Der Preis für den Blick ins Paralleluniversum ist ein schwerer Kopf. Wir sind ein Grüppchen von vielleicht 15 Leuten, die heute gemeinsam durchs Moskauer Stadtzentrum laufen, und alle haben wir eine große, schwarze Virtual-Reality-Brille um den Hals hängen – die Gear VR, Gewicht: 345 Gramm. Mit ihr wollen wir uns anschauen, wie Moskau ausgesehen hätte, wenn die Stadtplaner Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts anders entschieden hätten. Und dazu braucht es eben die Brille.
Der Plan ist schließlich nicht, sich bloß Fotos oder Filme nicht verwirklichter Bauprojekte anzusehen. Die Gruppe „Moskau mit den Augen der Ingenieure“, die diese Stadtführung anbietet, hat sich etwas anderes ausgedacht: Warum nicht die Straßen und Plätze der Stadt selber ablaufen, gelegentlich stehenbleiben und sich dann umschauen? Vor den Augen, dank Brille: Gebäude, die in Wirklichkeit nie über die Planungsphase hinauskamen. In den Ohren: die Geräusche, die heute zu diesem Ort gehören. Menschen auf dem Roten Platz, Straßenlärm am Hotel Vier Jahreszeiten. Musik, Werbung, Hall von den umliegenden Gebäuden.
Lenins Mausoleum zum Beispiel. Dieses nicht besonders hübsche, eher grobklotzige rot-schwarze Gebäude da gegenüber vom GUM hätte auch ganz anders aussehen können. In der Virtual-Relity-Variante ist es plötzlich hell, einladend, mit einem Säulengang rundherum. Die Christ-Erlöser-Kathedrale direkt am Ufer der Moskwa wurde schon mal vorsorglich abgerissen, um Platz für den Palast der Sowjets zu schaffen – doch auch der wurde nie verwirklicht. Heute steht dort wieder die Kathedrale. Mit der Brille sehen wir den nie gebauten Bombastpalast trotzdem vor uns, während unser Begleiter erzählt und erzählt und erzählt.
Das ist tatsächlich der eine, große Haken an der ansonsten interessanten Tour: So schön es ist, einen Fachmann dabei zu haben, der für Architektur brennt – das, was wir erzählt kriegen, ist einfach zu viel, zu detailliert, zu sehr von-Hölzchen-auf-Stöckchen. Vor allem für Nichtmuttersprachler ist das anstrengend: Mehr als die Hälfte unserer Gruppe sind keine Russen, wir hatten also unseren Tourguide gebeten, etwas langsamer zu reden. Daraus wird nichts, sorry – er habe, sagt er, einfach zu viel zu erzählen. Hm. Dazu noch der Moskauer Feierabendverkehr, und die Tour zieht sich immer länger. Zwei Stunden sollten es sein, nach dreien klinken wir uns schließlich aus – da haben wir immer noch nicht alles gesehen.
Das Gefühl, an Ort und Stelle nachzuvollziehen, wie Moskau heute auch aussehen könnte, ist schon ziemlich einzigartig – und lässt sich schwer mit einem Blogpost vermitteln. Schon alleine der Versuch, den Blick durch die VR-Brille zu dokumentieren, artet in Frickelei aus: Die Brille hat zum Gesicht hin einen Sensor und zeigt nur dann etwas an, wenn der Sensor meldet: Hier alles dunkel, also hat wohl gerade jemand die Brille auf. Mit ein bisschen Daumen-Getrickse gelingt dann zumindest dieses Foto:
Besser vorstellen kann man sich den Effekt, am gewohnten Ort ungewohne Architektur zu sehen, vielleicht mit diesem Video der Veranstalter (den seltsamen Schneeflocken-Effekt einfach ignorieren):
Würde ich die Tour noch mal machen? Wahrscheinlich schon, dann aber definitiv auf Englisch, und zu einer Uhrzeit, wenn in Moskau gerade mal keine Rush-Hour ist. Die Kombination aus Architektur, Geschichte und eben Virtual Reality – da ist schon einiges bei, was das Nerdherz ein bisschen schneller pochen lässt.