Ich bin dann mal Deutschland

Ab heute wird es ein bisschen ruhiger, hier im Blog und auch bei Twitter. Genau genommen: Da, wo ich sonst so rumtwittere, unter meinem eigenen Namen. Stattdessen bin ich jetzt mal eine Woche lang Deutschland – und das auch noch auf Englisch.

Unter @I_AmGermany schreibt bei Twitter jede Woche ein anderer Mensch, der aus Deutschland kommt oder in Deutschland lebt, und über 8000 Leute lesen mit. Das Prinzip kannte ich, Schweden macht das schon seit einigen Jahren, was oft faszinierend ist und manchmal furchtbar.

Inzwischen weiß ich, dass es zum Prinzip auch einen Namen und damit einen Hashtag gibt: #rocur, kurz für rotation curation. Rotation wie in abwechselnd, curation wie in sichten, auswählen, präsentieren. Es gibt einen Irland-Rocur und einen Hamburg-Rocur, einen Astronomie-Rocur und einen Geisteswissenschaften-Rocur, einen LGBTQ-Rocur und einen (offenbar derzeit ruhenden) Rocur kanadischer Bauern. Sie alle verbindet der Wechsel, die immer neue Perspektive.

Über 8000 Follower hat @I_AmGermany, nur ein Fünftel von ihnen spricht Deutsch, getwittert wird auf Englisch. Für Tausende Menschen eine Woche Deutschland sein – größer geht’s nicht, nein? Vielleicht am besten direkt so wie damals, 2005, mit ordentlich Pathos?

Okay, nein, das wohl nicht. Dann vielleicht lieber ganz klein. Das bisschen Alltag, in NRW und in Moskau – es ist eine Reisewoche für mich, das passt schon mal gut. Retweets, klar, von Lieblingstwitterern und Zufallsfundstücken. Über Sprache könnten wir mal reden, schließlich steckt viel Deutsch im Russischen. Chor, Fußball, Bücher. Nachdem die aktuelle Rotationskuratorin Kölsches Liedgut kritisiert hat, habe ich mich außerdem zu einem täglichen Bläck-Fööss-Zitat verpflichtet. Vorschläge werden gerne angenommen.

Zum Schluss ist da natürlich auch der Zeitpunkt. Eine Woche vor der Bundestagswahl finde ich es besonders interessant, mich zu fragen: Dieses Deutschland (Verzeihung: Germany), für das ich hier gerade stehe – was ist das heute für ein Land? Falls ihr dazu oder zu einem anderen Thema etwas seht oder schreibt, was für die Follower von @I_AmGermany interessant sein könnte: Sagt gerne Bescheid, ich freu mich!

Zwei deutsch-russische Paralleluniversen

Neulich bin ich in in ein Paralleluniversum geraten, eigentlich sogar in zwei. Wir waren übers Wochenende in Deutschland, ich bin ein paar Schritte durch Oberhausen gelaufen und stand plötzlich vor einem Laden mit Matrjoschka-Schild.

kscheib OB russischer Laden Schild

Drinnen, Paralleluniversum Nummer eins: ein Produktsortiment, wie ich es hier in Moskau aus dem Supermarkt an unserer Straße kenne. Nicht nur die Lebensmittel selber, nein sogar die Marken sind identisch. Die grünen Pakete mit Hüttenkäse (in der russischen Küche sehr viel populärer als in der deutschen). Kondensmilch in den Dosen mit blauem Retro-Design. Tarchun und Djuschess, also Estragon- bzw. Birnenlimonade, so bunt wie süß.

Vor lauter Begeisterung wollte ich mir einen Sirok (Quarkriegel mit Schokoglasur) kaufen, aber genau die gab es leider nicht. Also wieder raus, vorbei an der Kasse. Und dahinter, auf einem Tischchen an der Wand, lag das Portal in das zweite Paralleluniversum: „Telegraf NRW“, die „monatliche regionale russischsprachige Informationszeitung“. 24 Seiten irgendwo zwischen Zeitung und Anzeigenblättchen, nach Angaben des Verlags mit einer Auflage von 30.000 Exemplaren.

kscheib telegraf NRW Titelseite

Die Titelseite besteht komplett aus Anzeigen, Aufmacher auf Seite 2/3 dann: „Welchen Fehler machten die deutschen Massenmedien bei der Berichterstattung über die Flüchtlingskrise?“ (Es geht um die Hamburger Studie, wonach deutsche Medien im Jahr 2015 und Anfang 2016 in ihrer Berichterstattung oft zu nah an den Regierungspositionen und zu wenig differenziert beim Blick auf Kritiker gewesen sein sollen.)

Es folgt die übliche Mischung, die man von Printprodukten mit älterer Leserschaft und kleinem Budget kennt: Meldungsspalten, ein paar Servicestücke zu Streitschlichtung, Gesundheit, Rechtsfragen. Eine Doppelseite mit Polizeimeldungen, gefolgt von weiteren Gesundheitsthemen, dann ein bisschen Panorama, Horoskop, Rätsel, Witze. Redaktionelle Inhalte, deren Hauptaufgabe es ist, ein Umfeld für Werbung zu bieten und die Leser ansonsten nicht zu überfordern oder sonstwie zu vergrätzen.

Und die Werbung ist dann auch das, wo es noch mal spannend wird in diesem parallelen Printuniversum: Zwischen Busreisen in die Ukraine, Rechtsanwälten, Grabsteinen, Klavierstimmern, noch mehr Grabsteinen, Pflegediensten und Konzerten von Stas Michailow bis Leningrad findet sich in der aktuellen Ausgabe des „Telegraf“ auch Wahlwerbung, und zwar genau eine. Auf der Seite mit dem Schwerpunkt Flüchtlinge und Medienkritik inseriert Jewgeni/Eugen Schmidt, AfD-Kandidat aus Köln.

Das Wahlprogramm in Stichpunkten: „Migrationschaos beenden, die Sicherheit unserer Bürger gewährleisten, angemessene Renten erreichen, die traditionelle Familie schützen, christliche Traditionen bewahren, gutnachbarschaftliche Beziehungen zu Russland wiederherstellen.“ Dazu eine Deutschlandfahne.

kscheib Telegraf Wahlwerbung AfD

Was mich daran beschäftigt, ist nicht nur die Tatsache, dass die AfD da inseriert. Das ist, so sehr mir ihre Positionen zuwider sind, ihr gutes Recht, Wahlkampf ist Wahlkampf. Wirklich ärgerlich finde ich, dass keine der der anderen Parteien dagegenhält.

Nicht die SPD, die hier im Ruhrgebiet ihre vielzitierte „Herzkammer“ hat. Nicht die CDU, die den NRW-Ministerpräsidenten stellt und für eine tendenziell ältere, tendenziell konservative Leserschaft sicherlich das ein oder andere zu christlichen Werten in ihrem Wahlprogramm gefunden hätte. Auch keine der kleineren demokratischen Parteien – niemand ist auf die Idee gekommen, für diese Nische der russischsprachigen Leser eine Anzeige zu schalten.

Eine Eckanzeige wie die des AfD-Kandidaten kostet laut Übersicht des „Telegraf“ 180 Euro, zuzüglich Mehrwertsteuer. Keiner der etablierten Parteien war es also rund 200 Euro wert, bei den Lesern den Effekt zu verhindern, der nun unvermeidlich ist: „Siehst du, die AfD ist einfach die einzige Partei, die sich für uns interessiert.“

Genickt, geärgert, gestaunt, gelitten – die re:publica 2013

Kaum drei Tage nach der re:publica und schon ist das Fazit fertig. Heißer Scheiß, dieser Echtzeit-Journalismus.

Am meisten genickt: wenn es um Freiräume fürs Ausprobieren ging. Bei der Session zu „Stimmt das„, dem #ZDFcheck zur Bundestagswahl, gab es viele Detailfragen. Und immer wieder hat Sonja Schünemann dann sowas gesagt wie: Wissen wir noch nicht. Mal sehen. Wir machen das jetzt erst mal. Und dann gucken wir. Experimente haben das so an sich, das muss man gar nicht groß philosophisch überhöhen (kann man aber). Das haben später die „Digital Natives der Herzen“ Jochen Wegner, Katharina Borchert und Stefan Ploechinger später auch noch mal angesprochen (geht kurz nach 19′ los).

Am meisten geärgert: Bei „Citizen Desk: Rewarding Reporting“, einem Vortrag zu einem CMS für Bürgerjournalismus. Adam Thomas hat von Verdade erzählt, einem Zeitungsprojekt in Mosambik. Von einer Bürgerjournalismus-Redaktion, die eine starke Fangemeinde bei Facebook hat, andererseits aber auch viele Leser ohne Internet-Zugang. Darum werden jeden Tag die besten Facebook-Kommentare mit Kreide an eine Wand geschrieben, wo sie jeder offline lesen kann. Und mit Kreide drunterkommentieren – was dann wiederum abgetippt und auf Facebook gepostet wird. Dazu hätte ich gern mehr gehört. Ging aber nicht, weil Thomas an einem Stand in der großen Halle präsentieren musste. Zu viel Lärm, zu viel Gewusel, zu viel Ablenkung. Sollte man nicht mit Referenten machen, wenn man sie ernst nimmt. Nächstes Mal bitte jedem Vortrag seinen Raum.

Am meisten gefreut: beim „Saisonrückblick Social-Media-Recht“. Über die Bestätigung, mit dem Faktenwissen auf Stand zu sein. Und über die vielen neuen Fällen, Dönekes und zwei außergewöhnlichen Referenten. Juristen nämlich, die nicht drumrum reden.

Am meisten beneidet: Linus Neumann für die Trolldrossel in Fefes Blog. Eine geschickte Programmierung, die grob besagt: Wenn Vokabular des Nutzerkommentars auf einen Troll deutet, dann sag ihm bitte: „Sorry, Du hast das Captcha falsch ausgefüllt. Bitte noch mal.“ Auch, wenn es richtig war. Schlicht, schlau, schön böse. Sollte es als WordPress-Plugin geben.

Am meisten geschwitzt: Zwanzig Minuten mit jemandem unterhalten. Netzthemen, Wetter, alles. Auch danach immer noch keine Ahnung gehabt, wer das ist und woher wir uns kennen.

Am meisten gestaunt: bei „How to become a Cyborg“. Den Vortrag von Neil Harbisson und Moon Ribas hab ich seitdem schon mehrfach nacherzählt. Die beiden rüsten ihre Körper technisch auf, um mehr Sinneseindrücke wahrzunehmen als andere Menschen. Und ein Kleid, das „Moon River“ in Farben darstellt, möchte ich bitte auch.

Am meisten gelitten: an der Unterkunft. The Weinmeister ist ein Designhotel. Leider ist die Evolution noch nicht so weit, dass wir mickrigen Menschen den Anforderungen dieser Hotelzimmer gewachsen sind. Vier Nächte in einem Bett mit Schwarzlicht, aber ohne Möglichkeit, die Brille irgendwo hinzulegen. Vier Morgende hellwach dank kaltem Duschwasser. Ist vielleicht noch mal einen eigenen Blogpost wert.

Am meisten genossen: Drei Tage ausgezeichntes WLAN. Respekt.

Am meisten gewundert: Wie wenig die Piraten Thema waren. Günter Dueck hat in seinem Vortrag pauschal angenommen, dass eh alle Anwesenden die Grünen wählen. War kein Protest zu hören. Marina Weisband, die bei den Piraten keine so ganz kleine Nummer war, suchte an Tag 3 vergeblich nach bekannten Gesichtern.

Da könnte man jetzt schön drüber frotzeln, hätte es nicht parallel reichlich Pausen- und Flurgespräche darüber gegeben, wen man als Onliner im September bloß wählen soll. Nicht, weil nun zwingend die Piraten jedermanns erste Wahl gewesen wäre. Aber eben auch nicht, weil es so viele attraktive Kandidaten gäbe, zwischen denen man sich kaum entscheiden könnte. Stattdessen Ratlosigkeit und ein Motto-Vorschlag für die re:publica 2014: #postpiracy.