Wie die russische Bürokratie uns bis nach Deutschland verfolgte

kscheib bolschoi viaggio a reims bürokratie
Was nach Russland geblieben ist: Über manche Dinge schreibt man lieber erst, wenn sie vorbei sind. Sicherheitshalber, damit man nicht irgendwen verärgert und doch noch was schief geht. So ist das auch mit diesem Blogpost, der aus Vorsichtsgründen erst heute erscheint. denn ich hatte Angst vor einer kulturellen Institution in Moskau: dem Bolschoi mit seinen Kassenfrauen.

***

Zum Abschied von Russland gehört auch der Abschied von T., der besten aller Russischlehrerinnen. Neben vielen schönen Vokabeln und einer 70-prozentigen Trefferquote bei der Entscheidung zwischen vollendeter und unvollendeter Verbform verdanke ich ihr auch unzählige Ideen, was man in Moskau so unternehmen kann. Kaum eine Ausstellung, in der sie nicht war, kaum ein Orchester, das sie nicht schon einmal gehört hatte, kaum ein Theaterstück, zu dem sie nicht mehr zu erzählen wusste. Zum Abschied sollte sie also eine Karte für eine Operninszenierung am Bolschoi bekommen, die Markus und ich gesehen und gemocht hatten: Il Viaggio a Reims von Rossini. In einer der letzten Russischstunden hatten wir noch eine Kritik dazu gelesen und es war klar: Daran würde auch T. Spaß haben.

Gutscheine verkauft das Bolschoi nicht, aus Prinzip, wobei das Prinzip vermutlich heißt: Das wäre ja auch zu einfach. Aber gut – ein wenig unsubtiles Nachfragen und ich weiß einen Tag, an dem T. abends Zeit hat und die Reise nach Reims auf dem Programm steht. Onlinebuchung, ich komme! Registriert auf der Bolschoi-Seite bin ich, und guck mal, als Maßnahme gegen Schwarzhandel mit Karten muss man angeben, für wen die Karte ist. Alles ausgefüllt – Vorname, Vatersname, Nachname – und fertig. T. umarmt, Tränchen verdrückt, Eintrittskarte per Mail nachgereicht und das Land verlassen.

***

Ein paar Wochen darauf kommt eine Mail, T. war am Bolschoi, ihre Karte abholen – man muss den Mailausdruck vor der Aufführung in eine offizielle Karte verwandeln. Aber so einfach ist es nicht, denn der Mensch, der da online gebucht hat und der Mensch, für den die Karte ist, sind nicht derselben. Das ist komplett unerhört und kann nur mittels einer notariell (!) beglaubigten (!!) Vollmacht (!!!) gerichtet werden. Die Kassenfrau hat auch direkt erklärt, was da alles drinstehen muss – vollständiger Name, klar, Passnummer, ausstellende Behörde, Datum der Passausstellung – das alles natürlich einmal mit Ts. Daten und einmal mit meinen. Immerhin, ein Zugeständnis: Das Bolschoi ist in seiner endlosen Großmut bereit, dieses Dokument auf Englisch statt auf Russisch entgegenzunehmen.

Ein Notar muss also her, in dieser neuen Stadt, wo wir noch zwischen Kartons und an die Wand gelehnten Bildern wohnen. Mal P. fragen, der ist schließlich Jurist, ein wichtiger Mann in einem wichtigen Laden. Außerdem war er schon mal zu Besuch bei uns in Moskau und hat so allerlei Alltagsgeschichten gehört. Er versteht also auf Anhieb, dass hier nicht Gehorsam nötig ist, sondern nur seine Simulation. Kurz darauf geht ein PDF per Mail zu T. Es hat zwar nie einen Notar gesehen, bietet dafür aber wundervoll förmliches Englisch, alle wichtigen Pass- und Personendaten, vor allem aber: Stempel. Viele Stempel, rote Stempel, runde Stempel, obendrüber ein Briefkopf, untendrunter eine Unterschrift. Was Juristen können, können nur Juristen. Mit einer Mischung aus Triumph und Bangen harren wir der nächsten Nachricht aus Moskau.

Ein paar Tage darauf kommt eine Mail, T. war am Bolschoi, ihre Karte abholen. Dachte sie jedenfalls, aber nein: „Das Epos geht weiter“, schreibt sie, und dass sie gerne der Kassenfrau ihre Meinung gesagt habe, aber sie fürchte, dann gar kein Ticket mehr zu bekommen. Was also haben wir falschgemacht? Na klar: Direkt bei der Buchung einer Karte, mit meinem Bolschoi-Kundenkonto und mit T. als von Anfang an eingetragener Kartenempfängerin haben wir – vermutlich war sein Portemonnaie gerade griffbereit – zum Bezahlen dummerweise Markus‘ Kreditkarte verwendet. Die famose semi-notarielle Vollmacht reicht also nur halb. Das Bolschoi will dasselbe noch mal haben, nur diesmal vom Kreditkartenbesitzer. Lautes Fluchen, schnelles Mailen an P., der zum zweiten Mal den Rettungsjuristen mit imposanter Stempelkollektion gibt. Nächstes PDF, nächste Mail.

***

T. ist dann tatsächlich in der Aufführung gewesen, Reise nach Reims, Rossini, sie mailt begeistert von den Sängern und der Inszenierung. Was ja die Hauptsache ist. Und wenn das Gefühl bleibt, dass das Bolschoi vielleicht mehr Erfolg im Kampf gegen Schwarzmarkttickets hätte, wenn es anstelle seiner Onlinekunden mal die Männer anspräche, die jeden, aber auch wirklich jeden Aufführungsabend direkt vorm Gebäude stehen… nun ja. Wäre vermutlich effektiver, aber dann hätten wir uns in den letzten Wochen bestimmt nicht so oft mit T. gemailt. Was schade gewesen wäre.

Ein heiliger Eid

kscheib notar

Fast fünf Jahre lang habe ich es geschafft: Ein Leben hier in Russland, ohne dass ich je eine notariell beglaubigte Übersetzung meines deutschen Passes gebraucht hätte. Das war kein bewusstes „Ich komme ohne aus“, mir war einfach nicht klar, dass sowas irgendwann mal ein Thema sein könnte.

Dann kam die Steuererklärung, der Steuerberater brauchte eine Vollmacht, und bei der Notarin im Keller auf der anderen Straßenseite hieß es sinngemäß: Na, wie sollen wir denn ihre Unterschrift auf der Vollmacht beglaubigen, wenn wir nicht mal wissen, wer Sie sind? Dass, wenn nicht im Pass, so doch auf dem dort eingeklebten Visum all meine Daten auch auf Russisch stehen – egal. Das muss übersetzt werden, da muss ein Stempel drauf und eine Notarinnenunterschrift drunter und eine gedrehte Kordel dran, die alles zusammenhält.

Leben in Russland, das ist halt immer wieder die Erkenntnis: So einfach ist das alles nicht. Was wir dir gesagt haben, was du an Unterlagen brauchst – das war eher so eine vorläufige Liste. Ding 1, für das du Eltern, Freunde, frühere Kollegen in Deutschland um eilige Hilfe gebeten hast, Amts- und Bankmitarbeiter am Telefon charmiert, mit Expressgebühren und Schlafmangel bezahlt – das ist uns jetzt egal. Dafür wollen wir nun bitte Ding 2, und zwar nicht einfach als Kopie, sondern mit neuen Stempeln von deiner alten Uni und Apostille von der Bezirksregierung in Arnsberg.

Für dieses Visum brauchst du keinen HIV-Test. Für das nächste schon. Für das nächste danach reicht ein HIV-Test nicht, du brauchst zusätzlich noch einen auf Lepra, Tuberkulose, psychische Probleme und Ausschlag auf Rücken oder Bauch. Und für das wieder nächste Visum brauchst du dann definitiv keinen HIV-Test, bis es plötzlich drei Tage vor dem Termin beim Konsulat ist und du brauchst ihn doch.

Darum hier ein heiliger Eid. Ich leiste ihn für den Fall, dass ich irgendwann mal zurückkomme nach Russland, nicht im Urlaub oder um Freunde zu besuchen, sondern für länger. Und wer weiß, vielleicht ist er ja auch nützlich für Leute, bei denen der Schritt hierher gerade erst ansteht – vor allem, wenn sie dabei kein internationales Großunternehmen mit eigener „Expat Support“-Abteilung im Rücken haben.

Ich werde immer vier biometrische Passbilder bei mir haben. Eines mit den vorgegebenen Maßen für russische und eines für deutsche Dokumente, jeweils einmal als Datei und einmal als Abzug.

Ich werde mir früh eine Bank in Deutschland suchen, bei der das Abheben im Ausland nichts kostet. Und eine Bank in Russland, weil selbst beim kostenlosen Abheben oft nur 7500 Rubel auf einmal erlaubt sind, und weil von der russischen Taxi-App bis zur Ticketkasse am Opernhaus von Odessa oft nur eine russische Kreditkarte akzeptiert wird.

Ich werde mir das Limit der Kreditkarte erhöhen lassen. Was für den Alltag in Deutschland reicht, wird plötzlich eng, wenn man mit gebrochenem Arm im Krankenhaus steht und die Operation vorab bezahlen soll.

Ich werde mir einen Haufen Dokumente noch in Deutschland beglaubigen oder am besten direkt apostillieren lassen. Abizeugnis, Diplomzeugnis, Stammbuch, Geburtsurkunde, Eheurkunde. Das verhindert nicht nur das Bedürfnis, schon bei der Erwähnung des Wortes „Apostille“ in Tränen auszubrechen. So, wie es selten regnet, wenn man einen Schirm dabei hat, gehe ich nach aller Russlanderfahrung davon aus, dass man diese einmal angefertigten Dokumente dann auch nicht mehr braucht.

Ich werde meinen Pass, sobald ich in Russland bin, übersetzen und beglaubigen lassen. Dito den Führerschein. Vielleicht auch den Perso, man weiß ja nie. Oder den Impfpass.

Ich werde mich rechtzeitig fürs Vielfliegerprogramm anmelden. Fliegen mit Russen – nein, eigentlich: Schlangestehen mit Russen ist ein anstrengender Zeitvertreib. Von den Privilegien, die man sich nach und nach erfliegt, ist die Expressschlange am Check-in, in der man nicht eine halbe Stunde lang mit ausgefahrenen Ellenbogen verhindern muss, dass alle an einem vorbeiziehen, das größte Privileg.

Ich werde diesen Eid hier ergänzen, wenn mir noch mehr Dinge einfallen, die ich von Anfang an hätte tun und wissen sollen.

Eine handliche kleine Schmiergeld-Preisliste

Wir müssen mal über Korruption reden. Nicht, weil Russland mit diesem Problem auf der Welt alleine da stünde – wer aus dem Rheinland kommt, kennt die Redensart „Mer kennt sich, mer hilft sich“, mit der der Kölsche Klüngel umschrieben wird. Eine Hand wäscht die andere, in Mülheim wie in Moskau. Aber das Ausmaß ist hier dann doch ein anderes. 

Im Korruptionsindex von Transparency International steht Russland auf Platz 131 von 176. Das klingt abstrakt, bedeutet aber konkret: Jeder, den du hier ansprichst, kann eine Geschichte erzählen zum Thema Filz, Bestechung, Schmiergeld. Eine Geschichte von „Lässt sich das vielleicht auch anders lösen?“ und von „Na, dann sagen Sie doch mal, was Sie sich so vorstellen.“ Eine Geschichte von „Das geht auch einfacher, aber das kostet dann.“

Gut, erzählen kann jeder. Darum habe ich in der folgenden Liste nur die Fälle verbloggt, die meine unmittelbaren Freunde, Bekannte, Kollegen erlebt haben. Kein Hörensagen, kein „der Kollege eines Schwagers“. Nur ein paar Anekdoten aus dem unmittelbaren Umfeld, gesammelt in allerlei Gesprächen. Anonymisiert, zwangsläufig. Aber vielleicht ja trotzdem ganz interessant, was die verschiedenen Preisklassen und die Abwicklung angeht. Oder wüsstet ihr, wie das funktioniert, wenn man einen Streifenpolizisten bestechen will?

kscheib schmiergeld russland

Problem: Du möchtest beim Moskauer Marathon starten. Dazu braucht man ein Gesundheitszeugnis, aber es ist schon Samstag und der Lauf ist am Sonntag.

Du suchst bei Spravka.ru eine Adresse in deiner Nähe raus, gehst in einen Hinterhof, eine Treppe herab in einen Keller. Dort sitzt eine Frau im weißen Kittel. Sie fragt dich, ob du gesund bist. Wenn du das bestätigst, stellt sie dir ein Gesundheitszeugnis aus. Untersuchung: keine. Preis: 400 Rubel (5,70 Euro).

Problem: Ein Jahr später, wieder Marathon. Du hast aber keinen Bock, für das Gesundheitszeugnis so viel Aufwand zu betreiben wie letztes Mal. Geht das nicht auch ohne Aus-dem-Haus-Gehen?

Klar. Für 700 Rubel (10 Euro) kommt jemand vorbei und bringt dir ein ausgefülltes, abgestempeltes Gesundheitszeugnis. (Für ein paar hundert Rubel mehr gibt es übrigens auch die Blanko-Variante, auf der du den Namen selber eintragen kannst. Falls mal ein Freund zu Besuch kommt und mitlaufen möchte.)

Problem: Auf deinem Weg zur Arbeit ist eine Baustelle, die Fahrbahn ist deshalb dort im Moment schmaler als sonst. Nun haben dich zwei Polizisten rausgewunken, die gesehen haben wollen, dass du mit einem Rad über die Fahrbahnmarkierung drüber warst. Sie wollen deinen Führerschein behalten.

Du hast gerade nicht so viel Bargeld dabei? Kein Problem, die beiden vertrauen dir. „Kennst du dich hier in der Gegend aus?“ – „Ja, ich fahr hier jeden Tag lang.“ – „Na, dann weißt du ja auch, wo ein Geldautomat ist.“ Den Führerschein halten sie so lange fest, bis du wieder da bist, mit 5000 Rubel (72 Euro) für jeden. Jetzt schön nebeneinander im Auto sitzen und das Geld auf Schoßhöhe rüberreichen, damit die Transaktion von außen nicht zu sehen ist. Fertig, gute Fahrt noch. 

Problem: Du möchtest als Freiberuflerin von zuhause aus arbeiten – legal, also musst du ein Gewerbe anmelden. Das geht aber nicht von einer Privatadresse.

Du suchst dir jemand, der eine Bürofläche hat. Für 3000 Rubel (43 Euro) pro Monat bestätigt er dir schriftlich, dass du in seinem Büro einen Schreibtisch hast und von da aus deinem Gewerbe nachgehst.

Problem: Es ist vier Uhr morgens, ihr wart feiern und seid alle ziemlich angezählt. Vermutlich solltest du dich nicht mehr ans Lenkrad setzen, stattdessen kommst du auf die Idee: Einfach ganz langsam fahren, dann kann ja nichts passieren. Klar, dass das der Polizei auffällt. Sie winkt dich raus, lässt dich pusten, und du bist über dem Erlaubten. Dabei brauchst du dein Auto doch jeden Tag beruflich!

Für eines bist du dann doch noch klar genug im Kopf: Um zu merken, dass die Polizisten nichts dagegen hätten, das hier auf dem kleinen Dienstweg zu regeln. Der eine weist dich auch sofort an, wieder einzusteigen und zum nächsten Geldautomaten zu fahren. Alkoholtest oder nicht, du sitzt wieder am Lenkrad, aber dafür hast du ja jetzt eine Polizei-Eskorte, die hinter dir herfährt. Über 100.000 Rubel (1435 Euro) sind es am Ende, die du abhebst und den beiden übergibst. Viel Geld – aber ein Jahr ohne Führerschein, das hätte dich den Job gekostet.

Problem: Du möchtest heiraten, hast aber unterschätzt, wie viel Vorlauf es braucht, einen Standesamttermin in Moskau zu bekommen.

Wer schwanger ist, bekommt auch kurzfristig noch einen Termin. Also: Umhören, welcher Arzt einem auch unbefruchtet bescheinigt, dass man schwanger ist, ihm 900 Rubel (13 Euro) für eine Bescheinigung geben und sie beim Standesamt vorlegen. Leider fehlt dann ein entscheidender Stempel – wie ärgerlich, denn für die gefälschte Bescheinigung gibt’s kein Geld zurück. Aber bei einem anderen Arzt und für 1200 Rubel (17 Euro) bekommst du schließlich das richtige Attest für die falsche Schwangerschaft. Jetzt wird geheiratet!

Problem: Du bist eigentlich noch nicht alt genug, um Bier trinken zu dürfen. Nun hat eine Polizeistreife einen Freund und dich dabei erwischt, wie ihr auf einem Spielplatz sitzt und genau das tut. Alkoholkonsum im öffentlichen Raum, ihr seid unter 18 – die beiden drohen mit 1000 Rubel Bußgeld, vor allem aber wollen sie eure Eltern informieren.

„Lässt sich das nicht vielleicht auch anders lösen?“ Die beiden Streifenpolizisten zeigen sich durchaus zugänglich für die Idee, die 1000 Rubel (14 Euro) selber einzustecken, statt sie als Bußgeld zu verbuchen. Dein Kumpel hat auch 1000 Rubel dabei, aber noch keine Erfahrung im Bestechen und versucht deshalb, dem einen Mann das Geld direkt in die Hand zu drücken. Großes Hallo, was machen Sie denn da? Der Polizist erklärt: Fallen lassen auf den Boden muss man den Schein. Kurz darauf bückt sich einer der beiden Beamten – ach schau, ein Fundstück. Sowas. Immerhin: Eure Eltern erfahren nichts.

Problem: Deine Zeit in Moskau geht vorbei, du ziehst zurück nach Deutschland und dein Kater soll mit. Doof nur: Haustiere brauchen zur Ausreise allerlei Papiere. Und die bekommt nur, wer in diese eine Klinik weit draußen im Süden von Moskau fährt, dort eine Wartenummer zieht, wartet, das Tier vorzeigt, wieder wartet…. Und du hast mit der Umzugsplanung gerade echt genug um die Ohren.

Gut, dass du dich schon vor einiger Zeit nach einem Tierarzt erkundigt hast, der solche Probleme löst. Damals sollte der Kater kastriert werden – das hat der Arzt dann bei euch auf dem Küchentisch gemacht, nachdem er den mit Mülltüten abgeklebt hatte. Kostenpunkt: 5000 Rubel (72 Euro). Die Bescheinigung bringt der Arzt jetzt sogar für deutlich weniger vorbei: 3000 Rubel (43 Euro), und schon hast du alle nötigen Papiere in der Hand, damit aus dem Haustier ein Reisetier werden kann. 

Problem: Noch eine Auslandsreise, diesmal geht es um Mensch, nicht Tier. Der Urlaub ist gebucht, in ein paar Tagen geht es los – nur der Reisepass ist nicht mehr zu finden. Als russischer Staatsangehöriger weißt du: ein neuer Pass, das dauert einen Monat, außerdem hast du gar nicht die nötigen Unterlagen zur Hand. Und jetzt? Kein Urlaub?

Ein bisschen Recherche im Internet und es findet sich eine Frau, die behauptet, solche Probleme lösen zu können. Ein Anruf, eine Absprache, zur vereinbarten Zeit gehst du zur zuständigen Behörde. Dort nimmt dich deine Kontaktperson in Empfang, unter ihrer Betreuung darfst du an den diversen Warteschlangen stets vorbei zu den Schaltern. Formular hier, Stempel dort, fertig. Dann überweist du deiner Möglichmacherin 30.000 Rubel (430 Euro), quasi als inoffizielle Expressgebühr. Fünf Tage später ist der fertige Pass da.

Endlich alle Stempel für den neuen Job

Moscow Times  
Wo hört Bürokratie auf und fängt absurdes Theater an? In Russland kann man sich das gut und oft fragen, egal, ob es ums Visum geht, um einen Büchereibesuch oder irgendwas dazwischen. In einem Land, wo man schon mal sieben Stempel braucht, um eine Fahrt in einem Pendlerzug filmen zu dürfen, dauert manches halt ein bisschen länger – auch die Wartezeit, bis es in Sachen Job etwas zu verkünden gibt.

Jetzt aber: Auf den neuen Visitenkarten steht „редактор социальных медиа“, oder, wenn man sie umdreht, „Social Media Editor“, darüber das blaue Logo der Moscow Times. Eine unabhängige Tageszeitung, die nicht in Staatsbesitz ist – was in Russland dieser Tage so schnell zu einer Seltenheit wird, dass es einen gruselt. Gleichzeitig ist seit Beginn des Konflikts in der Ukraine die Nachfrage nach unabhängiger Berichterstattung besonders groß: Anfang Februar hatte die Moscow Times 50.000 Fans bei Facebook, heute sind es schon deutlich über 200.000; bei Twitter ist das Wachstum ähnlich.

Ich arbeite also nun wieder auf Englisch, was nach rund einem Jahrzehnt Pause etwa dem entspricht, wie andere das „ich hab mal wieder das Motorrad aus der Garage geholt“-Gefühl beschreiben. Ok, der AP-Style sitzt noch nicht komplett wieder, manchmal rutscht noch ein britischer Begriff dazwischen oder em-dash und en-dash gehen durcheinander, aber das wird noch. Es hat sich hier jedenfalls sehr schnell sehr richtig angefühlt – schon jetzt würde es mir fehlen, von der Fotoredakteurin morgens nicht mehr mit „Hey dude, what’s up?“ begrüßt zu werden.

Sanoma Independent MediaUnd es macht großen Spaß, sich in so Neuerungen reinzufrickeln wie die, dass wir rund um die Welt und durch alle Zeitzonen gelesen werden. Kein klassischer Morgen-Peak mehr in der Online-Nutzung, sondern verschiedene Spitzen im Tagesverlauf. Da kann es schon mal sein, dass der stärkste Facebook-Post des Tages einer ist, der erscheint, wenn alle Redakteure schlafen.

Ein dicker Pluspunkt ist auch, dass dieses kleine britisch-russisch-holländisch-kanadisch-irisch-georgisch-amerikanisch-(deutsche) Team jeden Tag über ein Land diskutiert, recherchiert und berichtet, das ich noch entdecke. Aber eben in einer Sprache, in der ich den Debatten, Einschätzungen und Argumenten folgen kann.

Das Wichtigste aber bleibt: Unabhängiger Journalismus ist in Russland rar. Dafür zu sorgen, dass er sein Publikum findet – hier und international – ist nicht die schlechteste Aufgabe, die man dieser Tage haben kann.