Russball, Folge 53: Das ist nicht mehr das Moskau, das ich kenne

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Taxifahrer, die aussteigen und einem die Tür aufhalten. Laut singende Menschen, die abends durch unsere Straße ziehen. Polizisten, die Dinge durchwinken, die hier sonst sofort abgebrochen oder mit Festnahmen enden würden: Transparente ausrollen, auf Denkmäler klettern, sowas. Für diejenigen, die von außen angereist sind, mag das gar nicht so besonders sein: Eine Stadt, in der eine Fußball-WM stattfindet, natürlich sind die Menschen da ausgelassen, die Polizei versucht’s erst mal mit Deeskalation, die Einheimischen zeigen sich von ihrer besten Seite.

Für die von uns, die hier dauerhaft leben, ist der Unterschied sehr viel deutlicher. Der Moskauer an sich, er ist halt oft eher so eine Art Berliner: Kurz angebunden bis unwirsch, vor allem, wenn man was fragen will. Die Polizei zeigt sich normalerweise (Ausnahmen bestätigen die Regel) eher demonstrativ präsent als zurückhaltend. Derselbe Gesichtsausdruck, der für uns in Deutschland ernst und abweisend wirkt, gilt hier als normal.

Was das mit den Moskauern macht, ist sehr hübsch in einem Artikel der Nowaja Gasjeta beschrieben, deren Reporter sich im Zentrum der Stadt unter die feiernden ausländischen Fans gemischt hat: „Menschen, die in Shorts, Jeans, kurzen Röcken ihre Beine hochwarfen. Kolumbianer. Der Karneval hatte gerade erst begonnen, und die Moskauer Großmutter, die die Kolumbianer nun so betrachtete, wie Großmütter sonst Hare Krischnas mit Trommeln betrachten, konnte noch ungestört ihre Lieblingsstraße entlang gehen.“

Und ich bin irgendwo zwischen grummeliger Empörung (Na toll, für die vier Wochen versteht ihr also plötzlich Englisch, helft Leuten, die nach dem Weg fragen und rempelt nicht alle zur Seite, die im Bus eine halbe Sekunde zu spät die Tür frei machen) und Rührung. Diese Rentner, die sich da in der Innenstadt um einen Akkordeonspieler gesammelt haben und nun singen und vorbeiströmende Fans zum Mittanzen animieren – so wunderbar ist Moskau, wenn es sich mal richtig ins Zeug legt.

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⚽ Der WM-Effekt ist nicht auf Moskau beschränkt. „Solche Gefühle hat Samara noch nicht erlebt“, heißt es in einem Artikel der Komsomolskaja Prawda. Was war passiert? Vor dem Spiel Costa Rica – Serbien war eine große Gruppe Costa-Ricaner vor das Mannschaftshotel gezogen und hatte dort ihr Team so lange besungen, bis sich die Spieler zeigten und bedankten. Das Video allein macht schon gute Laune:

Der größte Spaß ist aber, zu lesen, wie der Journalist vor Ort diese ungewohnte, importierte Lebensfreude beschreibt: „Es war ein monumentaler, unvorstellbarer Anblick: Stellen Sie sich bloß vor, dass mitten in den Straßen von Samara (…) eine Menschenmenge aus heißblütigen Lateinamerikanern tobt, die Polizei gelassen daneben steht und darauf achtet, dass diese Leidenschaft nicht ausufert, die Busse ruhig auf die Nebenspur wechseln und Passanten sofort nach der Kamera oder dem Telefon greifen.“ Die Verwunderung, was in Russland plötzlich möglich ist, kann man gut heraushören.

⚽ Das ging schnell: Gestern habe ich darüber gebloggt, dass Leonid Sluzki in seiner Rolle als WM-Experte bei Russlands wichtigstem Staatsfernsehsender beiläufig Alexej Nawalny erwähnt hat. Das ist dort, na sagen wir mal: unüblich. Sehr unüblich. Massiv unüblich. Einige Stunden lang wurde Sluzki im Netz als Held gefeiert, man fragte sich bereits, welche heiklen politischen Themen er als nächstes ansprechen würde.

Dann, spät am gestrigen Abend, kam die Meldung: Sluzki wird keine weiteren Spiele mehr im Fernsehen kommentieren. Der Status Quo in seiner ganzen deprimierenden Reichweite ist damit wiederhergestellt. Lektion für alle: Wer ihn verletzt, fliegt raus.

⚽ Rund 33.000 Leute passen ins Stadion in Jekaterinburg, nur 27.000 waren am Freitag da, als Ägypten gegen Uruguay spielte. Sowas fällt auf, vor allem, wenn man Sitze in Knatschorange hat. Warum bleiben da so viele Plätze frei, die Frage beschäftigt viele Russen. Auch der Regionalgouverneur, Jewgeni Kuiwaschew, konnte sich in einem Instagram-Post den Ärger nicht ganz verkneifen: „Es hat mich ein wenig gekränkt, die leeren Plätze zu sehen, aber mir fehlen dazu die Befugnis und die nötigen Informationen: Für Tickets sind unsere Partner bei der FIFA zuständig.“

Игра закончилась победой Уругвая над Египтом, счет 1-0. Первый матч ЧМ в Екатеринбурге прошел без происшествий, все службы отработали хорошо. Впереди еще три игры. Стадион «Екатеринбург Арена» зарекомендовал себя прекрасно. В комментариях пишут про пустые места на центральной трибуне. Да, к сожалению, оставались свободные места. Согласно данным FIFA, на игру пришли 27015 человек, хотя были распространены более 30 тысяч билетов — на все свободные места. Мне было немного обидно видеть пустые места, но я тут не обладаю полномочиями и необходимой информацией: билетами занимаются наши партнеры из FIFA. В любом случае, заполняемость стадиона составила более 80%, боковые и верхние трибуны были заполнены почти под завязку. Болельщики получили огромное удовольствие от игры. Надо учитывать и то, что все-таки внимание к командам Уругвая и Египта не такое большое, как к некоторым другим сборным. В будущем нас ждут игры Мексики, Швеции, Франции. Думаю, людей на стадионе будет достаточно.

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Eine Erklärung ist, dass auf den leeren Plätzen VIP-Gäste sitzen sollten, denen es dort dann zu kalt war. So klingt es auch bei der FIFA, die nur etwas schwammig von Gruppenbuchungen spricht, bei denen die Gruppenmitglieder nicht erschienen seien. Die Vermutung liegt nahe, dass da nicht von Fan-Reisegruppen die Rede ist, sondern von Sportfunktionären oder Jekaterinburger Offiziellen.

Ein Fan hat unterdessen ganz andere Probleme: Er kam zu dem Spiel in Jekaterinburg und musste dort feststellen, dass es seinen Sitzplatz nicht gab. Die Nummer, die auf seinem Ticket stand, gab es im Stadion (das ja für die WM umgebaut wurde) nicht.

⚽ Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ihr über das Deutschland-Mexiko-Spiel in den vergangenen Tagen schon genug gesehen und gehört habt. Da spare ich mir also sowohl Gejammer als auch Analyse, sondern verlinke einfach eine kleine russische Presseschau vom Morgen danach.

⚽ Dieses Spiel da in Wolgograd, England gegen Tunesien, muss ja ein ziemliches Mückenfestival gewesen sein – hier eine kleine Fotosammlung zu dem Thema. Sportschau-Frau Julia Scharf entschied sich für den einzig passenden Hut und bekam dafür sogar die Aufmerksamkeit russischer Buchmacher:

„Ausländische Journalisten diskutieren während des Spiels zwischen Tunesien und England in sozialen Netzwerken die leeren Plätze und die Grashüpfer im Stadion„, heißt es da. „Das deutsche Fernsehen macht seine Übertragung generell in Masken.“ Stimmt so nicht, aber das Foto ist in der Welt und dreht seine Runden im Netz. Ach so, und eine Torte in Stadionform gab es auch.

⚽ Schön, wofür sich der russische Geheimdienst alles zuständig fühlt: Die kroatische Nationalmannschaft, die ihr Quartier irgendwo in der Nähe von St. Petersburg hat, wollte Fahrräder für ihren Kader haben, 30 Stück. Abgenickt werden musste das nach dem Bericht einer regionalen Nachrichtenseite allerdings von den zuständigen Sicherheitsleuten, und deren Chef ist vom FSB. So fiel die pragmatische Entscheidung: 30 Kroaten auf Fahrrädern, wie sollen wir die denn alle im Auge behalten? Komm, wir geben ihnen zwei Fahrräder, das muss reichen.

Besonders zauberhaft ist der Witz, der dem Bericht zufolge rund um das Mannschaftsquartier kursiert: Wenn auch nur einem der kroatischen Nationalspieler etwas passiere, heißt es da, könnten sich die Sicherheitskräfte, die für sie zuständig sind, schon mal darauf einstellen, demnächst nur noch Schachturniere in Sibirien zu bewachen. Und wenn die fahrradlosen Kroaten demnächst wegen akutem Lagerkoller aus dem Turnier ausscheiden, können sie immerhin sagen: Der FSB ist schuld!

⚽  Es gibt viele Dinge, die man am DFB kritisieren kann. Die überzogenen Versprechungen zum Moskauer Fan-Camp zum Beispiel, oder das Rumlavieren beim Thema Menschenrechte in Russland. Der Fairness halber soll aber hier auch erwähnt sein, dass sich die offizielle Delegation vorgenommen hat, sich hier auch mit Menschen und Organisationen zu treffen die sich für Freiheitsrechte einsetzen. Eines dieser Treffen war mit Memorial, wer mehr über diese NGO erfahren will, kann das hier.

⚽ So sieht es aus, wenn Fußballfans nach dem WM-Eröffnungsspiel in Moskau die Nacht zum Tag machen: Das Strelka-Institut zeigt, wann und wo Menschen in einer normalen Nacht in Moskau etwas kaufen (grün) und wann sie in der Nacht nach dem Eröffnungsspiel etwas gekauft haben (pink). In einer durchschnittlichen Juni-Nacht gibt es zwischen Mitternacht und 9 Uhr morgens kaum irgendwelche Einkäufe, heißt es im Artikel zu der Grafik.

strelka

In der WM-Nacht hingegen kann man sehen, wie die ganze Nacht hindurch Transaktionen stattfinden, vor allem von Fans, die Essen und Getränke kaufen. Man sieht, gerade nach Miternacht, ganz deutlich, wo Moskaus Kneipenstraßen liegen. Die Summe, die in dieser Nacht für Getränke ausgegeben wurde, lag doppelt so hoch wie sonst. Und wo wir schon bei Fans sind und der Frage, wofür sie Geld ausgeben: Seit Beginn der WM sinken die Mietpreise in Moskau – vermutlich, weil sie vor dem Turnier so obszön hoch waren.

⚽ Zum Schluss noch ein Wort zu Russlands 3:1 gestern Abend, das aller Wahrscheinlichkeit nach ja den Einzug ins Achtelfinale bedeutet. Das Spiel war gar nicht so doll, aber hinterher noch ein bisschen ins Stadtzentrum zu fahren, dort die hupenden Autos und feiernden Leute zu sehen – das hat schon großen Spaß gemacht.

Für die russischen Fans ist der Erfolg um so schöner, als er so unerwartet kommt. Am besten merkt man das vielleicht an einem Artikel von Championat.ru, dessen Überschrift schlicht lautet: „АААААААААаааааааа!!!1“ Darum zum Schluss noch ein Actionfoto, bei dem ihr mir einfach mal glauben müsst, dass es ein beflaggtes Auto zeigt, das in der Dunkelheit über den Neuen Arbat fährt.

kscheib moskau autokorso

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So, morgen gehe ich mir dann übrigens auch endlich mein erstes WM-Spiel live ansehen, Portugal gegen Marokko, hier bei uns im Luschniki-Stadion. Dank Reuters weiß ich, dass wohl auch ein ausgesuchter Möpp mit im Stadion sein wird: Sepp Blatter, früherer FIFA-Chef. Der ist zwar eigentlich für alle fußballerischen Aktivitäten gesperrt, aber was heißt das schon. Es ist WM in Russland, und wenn der Präsident dem Blattersepp einen Stadionbesuch ermöglichen will, dann macht er das auch.

Bis nächste Woche, macht’s gut!



 

Russball, Folge 52: Jetzt geht’s los, jetzt geht’s los

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„Wollen Sie jetzt mit Ihrem normalen Visum einreisen oder mit der Fan-ID“, fragt die Frau an der Passkontrolle. Zuvor hab ich schon zwei Volunteers, die garantiert ein Lächeltraining durchlaufen hatten, erklären müssen, dass ich mich in der Schlange für FIFA-akkreditierte Journalisten anstellen darf. Sehr lustig, weil natürlich mal wieder russische Anarchie herrscht und sich das Ömchen vor mir, deutlich im Rentenalter und erkennbar keine ausländische Journalistin, stillschweigend in genau diese Schlange gestellt hat und nun „ich geh hier nicht weg, da müsst ihr mich schon tragen“ ausstrahlt. Es ist also alles wie immer, nur halt anders.

In der Halle neben dem Gepäckband steht ein eigener WM-Desk mit, theoretisch, vier Schaltern. Keiner von ihnen ist besetzt, stattdessen können die neu Gelandeten einen wichtigen russischen Begriff lernen: „technitscheski pererif“, technische Pause. Klingt wichtig und deckt alle Gründe ab, warum da gerade niemand sitzt. An der Straße ins Zentrum sind großflächig Werbeflächen mit allerlei FIFA-Kram belegt, auf den Brücken im Zentrum wehen Fahnen und ja, im Supermarkt bei uns in der Nähe wurden auf der Zielgeraden noch ein paar Fan-Artikel ins Sortiment genommen.

Wer immer in diesen Tagen behauptet, hier in Moskau herrsche nun endlich „WM-Fieber“, der ist wahrscheinlich Hypochonder. Schön lakonisch haben das die Kollegen von der Moscow Times in einem Facebook-Post festgehalten. Immerhin: Die ausländischen Fans sorgen hier und da für Stimmung auf der Straße, gestern saß ich in einem Café und vor der Tür lieferten sich Anhänger von Peru und Kolumbien einen Sprechchor-Wettbewerb. Sehr schön, das darf gern so bleiben.

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⚽ Schon klar, ihr wollt hier jetzt alle was über die WM lesen. Und ja, da kommen wir auch gleich noch zu, keine Bange. Aber zum Hintergrund gehört ja auch die Frage, wie es dem Fußball in Russland geht. Die Antwort ist einfach, sie hat mal wieder mit Geldmangel zu tun, und Sports.ru bringt es mit größtmöglichem Sarkasmus auf den Punkt. „Der russische Fußballsommer in einem Bild“ heißt die Überschrift, darunter drei Vereinslogos:

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„Tosno – hat dicht gemacht. Kuban – wird dicht machen. Amkar – wird dicht machen.“ Drei russische Fußballvereine, die es in der nächsten Saison nicht mehr geben wird, und ehe einer fragt: Nein, das sind nicht irgendwelche Clubs. Tosno ist der diesjährige Pokalsieger, dürfte eigentlich demnächst international spielen, aber nein: Der Verein hat sich aufgelöst, weil das Geld fehlt. Bei Amkar Perm sieht es ähnlich düster aus, Kuban schließlich soll allen Berichten nach durch einen neuen Verein namens „Uroschai“ ersetzt werden, weil der alte Club keine Lizenz mehr bekommen hat. Und mit all dem Frust, den ein Fußballfan fühlt, wenn es seine Mannschaft plötzlich nicht mehr existiert, bildet die Redaktion dazu ein Feuerwerk über der Basiliuskathedrale ab und schreibt: „Am 14. Juni beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland.“

⚽ Gute Nachrichten für Dmitry Petelin: Der Student, der wie viele seiner Komilitonen gegen die Fan-Zone unmittelbar neben dem Universitätsgebäude in den Sperlingsbergen protestiert hat, muss kein Verfahren wegen Vandalismus mehr fürchten. Petelin soll auf eine Hinweistafel zur WM die Worte „Keine Fanzone“ gesprayt haben und war daraufhin festgenommen worden, ihm drohten 65.000 Rubel Geldstrafe oder gar Haft.

Nach einer Unterschriftenaktion und nachdem sich sowohl der Uni-Rektor als auch der Menschenrechtsrat der russischen Regierung für ihn eingesetzt hatten, wurde das Verfahren nun eingestellt. Dass eine Verurteilung wegen einer solchen Bagatelle kurz vor der WM denkbar schlechte PR gewesen wäre, hat sicher auch zu dieser Entscheidung beigetragen.

Klappt allerdings auch nicht immer: Selbst alleine ein Schild hochzuhalten ist nach russischem Recht eine unangemeldete Demonstration. Ein Mann, der das zur Unterstützung Petelins getan hat, muss dafür nun 20.000 Rubel Strafe zahlen, das sind rund 280 Euro – mit dem Verweis auf einen Erlass aus dem Jahr 2017, durch den die Versammlungsfreiheit während der WM noch weiter eingeschränkt wurde, als sie es hier ohnehin schon ist.

⚽  Was man nicht so alles lernt, wenn man Berichte ausländischer Medien liest. War mir zum Beispiel neu, dass Joachim Löw mal im Nebenjob Krawatten verkauft hat. Eines von vielen Details in einem Porträt des Trainers bei Wedomosti: dass er „Adrenalin im Blut liebt und deshalb den Kilimandscharo besteigt, Fallschirm springt oder ins Casino geht.“

Dass sein Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war und zurückkam mit der Überzeugung, Russen könnten alles schaffen, wegen ihrer großen Leidensfähigkeit. Und dann, natürlich, die Anekdote, dass Löw ja mal Trainer und somit Chef von Stanislaw Tschertschessow war, Russlands heutigem Nationaltrainer. Wie oft wir diese Tatsache bis Mitte Juli wohl noch erzählt bekommen?

⚽  Ach schön, Moskaus Bürgermeister meldet sich zu Wort, von dem hört man ja sonst total selten. Hüstel. Jedefalls wendet sich Sergej Sobjanin via VKontakte an die Moskauer, oder noch genauer: an die Chefs der Moskauer.

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Erst ein paar warme Worte über die Ehre, Gastgeber sein zu dürfen, dann der Hinweis auf die vielen Staatsoberhäupter, die zur Eröffnung kommen, und dass das natürlich Straßensperrungen bedeutet. (Wie gefühlt jede Woche hier in Moskau.) Dann die Pointe: „Deshalb bitte ich die Leiter von Unternehmen und Organisationen, in diesen Tagen ihre Mitarbeiter mit maximaler Großzügigkeit zu behandeln und ihnen, wenn möglich, einen freien Tag zu geben.“ Mit der Tatsache, dass der Mann nächstes Jahr wieder zur Wahl steht, hat das natürlich nichts zu tun.

⚽ Eh das Turnier auch nur begonnen hat, wird schon mal die Schuldfrage geklärt fürs mutmaßlich schlechte Abschneiden der russischen Nationalelf. „Die russische Mannschaft ist sehr schwach, wer ist schuld?“, fragt Sports.ru und bietetzur Auswahl die Spieler, den Trainer und die staatliche Führung an. Die meisten Leser entscheiden sich aber für Option vier, „alle zusammen“, was die Macher der Website sehr schlicht mit einer russischen Fahne illustrieren. Wenn Russland schlecht Fußball spielt, ist daran Russland schuld. Haben wir das auch geklärt.

⚽  Was ist das eigentlich zwischen Ronaldo und Messi? Eine Rivalität? Eine Freundschaft? Irgendwas dazwischen? Oder sind sie einander einfach herzlich egal? Man kann dazu ja allerlei lesen, Spekulationen oder auch mal einen Interviewfetzen. Aber nun hat eine russische Twitternutzerin die Frage beantwortet: Das zwischen Messi und Ronaldo (die Russen sagen Ronaldu) ist Freundschaft.

„Druschba“, Freundschaft, heißt nämlich der Ort, durch den man kommt, wenn man vom Trainingslager der Argentinier zu dem der Portugiesen fährt oder andersrum. Respekt, das muss einem erst mal auffallen! (Übrigens haben die Argentinier drei Tonnen Essen mitgebracht zur WM. Da kann Messi seinen Freund Ronaldo ja mal zum Steak einladen.)

⚽ Darüber hatte ich bisher noch gar nicht nachgedacht: Stimmt, alle Teams, die sich ihr Mannschaftsquartier rund um St. Petersburg gesucht haben, geraten da ja voll in die Weißen Nächte. Die Zeit im Sommer also, wenn es in Russlands „nördlicher Hauptstadt“ nachts nicht mehr dunkel wird. Den Effekt kenne ich hier aus Moskau, auch wenn wir im Hochsommer immerhin noch ein paar dunkle Stunden haben. Trotzdem sitzt du manchmal aufrecht im Bett, es ist taghell – Mist, verschlafen! Du stehtst auf, schlurfst ins Bad – und stellst dort auf der Uhr fest, dass es kurz vor 3 Uhr morgens ist.

Was macht das mit Hochleistungsfußballern, die fit und ausgeschlafen sein müssen für ihr nächstes Spiel? Tragen die jetzt alle Schlafmasken? Warum hab ich das noch nirgends gelesen, das bewegt doch die Welt! Ah, schau, eine Stellungnahme aus der kroatischen Mannschaft, die im Kurhotel „Waldrhapsodie“ untergebracht ist, eine halbe Stunde außerhalb von Petersburg: „Wir haben gute Vorhänge. Das wird kein Problem sein.“ Na gut – aber wenn ihr nun nicht Weltmeister werdet, liebe Kroaten, dann sagt nicht, euch habe keiner gewarnt.

⚽ Wo eine Großveranstaltung stattfindet, gibt es immer auch Abzocker. Bei Airbnb ist mir da neulich Nikolai aufgefallen, und ich muss schon sagen: Es gibt dreist, und es gibt Nikolai-dreist. Oder wollt ihr gerne mehr als 300 Euro pro Nacht ausgeben, um in einem zugemüllten Schuppen auf einem Garagendach zu wohnen? Nein? Seltsam.

⚽ Ach, schön, eine Runde Journalistenbashing. Artjom Dsjuba, russsischer Nationalspieler, hat sich bei den Journalisten von Gasjeta.ru beschwert, sie seien immer so kritisch, mal solle doch erst mal die Mannschaft ihr Turnier abschließen lassen, sie unterstützen und sich dann eine Meinung bilden. Eventuell hat der Mann kein allzu gutes Verständnis, wie das mit der Fußball-Berichterstattung bei großen Turnieren funktioniert, und dass die Hauptaufgabe von Journalisten nicht das Anfeuern ist. Andererseits, die russische Nationalmannschaft steht so tief im FIFA-Ranking wie noch nie, da kann man schon mal nervös werden.

⚽ Große Teile meines Montagabends habe ich auf einer Moskauer Polizeiwache verbracht, zusammen mit einem jungen Ägpter, der hier in Russland studiert. Es war einer der absurdesten Abende, die ich in Russland erlebt habe. Und wir haben so viel Smalltalk über Mo Salah gemacht, dass selbst mich jetzt Tweets wie dieser hier interessieren und ich nickend vor dem Rechner sitze:

Die Fotos von Salah mit Ramsan Kadyrow allerdings, dem tschetschenischen Machthaber, unter dem dort Schwule verfolgt und Menschenrechte komplett ignoriert werden – da kann ich nur den Kopf schütteln. Mehrfach.

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Was bleibt noch, eh sie beginnt, diese Weltmeisterschaft? Ein Dank an alle, die seit einem Jahr hier mitlesen über Russlands WM-Vorbereitungen und den Fußball hier im Lande. An die, die von Anfang an dabei sind und an die, die nach und nach dazugekommen sind. Und nein, das ist kein Abschied, natürlich gibt es auch während der WM jede Woche eine Russball-Folge. Aber eh es morgen trubelig wird, wollte ich halt einmal danke sagen. Ich hab mich in diesem Jahr über jeden Leser und jeden Kommentar gefreut.

Und jetzt wären wir dann soweit, wertes DFB-Team. Here’s looking at you. Kann losgehen!



 

Russball, Folge 25: So sieht er also aus, der russische WM-Freiwillige

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Worüber man so spricht, wenn man sich mit Freunden zum Pelmeni-Kochen trifft: Ist das jetzt toll, ein Konzert im Staatlichen Kremlpalast zu sehen, oder nicht? Geschichtlich interessanter Ort – ein Plus. Plätze verdammt weit weg von der Bühne – ein Minus. Und wie stehen wir eigentlich zu dem Gebäude selbst, das da nach dem Krieg als Klotz aus Beton und Glas zwischen die ganzen historisch-schönen Kirchen auf dem Kremlgelände gesetzt wurde?

Am Freitag könnt ihr euch selber ein Bild machen. Dann findet in dem Palast zwar kein Konzert statt, dafür aber die Auslosung der WM-Gruppen. Schließlich sind es nicht mal mehr 200 Tage bis zum Anpfiff des Eröffnungsspiels.

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⚽ Zum Start darum heute ein Video. RIA Novosti hat es vor einigen Jahren veröffentlicht, als der Staatliche Kremlpalast 50 Jahre alt wurde. Als repräsentativen Ort für die Parteitage der KPdSU hatte Chruschtschow ihn damals bauen lassen. Und wenn die Kommunisten gerade nicht tagten, fanden schon damals Ballettaufführungen oder Konzerte in dem Gebäude statt.

Inzwischen sind viele Pop-Größen dort aufgetreten – Christina Aguilera, Joe Cocker, Leonard Cohen – selbst Modern Talking. Im Februar kommen Kraftwerk, und das passt dann vielleicht ja sogar ganz gut zu diesem Fremdkörper, für den selbst RIA als staatliche Nachrichtenagentur keine allzu netten Worte übrig hatte: „Ein Stück Architektur, von Offiziellen in Auftrag gegeben, für das uns unsere Nachkommen wohl kaum danken werden.“

⚽ Dass die WM-Auslosung ansteht, führt übrigens auch dazu, dass viele Medien in den Tagen davor ihre grundsätzlichen Analysen veröffentlichen: Schafft es Russland über die Gruppenphase hinaus, auch wenn der Gastgeber laut FIFA-Rangliste die schwächste Mannschaft des Turniers ist? (Eher nicht.) Welche Städte haben die interessantesten Stadien? (Moskau, St. Petersburg und Jekaterinburg.) Wie wird die russische Wirtschaft dastehen, wenn das Turnier beginnt? (Vermutlich besser als heute.) Welche Probleme müssen die Organisatoren in den Griff bekommen? (Rassismus, Hooligans, Terrorgefahr.) Wie reagiert die FIFA auf Berichte über systematisches Doping im russischen Fußball? (So gut wie gar nicht.)

Die Bestandsaufnahme der FIFA klingt naturgemäß sehr viel optimistischer. Gianni Infantino hat sich extra vor der Auslosung interviewen lassen und verspricht: Partystimmung, gute Orga, moderne Stadien, außerdem strenges Vorgehen gegen Doping und Diskriminierung. Selbst der Videobeweis hat es ins Promo-Video geschafft – dabei hat der beim Confed-Cup, dem WM-Probelauf, ja oft gehakt.

So oder so: Der 1. Dezember ist ein guter Anlass, um sich einen Überblick zu verschaffen, wo Russland ein gutes halbes Jahr vor der Weltmeisterschaft steht. Zeit dafür wird sogar während der Auslosung am Freitag sein: Das Ganze soll zwar eine Stunde dauern, von 16 Uhr bis 17 Uhr deutscher Zeit. Das eigentliche Losverfahren, wer mit wem in einer Gruppe landet, dauert laut Plan aber nur eine gute halbe Stunde. Der Rest sind Reden, Interviews, Musik – da lohnt es sich, wenn man ein bisschen Lesefutter gebookmarkt hat.

⚽  Ratko Mladic wird wegen seiner Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen – das ist nach dem Urteil aus der vergangenen Woche klar. Das Massaker von Srebrenica mit rund 8000 Todesopfern ist der bekannteste, aber bei weitem nicht der einzige Fall, wegen dem Mladic vor Gericht stand.

Am Tag nach der Urteilsverkündung spielte Zenit St. Petersburg in der Europa League gegen Vardar Skopje, und einige Zenit-Fans waren sich nicht zu fein, ein Banner mit der Aufschrift „Ratko Mladich, ein serbischer Held“ im Stadion aufzuhängen. Unterstützung für einen Mann, der tausende Menschenleben auf dem Gewissen hat. Mehr zu den Verbindungen zwischen serbischen und russischen Neonazis im Fußball kann man hier nachlesen. Die UEFA ermittelt nun wegen Rassismus – gut möglich, dass Zenit sein nächstes Spiel im leeren Stadion bestreiten muss.

⚽ Wo wir gerade beim Thema Rassismus sind: Zeit Online hat einen interessanten Text darüber, wie russische Neonazis ihre deutschen Gesinnungsgenossen in verschiedenen Kampfsportarten trainieren. Lesenswert vor allem, wenn man bedenkt, dass sich Neonazi-Szene und Hooligan-Szene ja durchaus überlappen.

⚽ Eine große Ladung Sowjet-Nostalgie, dafür keine Spur von Maskottchen oder Matrjoschkas, auch der Pokal steht nur ganz klein unten in der Ecke: Gestern hat das russische Organisationskomitee das offizielle Plakat der Fußball-Weltmeisterschaft vorgestellt und es ist, wenn ihr mich fragt, richtig gut gelungen. Retro, lässig, einprägsam und ein Tribut an den legendären sowjetischen Torwart Lew Jaschin. Ich würd’s mir aufhängen.

Foto: FIFA
Foto: FIFA

⚽ Was auch zur WM-Vorbereitung gehört: Die Ausbildung der ganzen Freiwilligen. Viele von ihnen sind Studenten, an den Unis in den Austragungsorten wurde mit viel Aufwand um Helfer geworben. Und auch dort, wo keine Spiele stattfinden, sind während der Weltmeisterschaft Freiwillige im Einsatz. 120 von ihnen werden zum Beispiel gerade in Krasnodar ausgebildet. Dort, ein paar Stunden entfernt von Sotschi, sollen einige Nationalmannschaften während des Turniers ihre Trainingsanlagen haben.

Wie diese Ausbildung der Helfer aussieht, kann man im Moment ganz gut bei Instagram verfolgen. So ganz erlaubt ist das vermutlich nicht, trotzdem posten immer wieder Teilnehmer ein paar Fotos aus ihren Schulungen. So wissen wir dank Tatjana aus Samara nun also auch, wie er so aussieht, der typische Волонтёр (Wolontjor): Lächelnd, natürlich, den Ausweis an einem Band um den Hals. In der einen Hand eine Landkarte, am anderen Handgelenk eine Uhr, damit er auch pünktlich ist. Dann noch das klingelnde Handy in der Hosentasche, den FIFA-Schriftzug auf dem Bauch, und auf der Brust irgendetwas, das der Ausbilder mit „Anti-Stress“ beschriftet hat.

То чувство, когда ты в волонтёрах и рассказывают тебе, а не ты кому-то пытаешься донести нужную информацию 😅 Алексей Мокеев сегодня провёл активный урок по городской инфраструктуре и достопримечательностям для условной группы "туристов" из Саранска 😊 . Наша команда оказалась в лидерах среди 4-х команд. Оказалось не так легко отгадать место по фотографии или составить полный маршрут от пункта А к пункту Б, по карточкам с адресами улиц) Надо заняться изучением туристического маршрута #ЧМ2018 . До урока нам рассказали много исторических нюансов о Куйбышеве и Самаре! Кто бы мог подумать, что Самара была столицей России до 1991 года 😎 . . . #СамараЖдетЧМ2018 #ЧМ2018Самара #ВолонтерыЧМ2018 #ВолонтерыСамары #ДобровольцыРоссии #МолодежьСамары #Молодежь63

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Ein Bild weiter geblättert, und der Freiwillige auf dem Plakat fängt auch noch an zu sprechen: „вежл(иво)“ und
„доброжел(ательно)“ steht dann in seiner Sprechblase, „höflich und freundlich“. Nur, was er denkt, das hat Tatjana leider nicht fotografiert.

⚽ So emsig wie bei der Ausbildung der WM-Freiwilligen in Samara scheinen sie beim Stadionbau dort übrigens nicht zu sein: Kein Stadion liege mit den Bauarbeiten so weit zurück wie das in Samara, berichtet Sport Express. Einer der Verantwortlichen lässt sich aber zitieren, man werde dennoch auch dort rechtzeitig fertig werden.

Das wirft allerdings die Frage auf: Um welchen Preis? Human Rights Watch hat gerade erst wieder darauf hingewiesen, dass die FIFA zu Menschenrechtsthemen wie der Sicherheit von Stadion-Bauarbeitern zwar gerne Papiere veröffentliche, aber nicht wirklich etwas unternehme. Wenn nun in Samara, wo die Temperaturen aller Wahrscheinlichkeit erst Ende März wieder über den Nullpunkt steigen werden, der Zeitdruck noch steigt, kann das für die Bauarbeiter dort nichts Gutes heißen.

⚽  43 Champions-League-Spiele lang musste sich Igor Akinfejew die Sprüche anhören, die Witze, die Kritik. So lange dauerte die Pechsträhne des ZSKA-Torwarts, während der er in jedem dieser Spiele mindestens ein Tor zuließ.

Dann kam, heute vor einer Woche, das Spiel gegen Benfica Lissabon – ein klares, sauberes 2:0 für die Moskauer. Aufatmen bei Akinfejew – nur die Fans müssen sich jetzt wohl ein paar neue Pointen einfallen lassen.

⚽ Eventuell habe ich an dieser Stelle schon ein- bis zwanzigmal erwähnt, wie gut die Öffentlichkeitsarbeit von Zenit St. Petersburg ist, vor allem mit Blick auf soziale Netzwerke und das Internet überhaupt. Insofern ist das hier nicht überraschend, aber trotzdem saucool: Bei Giphy gibt es jetzt eine eigene, verifizierte Seite mit Zenit-GIFs.

Die Logik dahinter ist simpel und überzeugend: GIFs sind populär, benutzen werden die Fans sie also sowieso. Also, dann doch besser die, die wir ihnen liefern, als andere, auf denen wir vielleicht nicht so gut aussehen. Aktuell schafft Zenit so mit gerade mal 51 hochgeladenen GIFs schon fast 200.000 Abrufe.

via GIPHY

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Zum Schluss noch zwei Folge-Tipps für diejenigen von euch, die bei Twitter sind: Benedikt hat nicht nur geholfen, den beschrifteten WM-Helfer zu entziffern, er spricht auch fließend Russisch und hat Ahnung von Fußball. Und meine früheren Kollegen bei der Moscow Times haben jetzt auch einen eigenen Account für Nachrichten und Service rund um die Fußball-WM – auf Englisch, also auch ohne Russisch-Kenntnisse nützlich.

Ach so, und wenn ihr bei Twitter mitverfolgen wollt, was das russischen Fernsehen aus der WM-Auslosung am Freitag macht: Ich versuche mal, das live zu twittern – zuschauen und mitreden könnt ihr dann hier. Bis dann!