild zusammen, sortiert sich Wissen im Kopf neu zu Zusammenhängen. Neulich hatte ich so einen Moment, in dem plötzlich ein wenig klarer wurde, wie dieses Moskau funktioniert. Es ist eine Geschichte von Angebot und Nachfrage, von Neuem und Gebrauchtem, von zwei parallelen Welten, die sich an mehr als nur einer Stelle berühren.
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Alle drei Monate gibt es am Wosnessenski Pereulok 8 einen kleinen Flohmarkt, je nach Wetter entweder auf dem Hof der St. Andrew’s Church oder drinnen im Gebäude. Kinderkleidung auf Klapptischen, Schuhpaare auf dem Boden, Bücherstapel vorm Altar. Es ist die Kirche der anglikanischen Gemeinde von Moskau, zu der vor allem Briten und Amerikaner gehören. Viele von ihnen arbeiten für große Unternehmen, die sie für einige Jahre nach Russland geschickt haben, ehe ein neuer Einsatzort folgt.
Wenn diese Expats vor dem nächsten Umzug wieder mal ihren Hausstand eindampfen müssen, wird vieles aussortiert, was nicht billig war und kaum Gebrauchsspuren hat. Ein lieber Gast aus Deutschland hat hier im Sommer eine blaue Ikea-Tasche voller Babyklamotten für den noch zu gebärenden Sohn zusammengekauft. Mancher Strampler sah aus wie noch nie getragen. Das wusste ich alles.
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Jeden Donnerstag klingelt es bei uns an der Tür, dann kommt M. Sie ist Filipina und hat diese Wohnung schon sauber gehalten, als es noch nicht unsere war. Sie tut dasselbe mit den Wohnungen mehrerer Freunde und Kollegen. Am Anfang, in der Kennenlern-Phase, hat sie uns mit „Ma’am“ und „Sir“ anzusprechen versucht. Es fühlte sich alles unangenehm kolonial an, bis wir uns aneinander gewöhnt und einen normalen Umgangston gefunden hatten.
Bei den Freunden, deren Wohnungen nicht von M. saubergemacht werden, übernimmt das R. Oder, wenn R. ausgebucht ist, B. Es ist eine Schar philippinischer Frauen, die unsere Böden wischen und unsere Kinder hüten. Ja, noch mehr: Ich habe noch von niemandem hier gehört, dessen Putzfrau keine Filipina wäre.
Kommt jemand neu aus Deutschland nach Moskau, empfehlen wir M. und R. und B. weiter. Von dem Geld, das sie hier verdienen, geht das meiste zurück auf die Philippinen. Fängt das neue Semester an, braucht M. manchmal einen Vorschuss, um die Studiengebühren ihrer Tochter zu bezahlen. Das wusste ich auch.
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„Weißt Du eigentlich, wie wir den Termin für die Flohmärkte festlegen,“ fragt eine Bekannte aus der St-Andrew’s-Gemeinde, während ich meine gerade gekauften Bücher einpacke und mich frage, ob es wohl auch Halstücher gibt. „Wir richten uns nach dem Philippinen-Container.“ Es stellt sich raus, dass jedes Vierteljahr jemand einen Container organisiert, der von Moskau nach Manila verschifft wird. Für 50 Dollar, sagt sie, darf man einen vollen Karton in diesen Container packen.
Tatsächlich sieht man, wenn der Flohmarkt gerade begonnen hat, Frauen mit dunklen Haaren, die in kleinen Grüppchen und mit System die Trödelwaren durchsuchen. Jede Hosennaht wird überprüft, die Räder am Spielzeugauto noch mal gedreht, das Buch vorsichtig am Rücken angehoben, ob auch keine losen Seiten rausfallen. 50 Dollar für einen Karton, da ist Platz kostbar.
„Wenn der Termin für den nächsten Container feststeht, setze ich für zwei Wochen vorher einen Flohmarkt an und poste die Info in den Internet-Foren, wo die Leute von den Philippinen das sehen,“ erzählt die Bekannte weiter. „Was wir heute verkaufen, ist zu Weihnachten dort.“
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Als ich M. ein paar Tage später darauf anspreche, nickt sie schon nach der halben Frage. Ja, das sei praktisch mit dem Container, schließlich ist die russische Post notorisch unzuverlässig. „Da kommt sogar ein Mann vorbei und holt den Karton ab,“ sagt sie. Populär sei übrigens nicht nur der Kirchenverkauf, sagt sie noch, sondern auch ein Online-Trödelmarkt. „Die Internetadresse weiß ich gerade nicht. Aber ich guck’s zuhause nach und schick Dir eine SMS.“