Phantomtickets fürs Confed-Cup-Finale in St. Petersburg

Im Stadion in St. Petersburg findet am Sonntag Abend das Confed-Cup-Finale statt. Ohne mich, auch wenn das die Organisatoren anders sehen. (Foto: Markus Sambale)
Im Stadion in St. Petersburg findet am Sonntag Abend das Confed-Cup-Finale statt. Ohne mich, auch wenn das die Organisatoren anders sehen. (Foto: Markus Sambale)

Keine 24 Stunden mehr, dann spielt Deutschland gegen Chile. Das Confed-Cup-Finale ist in St. Petersburg, ich bin in Moskau und darum leider nicht dabei. Dachte ich. Aber die Organisatoren wissen das offenbar besser und schicken am Samstag Abend eine Mail, die so beginnt:

Sehr geehrter Zuschauer, wir freuen uns, dass Sie planen, das Endspiel des FIFA Konföderationen-Pokals 2017 in Russland zu besuchen, Eintrittskarten für das Spiel gekauft und bereits die FAN ID beantragt haben.

Das ist 1. neu für mich und 2. beunruhigend. Schließlich war ich durchaus bei Vorrundenspielen, habe dafür Tickets online gekauft und dabei einen ziemlich umfangreichen Datensatz angeben, einschließlich Kreditkarteninfo. Wenn da nun plötzlich eine Buchung stattgefunden hat… Endspielkarten sind teuer. Gottseidank steht am Ende der Mail, an welche Nummer man sich bei Fragen wenden soll. Ich schicke noch eine schnelle Ein-Satz-Rückfrage auf die Mail und hole das Handy.

Die Nummer ist in Russland, die Automatenstimme bietet ein Menü in fünf Sprachen an und ich hangle mich durch die deutsche Version. Wer einen echten Menschen will und keine Bandansage, soll doch bitte dranbleiben. Eine Viertelstunde lang mache ich das mit und schreibe gleichzeitig allerlei Freunden, die auch bei einem der Spiele waren. Alle haben sie auch diese Mail bekommen und sind nun je nach Naturell irgendwas zwischen amüsiert und besorgt. Dann lege ich auf.

Die erste Hotline ist schon mal nicht zuständig

Vielleicht sind deutsche Hotlinemitarbeiter rar, neuer Versuch also mit dem englischen Menü, und sofort habe ich Andreij dran. Er spricht solides Englisch mit russischem Akzent, hört sich mein Anliegen an und sagt dann auch direkt, dass er schon mal ganz sicher nicht zuständig ist. „Wir beantworten hier nur Fragen zur Fan-ID. Zu Tickets können wir Ihnen nichts sagen.“

Der Einwand, dass die Email von „thanks@fan-id.ru“ kam lässt er ebenso wenig gelten wie den Hinweis, dass dort ja für Rückfragen genau seine Nummer genannt war. Ob er denn nicht in seinem System nachsehen kann, mit Karten für welche Spiele meine Fan-ID verbunden ist? Nein, geht nicht, ich soll stattdessen bei der Ticket-Hotline anrufen, sagt er, und diktiert sie. „Einunvierzig“, sage ich und bin gedanklich schon beim nächsten Anruf, „was ist das denn für eine Ländervorwahl?“ Aber Andreij hat jetzt echt keinen Bock mehr auf dieses Telefonat: „Ich habe keine Informationen dazu, um welches Land es sich handelt.“

Es ist die Schweiz, es ist auch diesmal ein automatisches Menü und dann ist es Timur. Timur ist ein bisschen hilfsbereiter, ein bisschen besser zu verstehen, aber auch er würde lieber einen der vorgefertigten Gesprächspfade in seinem Handbuch beschreiten. Leider passen seine Antworten nicht zu meinem Fragen, das merkt auch er bald. „Wir haben heute schon viele Anrufe zu dieser Frage bekommen“, seufzt er – das bestätigt mein Bauchgefühl, dass hinter der seltsamen Mail wohl eher Inkompetenz als ein Fall von Identitätsdiebstahl steckt.

Die zweite Hotline rät zur Email

Ob ich nicht vielleicht einfach auf die Email antworten könnte und abwarten? Es folgt… na, sagen wir mal; ein kurzer, aber konstruktiver Austausch darüber, ob Abwarten eine gute Strategie ist, wenn man befürchtet, dass jemand Schindluder mit den eigenen Kreditkartendaten treibt. Wir einigen uns dann, dass ich ihm jetzt mal meinen Namen, Geburtstag und Mailadresse sage und er dafür doch einfach mal im Ticketing-System nachschauen könnte, was da so an Buchungen vorliegt, oder?

Eine mittelschwere Geburt, aber das Resultat ist beruhigend: Im System stehen nur die Tickets, von denen ich auch wusste – nichts mit Finale. Aufatmen, dankeschön, Austausch von Höflichkeiten. Auf den Hinweis, dass das eher ungünstig ist, wenn man sich da so von einer Hotline zur anderen hangeln muss, sagt Timur noch erklärend: „Ticketing und Fan-ID, das sind einfach zwei komplett verschiedene Organisationen.“ Zum Abschluss noch schnell ein Blick in die Inbox: keine Antwort auf meine Anfrage per Mail.

Und die Moral von der Geschicht? Ticketing und Fan-ID sind, wie gerade anschaulich bewiesen, zwei komplett verschiedene Organisationen. Ticketing macht die FIFA. Fan-ID macht Russland. Dass keiner von beiden für Transparenz oder allzu großes Entgegenkommen bekannt ist, macht die Sache nicht leichter. Die Aufgabe, zu klären, wer einem bei Problemen weiterhilft, wird auf die Fans abgewälzt – die haben die Sorgen, den Stress, die Telefonkosten am Hals.

Bei den Phantomtickets fürs Finale wie auch dem anderen Fall von Chaos rund um die Fan-ID, den ich in den letzten Wochen erlebt habe, glaube ich übrigens, dass der Kern des Problems automatisiert versandte Emails sind. Dann wissen die FIFA und das Gastgeberland ja jetzt, wo sie nacharbeiten müssen, wenn sie ab Montag den Confed Cup hinter sich und die Fußball-WM 2018 vor sich haben.

Update: Inzwischen ist es Sonntag, in wenigen Stunden wird das Finale angepfiffen – und ich habe die Mail, wonach ich Tickets dafür gekauft habe, gerade noch einmal bekommen. Gleicher Wortlaut, gleiche falsche Behauptung, nur diesmal auf Russisch statt auf Deutsch. Eine Antwort auf meine Rückfrage-Mail von Samstag steht dagegen weiterhin aus. 

 

 

Cybercrime, der Podcast zu Verbrechen im Netz

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Neulich WannaCry, jetzt Petya – das erinnert mich, dass ich hier noch über das Thema Cyberkriminalität bloggen wollte. Dazu muss ich allerdings ein bisschen ausholen.

Einmal im Jahr fahren wir in die Pampa. Wir, das sind eine Handvoll Freunde aus Uni-Zeiten, die gemeinsam zu Journalisten wurden; begleitet von ihren Partnern und Kinder. Die Pampa, das ist irgendwo recht mittig in Deutschland, wo es grün ist, neben einem Fluss. Fußball, Lagerfeuer, Lesen im Garten, Tischtennis. Reden, Essen, Reden, Trinken, Reden. Die großen Kinder ziehen als sich selbst verwaltende Horde durch die Pampa und machen zu meiner bleibenden Verwunderung manchmal den Abwasch. Die kleinen wandern von Schoß zu Schoß und beschallen uns abends zum Bier durchs Babyfon. Einer kocht immer Milchreis. Einer brät immer Burger. Es ist komplett unspektakuläre Routine und eines der Highlights des Jahres.

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Dieses Jahr musste ich daran denken, wie das war, als wir uns alle kennengelernt haben, als Erstsemester in Dortmund. Irgendein Dozent machte damals diesen Spruch, sinngemäß: „Das, was ihr hier lernt, hat sich in ein paar Jahren eh alles überholt. Ihr werdet in eurer Karriere zwei- bis dreimal komplett neue Berufe lernen müssen.“ Ich fand das damals gruselig, der eine Beruf schien schon so weit weg. Das noch mal und noch mal? Und noch mal?

Heute weiß ich: Gut gekocht, schlecht serviert. Die These, dass man immer wieder dazulernen muss – die stimmt. Aber das Aufbauschen, dass das dann schon ein neuer Beruf sein soll – kompletter Unsinn. Von den Uni-Freunden sind die allermeisten auch heute noch Journalisten. Aber im Moment heißt das zum Beispiel, dass immer mehr von ihnen Podcasts machen. Das wäre vor ein paar Jahren noch nicht so gewesen (Zahlen zum rasanten Wachstum von Podcasts in jüngster Zeit gibt es bei Pew Research, die taz stellt exemplarisch ein paar deutsche Podcasts und ihr Millieu vor.).

Manche Podcasts von früheren Mit-Dortmundern hab ich hier ja schon mal erwähnt. Die Seriendialoge (hier reden Ulrike und ich über The West Wing) und die Seriensprechstunde. Der Anhalter. Diesmal schließlich habe ich im Auto unterwegs in die Pampa „Cybercrime“ gehört. Darin zeigen Oliver Günther und Henning Steiner in drei Erzählsträngen unterschiedliche Aspekte der Kriminalität im Netz auf.

Es geht um BKA-Ermittlungen in einem Fall von Kinderpornografie, um einen Hacker-Angriff auf ein DAX-Unternehmen, und, besonders spannend, um das Leben von Anna, einer Hackerin. Anschaulich, konkret und mit vielen Aha-Momenten. Für mich hätte das ganze zwar etwas zügiger erzählt werden können, aber klar, es müssen ja alle Hörer folgen können. Egal, wie gut sie sich mit Internetthemen auskennen.

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Beim Einblick in die Polizeiarbeit hat mich vor allem das Kleinklein der Ermittlungsarbeit beeindruckt. Das war in vielen Situationen sehr viel weniger High Tech und sehr viel mehr Fleißarbeit, als ich vermutet hatte. Bei dem Hackerangriff lag die Faszination in der Figur des Security-Experten Avi Kravitz: ein Glücksfall von einem Protagonisten, sympathisch, eloquent, engagiert.

Aber am meisten Spaß hatte ich wie gesagt an den Interviews mit Anna, an der Kombination aus ihrer nüchternen Art, ihrem lakonischen Humor und der Parallelwelt, in der sie sich bewegt und mit Illegalem gutes Geld verdient. Irritiert hat mich allerdings, dass die Interview-Protokolle von einer Computerstimme und nicht von einer normalen, menschlichen Sprecherin eingesprochen wurden. Das klang für mich, als ginge es eher um künstliche Intelligenz als um Hacker.

Interessant fand ich auch, wie sehr einerseits viele Leute, die derzeit mit Podcasts zu tun haben, ständig auf Serial verweisen. Und wie sich die Macher von „Cybercrime“ trotzdem verkniffen haben, das eins zu eins ins Deutsche zu übertragen. Denn Journalisten als Protagonisten, die permanent laut reflektieren, was gerade in ihnen vorgeht, das ist für deutsche Hörer eher ungewohnt und kippt leicht ins Absurde. Erst recht in der Dialogform: Was du nicht sagst. Das ist ja bemerkenswert. Oh mein Gott, ich muss mir an den Kopf fassen.

Bei „Cybercrime“ treten die beiden Autoren zwar als Erzähler auf, die Struktur der Folgen ist durchaus auf Dialog angelegt. Trotzdem nehmen die beiden sich zurück. In einem Bereich, der für viele Neuland ist, sind sie die Reiseführer, nicht die Attraktionen.

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Vier Podcast-Folgen hab ich vor dem langen Wochenende in der Pampa gehört, fünf nach und nach im Anschluss. Darum hat das mit diesem Blogpost auch ein bisschen gedauert. Aber ihr versteht schon: Lagerfeuer, Tischtennis, Reden, Trinken, Milchreis. Ich war halt anderweitig ausgelastet.

Russball, Folge 3: Ticketpreise und „Dream Timo“ Werner

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Man vergisst ja leicht, dass es beim Fußball nicht nur um den Sport geht, sondern auch um die Gemeinschaft. Fußball schafft unverhoffte Kontakte, Fußball bringt Menschen ins Gespräch miteinander. So schön! Entsprechend begeistert war eine Moskauer Freundin von folgender Begebenheit am Flughafen:

Am Abend vorher hatten wir im Spartak-Stadion gemeinsam Russland gegen Portugal verlieren sehen, trotz unserer lautstarken Anfeuerei. Nun stand sie früh morgens an der Passkontrolle, unterwegs nach Deutschland zu einem Seminar. Auf der anderen Seite der Glasscheibe die übliche uniformierte Frau mit den üblichen Stempeln – und einer unüblichen Frage: „Na, wie war’s denn gestern Abend im Stadion? Gute Stimmung soweit?“ Nachfrage ergab: Tatsächlich bekommen die Grenzbeamten bei jedem, der Karten für den Confed Cup gekauft hat, angezeigt, wann und wo er bei welchem Spiel war. Zauberhaft, wie sich die Staatsmacht interessiert bis ins kleinste Detail. Da hat man die ganzen Daten für die Fan-ID wenigstens nicht umsonst weggeschenkt!

In Sotschi hatte ich unterdessen Gelegenheit, ebenfalls mit ein paar Leuten ins Gespräch zu kommen. Nicht nur beim mehrstündigen Selbstversuch „Fußballtickets kaufen ohne Russischkenntnisse“, sondern auch und immer wieder mit Taxifahrern. „Sie sind aus Deutschland? Hach, Oliver Kahn! Michael Ballack! Philipp Lahm!“ – „Sie sind aus Deutschland? Da war ich schon mal, in Lüdenscheid!“ – „Wie viele Einwohner hat Deutschland? 80 Millionen, und unter denen haben sie diese elf Männer für Ihre Mannschaft gefunden. Wir sind 145 Millionen – warum finden wir darunter nur solche elf Nieten für unsere Mannschaft?“

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⚽ Wir müssen mal übers Geld reden. Genau genommen darüber, wie man von einem russischen Einkommen (im Schnitt 558 Dollar, also knapp 500 Euro) Karten für ein internationales Fußballturnier bezahlen soll. Sowjetski Sport rechnet anhand des Confed Cups vor: Selbst wenn man die für Russen reservierten Tickets der Billigklasse kauft (960 Rubel/14,40 Euro), ist es damit ja nicht getan: 200 Rubel (3 Euro) für ein Bier, 250 (3,75 Euro) für einen Hot Dog. Dann vielleicht als Andenken noch ein Käppi mit Logo? Noch mal 1000 Rubel, also 15 Euro. „Und glauben Sie uns, das ist preiswert – bei der Formel 1 zahlt man 3000 Rubel für eine Kappe.“

Wladimir Leonow, Sportminister der russischen Republik Tatarstan, zu der der Austragungsort Kasan gehört, wird deshalb deutlich. Klar sei die Preisgestaltung Sache der FIFA, aber: „Wir müssen einen Blick werfen auf das durchschnittliche Einkommen der Bevölkerung an dem eigentlichen Ort, wo das Turnier stattfindet.“ Das will er der FIFA vorschlagen und so für die Fußball-WM 2018 Ticketpreise erreichen, die auch für Russen erschwinglich sind. (Dann erledigen sich vielleicht auch die Bilder leerer oder halbleerer Stadien.)

⚽ Was mit dem Videobeweis alles schief gehen kann, das haben die Spiele der vergangenen Tage gezeigt. Verwirrung im Stadion, weil anfangs auf den großen Bildschirmen keine oder nur verspätete Infos für die Fans angezeigt wurden. Eine gerade noch korrigierte Rote Karte für den falschen Kameruner. Der FatRef,  gleichzeitig Journalist bei AP und Unterliga-Schiedsrichter, hat weitere Pannen gesammelt. In Russland kursieren unterdessen Pläne, den Videoschiedsrichter auch bei Liga-Spielen einzusetzen.  Und ich bin immer noch fasziniert von der Second-Screen-Variante dieses Fans in der Reihe vor mir: Während bei Deutschland – Kamerun die anderen Zuschauer auf eine Entscheidung per Videobeweis warteten, rief er auf seinem Handy den Livestream auf und sprang ein paar Minuten zurück, um sich selbst ein Bild zu machen.

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⚽ Russland hat es beim Confed Cup also nicht über die Gruppenphase hinaus geschafft, trotz aufmunternder Worte von Kevin Kuranyi. Was für die berichtenden Sportjournalisten heißt: Vorerst keine Pressekonferenzen mehr mit Stanislaw Tschertschessow, dem Trainer der russischen Nationalmannschaft. Ist das nun ein Verlust an Unterhaltungswert oder ein Gewinn an Höflichkeit? Die einen legen Tschertschessows, sagen wir mal, konfrontatives Verhältnis zur Presse unter „trockener Humor“ ab, die anderen werden deutlicher: „Nach dem Spiel gegen Portugal sprach Stanislaw Tschertschessow mal wieder mit den Journalisten wie mit Staubsaugervertretern, die ihn am Sonntagmittag aus dem warmen Bett herausgeklingelt haben.“

⚽ Apropos Confed-Cup-Aus für Russland: Da würde doch ganz gut dieses eine Meme passen, das aus diesem einen Reuters-Foto entstanden ist, wo Putin und Medwedjew im Regen stehen… Ach ja, und da ist auch schon die passende Variante unter dem Motto: „Wenn du Russland gegen Mexiko guckst“. Respekt, das ging flott! (Meine Lieblingsvariante bleibt aber die hier.)

 

Sotschi mag eines der schönsten Fußballstadien Russlands haben, dennoch droht den Menschen dort nach dem Confed Cup eine fußballerische Durststrecke bis zur WM: Gerade hat der FC Sochi bekannt gegeben, dass er sich ein Jahr Pause vom Ligafußball gönnen wird. „Die Erfolge der Mannschaft sind eher bescheiden,“ schreibt der Verein auf seiner Homepage, „wir sehen Fehler beim Management und bei den Spielern, also brauchen wir ein besseres Team.“ Zuletzt hatte der FC Sochi in der untersten Profiliga Russlands gespielt. Witali Mutko, russischer Vize-Ministerpräsident und Chef des Fußballverbandes, ist von der Entscheidung not amused – verspricht aber, die Lücke mit Länderspielen, einem Frauenfußball-Turnier und dem Granatkin-Jugendturnier im Fischt-Stadion zu füllen.

„Warum ist der russische Fußball so, wie er ist“, fragt die Website „Bombardir“ und zeigt dazu das Bild eines Spielers, der mit den Händen vorm Gesicht auf dem Rasen liegt. Es folgt „eine ultrakurze Analyse unserer Trauer“ in zehn Punkten, darunter: „Weil die Philosophie des russischen Fußballs Menschen schafft, die glauben, dass sie schon lange alles wissen und nichts mehr hinzulernen müssen“ – das gelte für Trainer wie für Spieler. „Weil bei der Mannschaftsaufstellung Freundschaft, Verwandtschaft oder gemeinsame Geschäftsinteressen wichtiger sind als Talent und Fähigkeiten.“ Dünkel, Klüngel und mehr – die ganze Liste gibt es hier.

⚽ Nach ihrem Draxler-Porträt vergangene Woche stellt die Rossijskaja Gaseta ihren Lesern diese Woche Timo Werner vor. „Dream Timo“ heißt die wortspielige Überschrift, und auch sonst ist die Begeisterung groß: „Am internationalen Fußballhimmel leuchtet ein neuer Stern“, auch wenn in Werners Karriere nicht immer alles glatt gegangen sei – die Schwalbe, die Pfiffe. Dennoch: „Es bleibt das Gefühl, dass Werner sicherlich zu denjenigen gehören wird, die in einem Jahr zurück nach Russland kommen zur Fußball-Weltmeisterschaft.“

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Ganz schön lang ist sie geworden, diese Russball-Folge. War das jetzt zu lang? Dann sagt gerne Bescheid, in den Kommentaren oder bei Twitter. Die bisherigen Folgen findet ihr hier, und dank ein paar Stunden Rumgefrickel mit Mailchimp könnt ihr Russball  auch abonnieren. Danke fürs Lesen und bis nächste Woche!



Vom Versuch, in Sotschi eine Karte für Deutschland-Kamerun zu kaufen

kscheib confed cup sotschi ticketsDass die deutsche Fußball-Nationalmannschaft und ich gleichzeitig in Sotschi sein würden, wusste ich vor einer Woche noch nicht. Der Besuch hier ist spontan, es ist auch nicht mein erster, die touristischen Attraktionen hab ich soweit alle durchgespielt.

Es bleibt also genug Zeit für einen kleinen Selbstversuch: Natürlich möchte ich gerne heute Abend das Spiel Deutschland – Kamerun beim Confed Cup sehen. Fehlt nur die Eintrittskarte. Und um die zu bekommen, stelle ich mich heute mal dumm und spreche kein Russisch, nur Englisch. Wie wohl die Mehrheit der ausländischen Fans, die im kommenden Jahr hierher zur Fußball-Weltmeisterschaft kommen werden.

1. Anlaufstelle: der Infostand unten im Hotel

Das ist ein bisschen gepfuscht, denn eigentlich sind die drei Damen hinterm Tresen dazu da, angereisten Journalisten und Offiziellen zu erklären, wo ihr Shuttle zum Stadion fährt. Aber es ist wenig los, ich frage kurz und bekomme dreifach simultan Auskunft in gutem Englisch: Tickets kauft man am Bahnhof, da kommt man am besten mit dem Taxi hin. Alles klar, das Taxi rufe ich per App, es kommt in 3 Minuten. Läuft.

2. Anlaufstelle: der Infostand vor dem Bahnhof

Nur leider vor dem falschen Bahnhof. Denn dummerweise wusste ich nicht, dass Adler (der Vorort von Sotschi, in dem das Stadion und auch mein Hotel liegen) zwei Bahnhöfe hat. Ich hätte nach „Adler, Olympischer Park“ gemusst, dass hier ist einfach nur „Adler“. Aber macht ja nichts, vor dem Haus steht ein Stand mit drei freiwilligen Helferinnen, geschätztes Alter: kurz vor volljährig. „Entschuldigung, wo kann ich hier Fußballtickets kaufen?“ Große Augen, Gekicher. Russische Satzanfänge. Dann nimmt eine ihren Mut zusammen und sagt, in akkuratem Schulenglisch: „Anderer Bahnhof. Bus 124.“ Und die andere ergänzt: „Oder Lastotschka. Vorortzug.“ 

3. Anlaufstelle: Fahrkartenschalter

Telegrammstil ist die Lösung, wer braucht schon ganze Sätze. Ich also: „Olympischer Park?“ – Sie so: „60 Rubel.“ – Ich so: „Danke. Wo?“ – Sie so: „Da.“ Und zeigt nach rechts. Meine Fahrkarte und ich wollen schon mal aufs Gleis, werden aber unterwegs von einer Kontrolleurin abgefangen. Sie sagt, dass man erst kurz vor der Abfahrt aufs Gleis darf, mein Zug aber erst in zwanzig Minuten kommt. Da ich heute kein Russisch kann, versteh ich das leider nicht, aber ihre Gesten sind eindeutig. Ich lasse mich also wegschicken, gehe aus dem Gebäude raus, noch ein bisschen aufs Meer gucken. Es regnet, aber Meer ist Meer. Zwanzig Minuten später sitze ich im Zug. Die Durchsagen sind auf Russisch und auf Englisch.

4. Anlaufstelle: ein Freiwilliger am anderen Bahnhof

Jetzt aber: Olympischer Park! Im diesmal richtigen Bahnhof steht ein junger Mann in Freiwilligen-T-Shirt, mit Freiwilligen-Bändel um den Hals. „Wo kann ich Tickets kaufen?“ Er sagt auf Russisch, dass er kein Englisch kann. „Tickets?“ Kopfschütteln. Als ich auf Russisch frage, ist er dagegen gleich im Thema: Tickets für die Bahn oder fürs Fußballspiel? Ah, okay, dann bitte dort aus dem Gebäude raus, die Treppe runter, dann sehen Sie’s schon.

5. Anlaufstelle: die Fan-ID-Zentrale

Echt jetzt? Dieses winzige Blechhäuschen, an dem „Kasse“ steht? Ohne ein einziges Fußball-Logo? Nein, das kann nicht sein, und das ist dann auch nicht: Hier gibt es zwar Tickets, aber nur für Leute, die in einem Elektrowägelchen übers Olympiagelände tuckern wollen. Ansonsten sieht man: Zäune, Zäune, geschlossene Türen, Sicherheitsmänner, Sicherheitshunde, Pfützen, Zäune… oh, da hinten ist ein Schild! Hier kann man seine Fan-ID abholen. Die habe ich zwar schon, aber wo es Fan-IDs gibt, gibt es bestimmt auch Leute, die sich auskennen. 

Leider hat die Freiwillige hier neben der russischen nur eine spanische Flagge am Oberteil, und Spanisch spreche ich weder heute noch sonst. Aber sie ist, wie die meisten Freiwilligen, motiviert und nett. Nachdem wir uns mit viel Lächeln und Kopfschütteln darauf geeinigt habe, dass wir uns nicht verstehen, ruft sie einen Bekannten herbei, der ein paar Meter weiter steht und nichts mit Fußball zu tun hat. Dafür weiß er, wo ich hin muss: „Aus dieser Türe raus und dann links, ein Haus mit viel Rot“ 

6. Anlaufstelle: Freiwillige. Viele Freiwillige

Aus der Tür raus und dann links finden sich einige Meter Asphalt, dann Pfützen, dann ein Zaun. Kein Haus, kein Rot. Aber da drüben, zurück Richtung Bahnhof, hat sich unter einem Wellblechdach eine Menschentraube gebildet. An den Regencapes und den großen Schaumstoff-Winkehänden erkenne ich: Freiwillige! Ein ganzes Nest! Die werden mir helfen! Was sie auch gerne wollen, nur… „Wo kann ich hier Tickets kaufen?“  – Großes Hallo, da spricht jemand Englisch! Der einsame Jungsfreiwillige dreht sich weg und starrt aufs Handy, die Mädchenfreiwilligen reden parallel auf Russisch auf mich ein. Was ich will? Ob ich Russisch kann? Ob ich eine Fan-ID abholen will?

„Eeeeeeeenglisch!“ ruft eine über den Hof, „spricht von euch irgendwer Eeeeeeeenglisch?“ Sie sind, kurz gesagt, ganz hinreißend und organisieren erst eine Freiwillige, die tatsächlich leidlich Englisch kann und um Geduld bittet, und dann sogar eine Freiwilligen-Leiterin, mit Megafon, Autorität und gutem Englisch. „Sie müssen zurück gehen Richtung Bahnhof, aber dann über den Parkplatz, über die Straße. Das Haus mit Rot außen dran.“ Ich bedanke mich, winke in die Gruppe und gehe los. Schaumstoffhände winken zurück.

7. Anlaufstelle: Das Haus mit Rot dran

Das Haus! Mit Rot! Genau genommen mit dem Confed-Cup-Schriftzug auf rotem Untergrund. Wäre dies ein Comic, man sähe in meinen Augen Fußball-Tickets. Was machen schon nasse Füße, wenn sie auf eine Tür zustapfen, über der „Self Service Terminals“ steht. Die Tür zum Ticket. Die Tür zum Glück. Die Tür ins Trockene.

Die Tür ist zu. Abgeschlossen, drinnen brennt kein Licht. Aber ein paar Meter weiter gibt es noch einen Eingang, mit einer Freiwilligen im Rentenalter. „Kann ich hier Tickets kaufen?“ – „Natürlich. Hier durch die Sicherheitsschleuse, das Handy bitte einmal da ins Körbchen, und dann da vorne anstellen.“ Je näher man dem Ziel kommt, desto leichter wird es. Als ich kurz darauf an einem Touchscreen stehe und auf die deutsche Fahne tippe, sagt eine Stimme neben mir auf Deutsch: „Entschuldigung, aber das ist nur zum Ausdrucken. Erst müssen sie dort bezahlen.“ Ein Freiwilliger, etwas schüchtern, aber spontan der Held seiner beiden Kolleginnen, die unser Gespräch mithören: Was, du sprichst Deutsch, fragt die eine auf Russisch, und als er nickt, sagt die andere nur: voll cool!

Es dauert dann alles noch ein bisschen. Schlange, Preiskategorien, wo möchte man sitzen. Dazu die ganzen Sicherheitswünsche der FIFA und des russischen Staates, ich gebe also trotz Fan-ID noch mal Geburtsdatum, Passdaten, Telefonnummer preis, werde noch einmal fotografiert. Aber gut, das ist halt so, und der nette Freiwillige steht stets einen halben Schritt daneben und guckt, ob er noch irgendwie helfen kann. Zum Abschied mache ich ihm noch ein paar Komplimente für seine Deutschkenntnisse. 

 

kscheib confed cup sotschi ticket

Ich stehe vor dem Haus mit Rot dran im Regen und erkläre nach gut zwei Stunden den Selbstversuch für beendet. Was auch dringend nötig ist, denn ohne Russisch würde der Abzocker-Taxifahrer nicht verstehen, was ich von seiner Preisvorstellung für die Fahrt zurück ins Hotel halte. Wegelagerei dieser Art nimmt hier in Russland extreme Formen an

Was habe ich gelernt? Freiwillige sind Idealisten und versuchen zu helfen, wo und wie sie nur können. Das heißt aber nicht, dass man sich als Veranstalter einfach drauf verlassen darf, dass damit schon alles passt. Wenn das 2018 klappen soll mit den Fußballspielen in Sotschi, braucht es Englischkurse, mehr Wegweiser, generell bessere Informationen. Und bei den Fans die Bereitschaft, viel Zeit einzuplanen – und sich vielleicht zumindest ein paar Brocken Russisch draufzuschaffen.

Russball, Folge 2: Draxler, Ronaldo und Jürgen Klopp

Russball kscheib Suus Agnes 2 signed

Die zweite Russball-Ausgabe muss mit einem Dank an alle beginnen, die die erste gelesen, bei Twitter und Facebook geteilt oder sonstwie weiterempfohlen haben. Danke euch – das hat großen Spaß gemacht, zu sehen, wen das Thema alles interessiert!

Noch ein Dank: Die Grafik zu meinen Russball-Blogposts kommt von der Illustratorin Suus Agnes. Im Moment lebt sie in Sankt Petersburg und arbeitet an einer Graphic Novel, für die sie in abgelegenen Regionen Russlands Menschen zu den Umweltproblemen vor ihrer Haustür befragt. Ihre Arbeit an dem Projekt könnt ihr hier verfolgen, ich bin gespannt auf das Resultat.

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⚽ Inzwischen läuft der Confed-Cup – die Welt zu Gast bei Russen. Da werden Sportreporter zu Lyrikern, unterbeschäftigte Volunteers stehen vor dem Bolschoi-Theater in Moskau rum und hoffen, dass sie endlich mal wer was fragt, und ich merke, wie lange ich schon im Instagrammwunderland Russland lebe. Denn mein erster Gedanke bei diesem Trainings-Foto hier oben links war: „Ach guck, Benjamin Henrichs macht ein Selfie.“ (Sieht man besser, wenn man es anklickt)

Okay, ehrlich gesagt war der Gedanke eher „Ach guck, der macht ein Selfie, wer ist denn das noch mal?“ Schließlich hat Henrichs vor dem Confed-Cup erst ein Spiel für die deutsche Nationalmannschaft absolviert. Immerhin geht es ihm aber nicht wie seinen Mitspielern Marvin Plattenhardt, Kerem Demirbay, Lars Stindl, Amin Younes und Sandro Wagner: Von denen haben sie beim DFB kein einziges passendes Foto für diese schicke Ganzkörpergrafik hier gefunden.

(*Update: Der DFB hat inzwischen nachgelegt und den Spielern ein Gesicht bzw einen ganzen Körper gegeben. Vorher sah es dort nämlich so aus:)

⚽ „Er wird geschätzt für sein brillantes Dribbling und seine Fähigkeit, hohe Ablösesummen zu erzielen.“ Mit dieser Bildunterschrift stellt die Rossijskaja Gaseta ihren Lesern Julian Draxler vor, den Kapitän des deutschen Confed-Cup-Kaders.
kscheib Russball Draxler

Es folgt ein Abriss von Draxlers Karriere (jüngster Kapitän der deutschen Nationalmannschaft!), und selbst Lothar Matthäus darf sich hier noch mal äußern. Das „Königsblau“ von Draxlers erstem Club Schalke 04 übersetzt die Rossijskaja Gaseta übrigens sehr hübsch mit „Kobaltblau“. Also, liebe Mit-Schalker: Auf Russisch sind wir die „Кобальтовые“ (Kobaltowieje).

Leonid Sluzki, früherer Trainer der russischen Nationalmannschaft, trainiert in Zukunft das Team von Hull City. Die New York Times nimmt das zum Anlass für eine Analyse: Warum gibt es eigentlich so wenige Russen, die im Ausland spielen? Liegt’s am Geld, an der Konkurrenz? „Russland ist seine eigene Welt, ein Ort, wo Spieler und Trainer hingehen, aber selten herkommen.“ (Hübscher Nebenaspekt: Slutsky erzählt von seinem Vorsatz, in Sachen Englischkenntnisse möglichst bald Jürgen Klopp einzuholen.)

⚽ Letzte Woche ging es hier ja schon mal um die Behauptung, in der russischen Liga habe es vergangene Saison keinerlei rassistische Vorfälle mehr gegeben. Etwas realitätsnäher sind wohl die Zahlen, die Football Against Racism in Europe gesammelt und nun veröffentlicht hat: Ein leichter Rückgang im Vergleich zur Vorsaison, aber unterm Strich immer noch 89 Fälle von Rassismuss und Rechtsextremismus. Dazu gehörten auch antisemitische Aktionen gegen jüdische Trainer oder Vereinsoffizielle.

⚽ Das Fischt-Stadion in Sotschi ist architektonisch ein echter Hingucker. Am Montagabend war es trotzdem eher zum Weggucken: leere Plätze überall, obwohl Australien gegen Deutschland spielte. Es gibt zwar für jedes Spiel einige Billigtickets nur für russische Staatsangehörige, die anderen Kategorien sind aber deutlich teurer. Wenn ich Durchschnittsrussin wäre und im Monat umgerechnet 499 Euro verdienen würde – ich glaube nicht, dass ich davon 72, 87 oder gar 138 Euro für 90 Minuten Fußball ausgeben würde. In Sotschi sollen darum jetzt Freikarten an Schulkinder verteilt werden, damit nicht so viele Plätze frei bleiben.

⚽ Kasan hat ein neues Graffiti: ein bunter, flächiger Christiano Ronaldo. Der, nebenbei bemerkt, auf Russisch „Криштиану Роналду“ (Krischtianu Ronaldu) heißt und damit deutlich näher an der portugiesischen Originalaussprache ist als das, was wir so in Deutschland aus dem Namen machen.

https://www.instagram.com/p/BVUFt5EB_l0/

Ruptly, der Bildagentur-Ableger von RT, hat mit einem der Sprayer gesprochen, der sich weder für Fußball noch für Ronaldo groß interessiert: Die Idee für das Kunstwerk habe der Bürgermeister von Kasan gehabt, „ich selber bin kein Fußballfan, aber ich weiß, dass (Ronaldo) eine sehr berühmte Person ist. Ich habe neulich noch in den Nachrichten von ihm gehört.“ Laut AP kann das Graffiti übrigens nur sehen, wer im portugiesischen Mannschaftshotel wohnt oder arbeitet.

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Das war’s für diese Russball-Folge. Und nachdem ihr letzte Woche so freundlich dafür abgestimmt habt, hier zum Schluss noch ein kleines Formular – falls ihr Russball gerne direkt zugemailt bekommen wollt. So oder so gibt es die nächste Folge am kommenden Mittwoch – bis dann!



60 Minuten Russischunterricht

kscheib Russischunterricht

Dass der Besuch noch schläft. Ob die Milch für den Tee noch gut ist. Dass sie gestern einen extrem vollen Tag hatte. Dass sie mit einem Schüler einen langen Text über Nawalny gelesen hat. Ob die Strategie von Nawalnys Wahlkampf ist, maximal zu provozieren, so lange er das noch kann – bis seine Kandidatur untersagt oder anderweitig verhindert wird. Wann die „Nach-Nawalny-Ära“ beginnt, und dass das ja zumindest heißt, dass es davor eine „Nawalny-Ära“ gegeben hat. Wo Markus gerade ist. Der Stadionbau in St. Petersburg. Die FIFA. Korruption.

Dass das gestern wieder vier Stunden gedauert hat, als Putin im Fernsehen Fragen von Bürgern beantwortet hat. Um welche Antworten er sich gedrückt hat. Was er zum Druck auf Kulturschaffende gesagt hat. Zu welchem Zinssatz Kleinunternehmer einen Kredit aufnehmen können und was da noch an Zusatzgebühren draufkommt. Der Unterschied zwischen einer physischen Person und einer juristischen Person.

Dass es in der EU bald kein Roaming mehr gibt. Dass eine Journalistin im Fernsehen die russischen Telefonanbieter gefragt hat, warum Russen im Ausland weiterhin Roaminggebühren zahlen müssen. Dass die Antwort war: Schaut mal, die EU ist so klein – und ihr müsst im ganzen, großen Russland keine Roaminggebühren zahlen, freut euch doch.

Das Konzert gestern Abend im Tschaikowskisaal. Zu welchem Abonnement es gehört, warum der Dirigent ihr liebster ist (musikalisch brilliant, aber auch ein guter Erklärer, der in der ersten Hälfte Mahlers Siebte dem Publikum erläutert und erst in der zweiten Hälfte dann auch aufgeführt hat). Dass ihm wichtig ist, nicht nur die Klassikkenner zu begeistern, sondern auch die, die zum ersten Mal ins Konzert gehen. Dass der Saal ausverkauft war. Was Mahler als Dirigent für Werke geleitet hat. Die Meistersinger von Nürnberg.

Unser Chorkonzert gestern Abend im Konservatorium. Dass der Saal eher so halb voll war. Dass das nichts macht, weil ja im Tschaikowskisaal besagter Superdirigent auf der Bühne stand und bestimmt das Publikum abgezogen hat. Dass man als Alt wenig sieht, wenn auf der Bühne zwei Konzertflügel aufgebaut sind und dahinter steht der Dirigent. Dass wir Chorsänger in der ersten Hälfte hinten im Saal sitzen durften zum Zuhören. Dass beide Pianistinnen großartig waren, aber der Umblätterer der einen sich so vertan hat, dass sie verärgert war und selber geblättert hat. Dass in der Pause die beiden Pianistinnen die Plätze getauscht haben. Dass es viel Applaus gab, viele Blumen und sogar eine Artischockenblüte für unseren Dirigenten. Dass er sie gehalten hat, als wäre es ein Knüppel.

Dass das mit den Blumen eine schöne Tradition ist. Dass es auch immer wieder Leute gibt, die zusätzlich kleine Geschenke hochreichen. Dass das gerade rund um Weihnachten und das Jahresende oft passiert. Dass es lustig ist, wenn da oben ein Dirigent steht, im Smoking, hochprofessionell, und unten eine Babuschka, die ihm einen Beutel mit selbstgebackenen Piroggen hochreicht.

Dass noch vor einigen Jahren das Moskauer Konzertpublikum meist aus alten Frauen und Musikstudenten bestand. Dass dann der Moskauer Bürgermeister irgendwann beschlossen hat, dass sich Straßenmusiker um die richtig guten Plätze bewerben müssen. Dass deshalb jetzt an einigen Stellen echte Profimusiker sitzen, und so alle Leute ein Verständnis dafür bekommen, was gute Musik ist. An welcher Metrohaltestelle man kaum umsteigen kann, weil im Durchgang zwischen den beiden Stationen immer zwei Musiker spielen, Cello und Geige, bei denen die Passanten stehenbleiben und applaudieren, und keiner kommt mehr vorbei. Wo in der Metro man eher Klassik hört und wo eher Rock. Dass Musik selbst in der Rushhour dafür sorgt, dass man mal kurz durchatmet.

Wie man „Korruption“, „Schmiergeld“, „verärgert“, „die Plätze tauschen“ und „durchatmen“ auf Russisch sagt und schreibt.

Die Hausaufgaben. Bewegungsverben mit allerlei Vorsilben, vor allem hin- und weg-. „Nach den Prüfungen sind die Studenten in ihre Heimatländer weggefahren.“ Dass родина (rodina) zwar „Heimat“ heißt im Sinne von Heimatland, man aber auch малая родина (malaja rodina) sagen kann, „kleine Heimat“, was dann den Geburtsort oder die Region bezeichnet, aus der man kommt: „meine kleine Heimat“.

Verschiedene Aspekte von Fortbewegungsverben. Bewegt sich jemand einmal oder mehrfach? Regelmäßig oder ausnahmsweise? Und der Ort, wo er sich hinbewegt hat – ist er da noch oder schon wieder weg? Wie sich die Deklination von „fahren“ leider komplett ändert, sobald es eine Vorsilbe bekommt. Hinfahren. Wegfahren. Losfahren. Abfahren.

Welche Fußballvokabeln wir letztes Mal besprochen haben. Ein Tor schießen. Ein Tor reinbekommen. Gegner. Regelverstoß. Platzverweis. Dann Neues: Wie groß ein Fußballplatz ist, und seit wann das so festgelegt ist. Dass zum Beginn jeder Halbzeit und nach jedem Tor der Ball auf den Mittelpunkt kommt. Dass es für die verschiedenen zeitlichen Abschnitte von sportlichen Wettkämpfen (Halbzeit, Runde, Satz) verschiedene russische Wörter gibt, aber alle aus dem Englischen kommen. Welchen Durchmesser der Anstoßkreis hat. Die unterschiedlichen Wörter für „Kreis“ = die Linie außen herum und „Kreis“ = die Fläche innerhalb dieser Linie. Wie hoch und wie breit ein Fußballtor ist.

Wie das Wetter am Wochenende wird. Ihre Wochenendpläne. Unsere Wochenendpläne. Ob Putin auf Nawalny wohl reagiert, indem er das Internet weiter beschränkt und Blogger verhaften lässt, oder ob er demnächst seinen eigenen Kanal bei Youtube aufmacht. Dass wir uns Montag wiedersehen. Auf Wiedersehen. Vielen Dank.

Manchmal kann ich nicht fassen, worüber wir in 60 Minuten Russischunterricht alles reden.

Beste Russischlehrerin der Welt hab ich schon gesagt?

Russball, Folge 1: Noch ein Jahr bis zur Fußball-WM

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Im Zentrum von Moskau, nicht weit entfernt vom Roten Platz, steht eine rot-goldene Skulptur mit einem Display, das heute die Zahl 365 zeigt. Es ist ein Countdown bis zur Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland, gut sichtbar im Herzen der Stadt. Heute in einem Jahr wird das Eröffnungsspiel angepfiffen.

Ein Jahr noch, um die Stadien fertigzubauen. Ein Jahr, um Hooligans und Rassismus in den Griff zu bekommen. Ein Jahr, um das mit den Tickets anständig zu organisieren. Und für mich: ein Jahr für ein neues Blogprojekt.

Einmal pro Woche will ich hier interessante Links sammeln über Fußball, Russland und den Fußball in Russland. Artikel, Social-Media-Posts, Videos. Aus internationalen Quellen und eben aus Russland selbst. Eine kleine Dienstleistung für die, denen die Zeit oder die Sprachkenntnisse fehlen, hier selbst den Überblick zu behalten.

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⚽ Sieben Stadionbaustellen in Russland haben die Mitarbeiter der Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch besucht. Was sie dort fanden, war erschreckend: Arbeiter werden spät oder gar nicht bezahlt, müssen auch bei extremer Kälte draußen arbeiten, werden drangsaliert und eingeschüchtert. Viele bekommen keinen Arbeitsvertrag und haben damit auch keine Rechte. Wer sich beschwert oder streikt, verliert seinen Job. Es sind oft Gastarbeiter aus Zentralasien, die an den Stadien für die Fußball-WM bauen, nach einem Bericht des Guardian aber auch Nordkoreaner. Sie würden „wie Kriegsgefangene“ auf der Petersburger Baustelle gehalten und geschunden, sagte ein Subunternehmer der Zeitung. Den ganzen Bericht von Human Rights Watch gibt es hier.

⚽ Als Probelauf für die Fußball-WM beginnt hier in wenigen Tagen der Confed-Cup. Der Ticketverkauf schleppt noch, ist halt nur ein Mini-Turnier mit acht Mannschaften, von denen manche ihre Stars lieber zuhause lassen. Wie gering das Interesse am Confed-Cup wirklich ist, veranschaulicht am besten ein Zitat von Dmitri Tarasov: „Wenn ich ehrlich bin, habe ich erst vor kurzem erfahren, dass es dieses Turnier gibt. Darum kann ich nicht sagen, ob es wichtig ist oder nicht.“ Tarasov ist Profifußballer. Er spielt bei Lokomotive Moskau – und gehört zum Kader der russischen Nationalmannschaft für den Confed-Cup.

⚽ Das Zuhause der deutschen Nationalmannschaft während des Confed Cups ist Sotschi, genauer gesagt das Luxushotel Radisson Blu. Allerlei Formel-1-Größen haben hier schon gewohnt, wirklich beeindruckend am Haus sind aber die Mitarbeiter. Die Fachkraft zum Beispiel, die sich bei der Suche nach einem Namen für den hauseigenen Wellnessbereich für den maximalen Russlandkalauer entschieden und das Spa „Sibo“ getauft hat. Spa Sibo, verstehste? Na? Na? Respekt auch dem Hotelfotografen, der regelmäßig auf irgendwelche Treppen oder Mäuerchen steigen muss, um den Instagram-Account des Hotels mit Dekolletés aus der Vogelperspektive zu füllen, etwa hier, hier, hier gleich mehrfach, hier oder auch hier:

Insgesamt haben Sotschis Hotels während des Turniers Platz für 200.000 Fans. Ins örtliche Stadion passen etwa 45.000 Zuschauer.

⚽ Glückwunsch an den russischen Ligafußball – eine komplette Saison ohne auch nur einen rassistischen Vorfall soll es gewesen sein. Sagt jedenfalls ein Verbandssprecher, der darin auch gleich ein gutes Zeichen für Confed-Cup und WM sieht. Wie wahrscheinlich es ist, dass diese Statistik auch die Realität abbildet? Nun ja. Hulk, Emmanuel Frimpong und andere Legionäre haben den russischen Liga-Alltag ganz anders erlebt: Affengeräusche, Bananenwürfe, so ist der Alltag für Spieler, deren Haut den Rassisten unter den Fans nicht weiß genug ist. Was, wie bei Frimpong, die Offiziellen gerne ignorieren.

⚽ Apropos Bananen: Es gibt tatsächlich Leute, die es Ende Mai bei einer Confed-Cup-Vorfreude-Parade in Sotschi für angemessen hielten, ihre Gesichter schwarz anzumalen und sich mit Bananen zu kostümieren um, na klar, das Teilnehmerland Kamerun zu symbolisieren. Es hat gedauert, bis der Bürgermeister sich entschuldigte, und die Nachrichtenagentur TASS formulierte ihre Meldung, wie es ein russisches Staatsmedium halt so tut: Solche Vorfälle würden „von dunkelhäutigen Fans und Spielern oft als beleidigend wahrgenommen.“ Subtext: Wenn ihr Schwarzen da unbedingt ein Problem draus machen müsst…

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Zum Schluss noch ein Dank an alle Mit-Brainstormer bei der Suche nach einem Namen für dieses Projekt. Da oben in der Überschrift könnte statt „Russball“ auch „Entscheidend ist auf’m Roten Platz“, „Bend it like Putin“, „Der Russe steht vorm Tor“ oder auch „Katrins корнер“ stehen. Und das kann nun wirklich keiner wollen.

Und was wollt ihr? Bloggen werde ich Russball definitiv jede Woche. Aber vielleicht wäre das ja auch als Newsletter nicht schlecht, der zu euch kommt, statt dass ihr hier im Blog nach neuen Folgen suchen müsst? Ich freu mich, wenn ihr mit abstimmt!

Ein Russe mit Triple-A-Rating

Gegenüber der Leninbibliothek gibt es eine kleine Straße, in der man nur selten Touristen trifft. Wer eine Moskauer Sehenswürdigkeitenliste abarbeitet, läuft ein paar Meter weiter östlich parallel die Mochowaja-Straße entlang, mit Blick auf den Kreml und die Manege. Der Romanow-Pereulok dagegen zeichnet sich dagegen bestenfalls dadurch aus, dass er an der Rückseite der Journalistischen Fakultät entlangführt, an einer Raiffeisenbank – und an dem Haus mit dem roten Sockel und den vielen Gedenktafeln.

Viele mittelgroße Sowjetgrößen haben hier gelebt, zentral und durchaus prestigeträchtig: Marschall Iwan Stepanowitsch Konew, dessen Einheiten Auschwitz und später auch Prag befreiten. Wladimir Pawlowitsch Barmin, der am Weltraumbahnhof in Baikonur mitgebaut hat. Alexei Alexandrowitsch Kusnezow, kommunistischer Parteifunktionär, der mal als Stalins Nachfolger gehandelt und dann auf Stalins Geheiß hingerichtet wurde. Sabit Atajewitsch Orudschew, sowjetischer Öl- und Gasminister.

Für jeden von ihnen wurde hier eine Gedenktafel angebracht – meist mit Porträt, dazu eine kleine Biografie, die Schrift in Grabsteinoptik. Aber keine der Tafeln hat es mir so angetan wie das schlichte, schwarze Rechteck mit den grauen Buchstaben. Kein Porträt, nur Text, alles ganz dezent. Aufgehängt zur Erinnerung an Andrej Andrejewitsch Andrejew. Als ich eben meine Fotos aus dem Romanow-Pereulok auf dem Handy gesichtet habe, stellte sich raus: Dieses Motiv habe ich schon mehrfach fotografiert.

Andrej Andrejewitsch Andrejew

Auch Andrejew fällt in die Kategorie „mittelwichtig“, oder besser noch, wie Kusnezow: „war mal ziemlich wichtig und verlor dann an Macht“. Auf diesem Foto aus dem Jahr 1935 ist er der Mann im schwarzen Anzug, der vor Stalin steht und aussieht wie die Monty-Python-Version eines französischen Malers. Im Politbüro war er vor allem für Landwirtschaft zuständig, Wikipedia hält über Andrejew noch den schlicht-schönen Satz bereit: „Nach ihm wurden Lokomotiven benannt.“

Man merkt, es sind nicht Andrejews Taten, die ihn zu meinem Favoriten in Sachen Gedenktafeln machen. Dass seine mir die Liebste ist, liegt weder an Landwirtschaft noch an Lokomotiven, sondern bloß am Klang. Ich weiß noch, wie ich ihn mir im Kopf vorgesprochen habe, als das Kyrillischlesen noch schleppte. Wie ich mich gefreut habe über Andrej (!) Andrejewitsch (!) Andrejew (!), diesen Dreiklang aus Vorname, Vatersname und Nachname!

Putin mag Wladimir Wladimirowitsch heißen, an Andrejew kommt er erst dann heran, wenn er seinen Nachnamen auf Wladimirow ändert. Andersrum ist meine stille Hoffnung, dass der Fußballspieler Wladimir Wladimirowieser bulgarische Fußballspieler oder Professor Wladimir Wladimirow vielleicht einen Vater namens Wladimir hatte und sein „Wladimirowitsch“ nur vergessen hat, zu erwähnen.

Vor allem aber wünschte ich, es gäbe einen Begriff dafür, wenn ein Russe seine drei Namensbestandteile so schön synchronisiert. Хет-трик (Hattrick) könnte man sagen, klar, aber das ist so allgemein. „Doppelt gemoppelt“ ist zu wenig.

Schön wäre irgendwas zwischen „Namens-Fullhouse“ und „The Real McCoy“, zwischen „Ein-Mann-Triumvirat“ und „Hendiatryoin“, um ihnen allen gerecht zu werden: Nicht nur meinem Moskauer Andrej Andrejewitsch Andrejew, sondern auch Iwan Iwanowitsch Iwanow, Nikolai Nikolaiewitsch Nikolajew und den anderen, so es sie denn gibt. Am besten noch mit einem Ritual dazu: Wem ein solcher Name begegnet, der muss irgendetwas Albernes rufen, sich dreimal um sich selbst drehen und hat dann einen Wunsch frei. Das gilt dann, bitte, ab sofort. Ich stelle mich in den Romanow-Pereulok und überprüfe das.

Lecker Siebzigerjahre-Design aus der Sowjetunion

Alles fing damit an, dass eine Freundin neue Schuhe wollte. Oder besser gesagt: alte. Sie hatte sie online entdeckt, in einem kleinen Laden in Kiew, der sich auf Vintage-Mode spezialisiert. Ich plante sowieso eine Reise in die Ukraine, sollte also Schuhbotin spielen. Handlungsreisende. Zeitreisende.

Eine Halskette, eine Handtasche, eine Brosche und eine Tolle-Retro-Emaille-Schüssel-die-mal-als Schublade-zu-einem-sowjetischen-Kühlschrank-gehört-hat später, und der kleine Vintage-Laden nicht weit vom Maidan gehört zu meinem Pflichtprogramm bei jeder Kiew-Reise.

Diesmal ist mir beim Stöbern dort ein Stapel Flyer in die Hände gefallen. A5-Format in etwa, Farbdruck, matt. Vorne Bild, hinten Text. „Säfte“ steht untern den Illustrationen, „Kompott“, „Kwas“ oder, auch schon mal, „Heil-diätetische Konditoreiwaren“. Herausgegeben hat sie im Jahr 1975 das Ministerium für Lebensmittelindustrie der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (vielen Dank allen, die bis zum Ende dieses Begriffs dabei geblieben sind), und das Design ist so Siebziger, so Sowjetunion, so besonders, dass ich den ganzen Stapel mitnehmen musste.

"Pflanzenöle"
„Pflanzenöle“

Sonnenblumenkerne als Zirkelmuster in der Mitte, 23 Blütenblätter, Knallfarben. Was wie ein altes Grünen-Wahlplakat aussieht, bebildert tatsächlich einen ministeriellen Infotext zu Pflanzenölen. Der Text ist weder kurz noch interessant („bekannt sind unter anderem Nussöl, Senföl, Maisöl, Sonnenblumenöl, Rizinusöl, Hanföl, Leinöl, Olivenöl, Baumwollsamenöl, Sojaöl, Kokosöl und andere…“), und man fragt sich schon, warum es der Sowjetunion – oder zumindest ihrer ukrainischen Teilrepublik – so wichtig war, ihre Bürger derart tiefgehend über dieses Thema aufzuklären.

Bei anderen Flyern erschließt sich mir das schon eher. Wer Beerenweine hochjubelt, will dafür sorgen, dass die Bevölkerung richtigen Wein nicht so vermisst. Wer Margarine lobt (und dieses Paket Margarine dann auch noch so zeichnet, als läge es in seinem ganz eigenen Scheinwerferlicht), hofft auf eine geringere Nachfrage nach Butter.

"Obst- und Beerenweine"
„Obst- und Beerenweine“
"Margarine"
„Margarine“

Die Teewerbung, mit dem Blick durchs geschwungene Fenster direkt auf die Plantage, suggeriert: Exotik im eigenen Lande, Genosse! Und der nächste Flyer, mit blauem Suppentopf und Effizienz versprechender Uhr, wirbt für Fertiggerichte: „Maisriegel (in den Geschmacksrichtungen süß, süß mit Zimt, süß mit Vanille, süß mit Zitrone) werden in der Dnjepropetrowsker Fabrik für Fertiggerichte hergestellt und tragen das staatliche Qualitätssiegel.“

"Tee"
„Tee“
"Lebensmittelkonzentrate"
„Lebensmittelkonzentrate“

Eine Vorliebe für Gelb- und Brauntöne haben die Flyer, wenn man sie alle mal nebeneinander legt – gut, das deckt sich mit den Deko-Gewohnheiten der Siebziger. Besonders angetan hat es mir die Werbung für Kompott – im Hintergrund das frische Obst in helleren Farben, im stilisierten Glas dann alles ein bisschen dunkler, wie eingekochtes Obst eben nachdunkelt und an Farbe verliert.

Auch beim Thema Kaffee (Warum wird der überhaupt beworben? War der in der Sowjetunion nicht Mangelware?) dominieren Gelb und Braun, nur Kanne und Tasse leuchten in Sonntagsnachmittagsweiß. Die Texter des Ministeriums informieren uns dazu so zuverlässig dröge, wie das Bild anheimelnd ist: „Kaffee ist ein Durst löschendes Getränk mit tonisierenden Eigenschaften. Er steigert die Leistungsfähigkeit des Organismus. Das Getränk regt das zentrale Nervensystem an, verstärkt die Herztätigkeit und verbessert den Stoffwechsel.“ Dann vielleicht doch besser ein Glas Kwas.

(Die Bilder lassen sich per Klick vergrößern. Und der Vintage-Laden soll auch nicht unverlinkt bleiben: Nika Chick Vintage Corner.)

Mail-Spaß mit der FIFA kurz vorm Confed-Cup

Endlich mal wieder eine Nachricht von der FIFA, es war ja auch schon ein wenig langweilig geworden. Die aufwendige Registrierung auf der Website, um Tickets für den Confed-Cup kaufen zu können. Die nächste Registrierung, diesmal für die Fan-ID, ein Hochglanz-Umhängeschild, ohne das man nicht ins Stadion darf. Dann der Trip durch Moskaus Seitenstraßen und deren Seitenstraßen, um die Fan-ID abzuholen. Danach hatte ich mich zeitweise ein wenig unausgelastet gefühlt.

Gut, dass sich in dem Moment die FIFA ihrer Fürsorgepflicht erinnert. Fußballfans wollen schließlich nicht nur 90 Minuten Zeitvertreib, nein nein. Da geht mehr. Und so kommt am 19. Mai diese Mail (hier aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt):

„Lieber Kunde, wir haben mehrfach versucht, Sie über die Telefonnummer, die Sie bei der Registrierung in Ihrem Ticketing-Account angegeben haben, zu erreichen, hatten aber leider keinen Erfolg. Der Kurier konnte Sie daher nicht erreichen, um sich wichtige Informationen zur Zustellung Ihrer Tickets bestätigen zu lassen, weshalb die Lieferung nun ohne weitere Vorwarnung erfolgen wird, an die Adresse, die Sie in Ihrem Ticketing-Account angegeben haben.“ Es folgt die Aufforderung, sich auf der Seite erneut einzuloggen und zu prüfen, ob man die richtige Telefonnummer angegeben hat.

kscheib FIFA Confed Cup Russland

Zwei Fragen drängen sich auf. Erstens, haben die da im FIFA-Kundenservice einen Wettbewerb laufen, wer den längsten verschwurbelten Satz baut? Dann Glückwunsch an den Verfasser von „Der Kurier…“! Und zweitens, was genau meinen die wohl mit „haben versucht, Sie über die Telefonnummer zu erreichen“? Seit ich die Tickets gebucht habe: kein Anruf, auch nicht in Abwesenheit, von irgendeiner fremden Nummer. Keine SMS von FIFA, Kurierdienst oder sonst einem unbekannten Absender. Denn die Nummer, das ist schnell nachgeguckt, habe ich richtig ausgefüllt. Kein Tipper, kein Dreher, richtiger Ländercode. Hmmm.

Das Gelände, auf dem ich hier in Moskau wohne, hat einen Schlagbaum und, je nach Besetzung, zwei bis drei Schlagbaumhüter. Wer eine Lieferung erwartet, muss die beim Dispatcher (ja, das heißt auf Russisch so) telefonisch anmelden, damit sie durchgelassen wird. Ich schreibe also an die FIFA, grob zusammengefasst: Liebe FIFA, die Nummer stimmt, ich kann aber keine Anzeichen dafür erkennen, dass ihr versucht habt, mich zu erreichen. Ich hab sie jetzt noch mal anders formatiert, falls ihr die Anrufe automatisiert habt und euer Automatismus sie nur lesen kann, wenn da an manchen Stellen Bindestriche stehen. Wenn ihr mir sagt, welchen Kurierdienst ihr nutzt und wie ich den erreiche, setze ich mich aber auch gerne direkt mit ihm in Verbindung.

FIFA-Mail Nr. 1, am 21. Mai: „Unsere Absicht ist es, Ihre Anfrage innerhalb von fünf bis sieben Werktagen zu beantworten. Bitte beachten Sie, dass diese Nachricht automatisch gesendet wurde. Wir möchten Sie bitten, dass Sie keine Antwort auf diese Email schicken.“

FIFA-Mail Nr. 2, am 22. Mai: „Lieber Kunde, das FIFA-WM-Ticketing-Center bedankt sich für die von Ihnen gemachten Angaben.

Ähm. Nun ja. Textbausteine, klar – aber kann man nicht zumindest so tun, als ginge man auf den Inhalt der Mail ein? Ganz abgesehen davon, dass ich gerne wüsste, wann der Kurier kommt – die Schlagbaumhüter, FIFA, du verstehst. Also, neue Mail: „Hi, eure Antwort hat leider nichts mit meiner Frage zu tun. Wie geht es jetzt weiter? Kann ich Kontakt mit dem Kurier aufnehmen? Wann werden die Karten geliefert?“

Ich bin halt auch selbst schuld. Denn „Wann werden die Karten geliefert“ ist natürlich ein Schlüsselreiz, für den bereits der nächste Textbaustein parat liegt. Er kommt, nach der üblichen „Unsere Absicht ist es, Ihre Anfrage innerhalb von fünf bis sieben Werktagen zu beantworten“-Mail, denn auch prompt: Alle Tickets werden grundsätzlich ab Mai geliefert, wenn nicht, dann meldet sich die FIFA noch mal. Was fehlt: Infos zum Kurierdienst, Kontaktmöglichkeit – eigentlich alles, was eine Antwort auf meine Mail wäre.

Es gibt dann noch eine Runde aus „Ihr habt meine Fragen nicht beantwortet, hier sind noch mal meine Fragen, bitte beantwortet meine Fragen“ (ich) und „Unsere Absicht ist es, Ihre Anfrage innerhalb von fünf bis sieben Werktagen zu beantworten.“ (FIFA), dann wird es ruhig. Bis eines Morgens mein Telefon klingelt – das, dessen Nummer ich damals beim Registrieren auf der Seite (die Älteren werden sich erinnern) angegeben hatte.

Am Telefon ist ein sehr freundlicher, sehr schnell sprechender Herr. Es gehe um den Confed-Cup, er arbeite für einen Kurierdienst und habe eine Lieferung für mich. Ob ich denn wohl zuhause sei? Ein kurzes Telefonat mit dem Dispatcher, und keine Stunde später steht er vor mir: der Kurier mit dem großen braunen Umschlag, auf dem ein blauer „nur persönlich übergeben“-Hinweis klebt. Passkontrolle, Übergabe, schönen Tag noch, Wiedersehen! Es ist der 24. Mai, und ich habe meine Tickets.

Ich hab dann noch mal nachgeguckt, ob die FIFA sich inzwischen gemeldet hat und meine Fragen beantwortet – natürlich nicht. Aber eine andere Mail landet ein paar Stunden später in meiner Inbox, vom Kurierservice „Express“: „Sehr geehrter Kunde des Confed-Cups 2017, Ihre Tickets mit der Bestellnummer XY sind beim Kurierservice eingegangen. Sie werden nun bearbeitet und Ihnen dann zugestellt. Unsere Mitarbeiter vor Ort werden sich in den kommenden Tagen bei Ihnen melden, um einen Liefertermin zu vereinbaren.“

kscheib Confed Cup Tickets FIFA