Es gibt so Geschichten, bei denen kann man gar nicht fassen, dass man sie erlebt. So eine habe ich gerade hinter mir, und eigentlich müsste man danach mit einem Kräutertee aufs Sofa und von da nahtlos ins Bett, es ist ja auch schon halb eins. Geht aber nicht, ich muss ja gleich noch Albrecht anrufen. Da kann ich sie auch aufschreiben: Die Geschichte, wie ich mal einen Abend mit elf Polizisten verbrachte.
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Alles fängt damit an, dass R. in der Stadt ist. Zum Arbeiten, als Journalist bei der WM. Am Vortag gelandet, akkreditiert und im Hotel eingecheckt, heute wollen wir zum Abendessen beim Lieblingsgeorgier. Wird nur leider nichts, weil sein Pass weg ist. Gemerkt hat er das am Schlagbaum zu unserem Wohngelände, wo die Wachmänner die Papiere kontrollieren, verloren gegangen sein muss das Ding in der Metro, die kleine Tasche an seinem Rucksack, deren Reißverschluss er geschlossen hatte, stand offen. R. geht den Weg zurück zur Haltestelle, ich telefoniere diverse Hotlines ab, beides erfolglos. Dann geht er an der Metro auf einen Polizisten zu, spricht ihn auf Englisch an, was der Polizist nicht versteht. Der will nun aber von R. erst mal den Pass sehen. Und so beginnt es.
Kurz nach 19 Uhr, herbeitelefoniert stoße ich zu R. hinzu in die kleine Polizeikammer in der Metrohaltestelle. Er und vier Polizisten stehen da, in unterschiedlichen Uniformen, mit Jacke oder nur im Hemd, gelegentlich kommt ein Neuer hinzu und ein Alter verabschiedet sich. R. erzählt auf Englisch, was passiert ist, ich übersetze mir einen zurecht, die Polizisten fragen, einer schreibt langsam und in Handschrift alles auf, was R. heute getan hat. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass das Albrecht ist. Er wird uns heute noch öfter begegnen, erst aber verbringen wir ein Stündchen mit Protokoll, Rumstehen, Rumstehen, Protokoll, zwischendurch kurz in den Supermarkt.
Inzwischen sind eine ganze Reihe Polizisten hinzugekommen. Einer in Zivil, in einem weißen Blouson, der wissen will, ob um den verlorenen Pass eine Hülle war. Einer im Anzug, der R.s Metrokarte ausliest und so erfährt, dass er um 17.03 Uhr in die Metro gestiegen ist. Einer in blauem Tarnfleck, mit Schutzweste und Schäferhund. Einer mit einer Kamera, der Bilder von R. mit seinem Rucksack macht und sie zu Leuten schickt, die die Kameraufnahmen aus der Metro nach ihm durchsuchen sollen. Eine Frau in Rock und Bluse, mit Pistole im Halfter und Ministeriumswappen am Ärmel. Die Atmosphäre ist routiniert bis sonntäglich, mit gelegentlich aufblitzender Freundlichkeit.
Warum zieht sich das hier alles so? Auf Nachfrage kommt raus, dass R. leichtfertigerweise die Grenzen zwischen mehreren Polizeibezirken überschritten hat: In einem Bezirk in die Metro gestiegen. In einem Bezirk gemerkt, dass der Pass weg ist. In einem Bezirk einen Polizisten um Hilfe gebeten. Darum dürfen hier so viele Leute mitspielen, darum müssen wir nun alle noch mal zu uns nach Hause fahren, ans Schrankenwärterhäuschen, um auch diesen Bezirk abzuhaken. Erste Fahrt im Leben mit einem russischen Polizeiauto? Check! Für uns alle reicht der Wagen natürlich nicht, darum fährt der Rest in einem Kleinbus hinterher. Am Schrankenwärterhäuschen zähle ich durch: zehn. Es sind zehn Polizeikräfte, die uns hier betreuen, für einen verlorenen Pass.
R. muss vor dem Wärterhäuschen posieren, wird zusammen mit ihm fotografiert – Beweisaufnahme. Ein Nachbar, der uns gesehen hat, kommt und bietet Hilfe an. Ein Polizist raucht. Der Schäferhund setzt sich. Das hier wird wohl noch länger dauern. Ob R. vielleicht inzwischen in sein Hotel fahren könnte, da im Zimmer noch mal gründlich gucken? Nein, erst muss die Anzeige aufgenommen werden. In neuer Besetzung, diesmal zu fünft, steigen wir ins Polizeiauto, der Beifahrer ist sicher wichtig, er trägt Zivil. Zur WM sei R. also das? England gegen Russland habe er mal in Wembley gesehen, sagt der Zivilist, er selber sei ja Fan von Spartak, was wir denn zu der Sache mit Leicesters Meisterschaft 2016 sagen, und dass ja leider dieser deutsche Torwart Liverpool den Sieg in der Champions League verbockt hat. Wir nicken und hmmmmmen, um ihn möglichst wohlwollend zu stimmen.
„Gucken Sie nicht so genau hin, das Gebäude ist schon alt, von 1935“, sagt der Zivilmann, als wir an der Wache angekommen sind. Was wir betreten, fühlt sich an wie die sowjetische Interpretation eines Gebäudes aus einem Harry-Potter-Band: Die Wache ist rund, man läuft in der Kurve den Gang entlang, hier mal eine Gittertür, rissige Farbe an den Wänden. Nachfrage ergibt: Das Ding ist rund, weil die Polizeiwache ringförmig in die Metrostation „Smolenskaja“ eingebaut ist, einmal rund um die Kuppel der Eingangshalle. R. und ich werden in einen Aufenthaltsraum gebracht, der, natürlich, auch gerundet ist. An der Wand Fotos der Mitarbeiter beim gemeinsamen Skifahren und beim Tauziehen im Schnee. Rechts an der Wand Bilder von Kollegen, die im Dienst gestorben sind. „Guck mal, da ist einer von unseren“, sagt R. und zeigt auf die Pinnwand, über der „Die Besten ihres Berufs“ steht. Ach schau, da hängt er – der Mann, der später Albrecht sein wird.
Dann holt man uns auch schon wieder ab, in einen winzigen, zugestellten Raum mit zwei Schreibtischen „Ich hab eine Übersetzerin, die Englisch kann“, verkündet der Zivilist dem Kollegen, der dort sitzt und tippt – Nummer elf des heutigen Tages. Der ist durchaus attraktiv und es ist nicht ganz ohne, von so jemandem angesehen zu werden, als sei man die Antwort auf all seine Fragen. Ob ich vielleicht diesem jungen Mann hier aus Ägypten mal seine Aussage vorlesen und übersetzen könnte, ob man sich richtig verstanden habe? Sein Portemonnaie ist weg, er ist seit zwei Tagen auf der Wache, hat dort übernachtet. Zu Gast in Moskau, ohne Geld, ohne Freunde. Der Polizist will, dass das Protokoll unterschrieben wird. Dem Ägypter ist das Protokoll egal, er weiß nicht, wie er ohne Geld zurück nach Tambow kommen soll, wo er studiert und übermorgen seine letzte Prüfung hat. „Das tut uns leid, aber wir sind ja nur die Polizei, keine Bank“, sagt einer. An der Wand lehnt ein Bügelbrett mit buntem Stoffbezug. Fische schwimmen in einem winzigen Aquarium, der Zivilist erklärt, dass das seine sind und wie stolz er auf sie ist.
Munteres Übersetzen mit viel Geholper, mal für den Beamten, der R.s Fall in den Rechner tippt, mal für den anderen. Ich wundere mich, was für Vokabeln man sich alle erschließen kann, wenn einen ein Polizist erwartungsvoll anguckt. Vielleicht ein Thema für Didaktiker. Dazwischen reden wir über Ägyptens Chancen bei der WM, der Zivilist klinkt sich ein, das mit Salah, was der Ramos da gemacht hat, war eine ganz dreckige Sache. Ich denke daran, wie ich vor zwei, drei Stunden noch geglaubt habe, mit einem russischen Polizeiauto zu fahren sei sicherlich das Verrückteste, was mir diese Woche passieren würde. „Wir erleben hier gerade eine Kurzgeschichte“, sage ich zu R. „Ist aber nicht besonders kurz“, antwortet er.
Der Ägypter, den die drei Beamten alle beim Vornamen nennen und nahezu väterlich behandeln, wischt durch die Fotos auf seinem Handy und zeigt seine Zeichnungen: Eine junge Frau mit hochgesteckten Haaren, eine ältere Frau mit Kopftuch. „Der ist ein echter Künstler“, sagt einer der Polizisten, „Komm, zeig denen doch mal deinen Putin.“ Der Ägypter zeigt ein YouTube-Video, in dem er einen Leinwand bemalt. Man erkennt nur seltsame Formen, bis er das fertige Bild auf den Kopf stellt und es plötzlich unverkennbar Putin ist. „Damit hab ich einen Wettbewerb gewonnen, ‚Tambov’s got talent‘,“ sagt er stolz. Ich kann und kann und kann das hier alles überhaupt nicht fassen.
Der Ägypter findet, dass wir doch jetzt alle mal Freunde bei Facebook werden sollten. R. und ich vereinbaren in einer stillen Minute, dass wir ihm gleich jeder 1000 Rubel geben, dann kann er sich ein Zugticket nach Tambow kaufen. Dann wollen die Beamten wissen, ob R. während der WM noch andere russische Städte sehen wird. Was, echt, Saransk? Ist ja ein Ding, da ist doch der Polizist her, der gerade R. s Protokoll schreibt! „Der ist nämlich kein Russe, der ist Tatar“, frotzelt der Zivilist. Großes Hallo, der Tatar holt das Handy raus, zeigt Fotos von sich vorm Saransker Stadion, von seinen Kindern, der Sohn in Eishockeymontur. Der Zivilist geht mit, er war auch schon mal in Saransk, bitte mal gerade für R. übersetzen: Es gebe dort eine Kirche an einem Platz, und ein Denkmal für einen berühmten russischen Admiral. Es geht auf Mitternacht zu, wir sitzen in einem ranzigen alten Büro auf einer Polizeiwache und bekommen Tipps zur Freizeitgestaltung in Saransk. Das Maskottchen der Stadt, sagt der Zivilist,sei übrigens das Eichhörnchen.
Irgendwann sind die Protokolle fertig. R. muss unter seins auf Englisch schreiben, dass seine Aussage richtig aufgeschrieben und ihm vorgelesen wurde. Darunter schreibt der Polizist denselben Satz auf Russisch und daneben: Beglaubigt von der Übersetzerin, Frau Katrin Scheib. Gleiches Prozedere beim Ägypter, dann werden die Unterlagen abgeheftet, in einen Safe gelegt und ich denke mir, dass es bei der Moskauer Polizei jetzt auf ewig oder zumindest bis zur endgültigen Digitalisierung zwei Protokolle gibt, auf denen steht: „Übersetzerin: Frau Katrin Scheib“. Wäre ich nicht komplett ausgelastet mit dem Gedanken, wie unglaublich das hier alles ist, ich wäre stolz.
So, sagt der Zivilist, „übersetzen Sie bitte dem jungen Mann, dass wir ihm jetzt ein Ticket kaufen für den Bus nach Tambow.“ Der Ägpter strahlt. „Nicht wir, die Polizei, sondern wir als Menschen.“ Der Ägypter nickt. „Fragen Sie ihn mal, ob er am Fenster sitzen will oder am Gang.“ Wo der Bus denn losfährt, will der Ägypter wissen, und der Zivilist sagt: „Wir haben hier einen Auszubildenden, der steigt morgen mit dir in die Metro, fährt mit dir bis zum Busbahnhof und setzt dich in den Bus, auf den richtigen Platz.“ R und ich gucken uns an und sehen im Blick des anderen die Frage, was wohl für ein Gefühl kommt, wenn „komplett fassungslos“ nicht mehr reicht.
„Bitte übersetzen Sie ihm, dass er sein Portemonnaie in Zukunft in die Hosentasche steckt oder in die Innentasche der Jacke, nie außen“, sagt der Zivilist noch. Der Ägypter bedankt sich, strahlt noch ein bisschen mehr, als wir ihm die 2000 Rubel geben, und verabschiedet sich, es gibt im Untergeschoss einen Schlafplatz für ihn. Der Polizist, der R.s Fall getippt hat, sagt, dass er Albrecht heißt, dass er und ich jetzt mal Telefonnummern austauschen, und dass R. dann mit dem Taxi in sein Hotel fahren soll, irgendwo in der Nähe des DFB-Mannschaftsquartiers. „Und wenn er gut angekommen ist und geguckt hat, ob da sein Pass liegt, dann ruft er Sie an, Katrin, und Sie rufen mich an und sagen es mir. Auf Wiedersehen.“
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Fünf Minuten später stehen wir auf der Straße vor der Polizeiwache, R. und ich, umarmen uns und vergewissern uns, was wir da gerade erlebt haben. Fünf Stunden mit elf verschiedenen Moskauer Polizisten, mit viel Warterei, viel Protokollschreiben und viel Übersetzen. Eine Stunde später wird R. sein Hotelzimmer betreten und feststellen, dass der Pass dort nirgends ist, morgen muss er also mit seinem Polizeiprotokoll zur Botschaft. Doch was immer er dort erlebt – den heutigen Tag wird es nicht übertreffen.
Mehr über den Alltag in Russland während der WM hier.
Was für eine tolle Geschichte! Vielen Dank!
Tolle Geschichte, kann mir gut vorstellen, wie aufregend das alles war. Und so viele freundliche Polizisten, das verdirbt einem ja die ganzen Vorurteile!
Hier kann ich auch gleich mal ein großes Lob und Dankeschön für Ihr Blog loswerden! Russland jenseits der Klischees, sehr schön.
PS. Der Boden des Polizeistationskorridors sieht schon ziemlich strange aus. Müsste mal wieder gebügelt werden, oder?
Vielen Dank, das freut mich! Und ja, da müsste man mal mit dem großen Kurvenbügeleisen drübergehen.
Schöne Geschichte!
Aber was sind „Protokollscheiben“? (Letzter Absatz, Mitte, )
Danke – und ich kann nur vermuten, dass das massive Rechtschreibausfälle einer übermüdeten Bloggerin sind 🙂 Danke, ist korrigiert!
Ich bin hin und weg – diese Geschichte, einfach grandios!
Eine Wahnsinnsgeschichte! Ich war erst eine handvoll mal in Moskau, und ich wurde jedes mal gewarnt vor unfreundlichen Menschen – und gleichermassen war ich jedes mal überrascht wir nett alle Russen waren mit denen ich dann interagiert habe. Also mit ernstem Gesicht, aber sehr hilfsbereit und offen. Gleich im Zug vom Flughafen sass das erste Mal eine Frau neben uns die uns Fotos von Ihrem Haus und Freunden und Bären und Sakhalin insgesamt gezeigt hat, und sowas passiert mir sonst nicht. Jetzt muss ich doch mal wieder bald einen Besuch planen, schon allein weil mein liebstes Cafe auf der ganzen Welt in Moskau ist („I Love Cake“, völlig überteuert aber leider auch toll, allein der Instagram Feed)
Oh ja, den Laden kenn ich – gefährlich für Geldbeutel und Hüften!
ach du meine güte – gerade sehr gelacht. da habt ihr alle aber ganz unfassbares glück gehabt, man merkt, dass die zeiten besser geworden sind, sogar in moskau. ich hab da eine ganz andere erinnerung an reisepassverlust im – damaligen – ostblock, aber das war schon 1986. endete dann mit einem sitzstreik vor der österreichischen botschaft in budapest, aber auch damals waren die – wenn auch nur am rande – involvierten russen höchst hilfsbereit. ich hab das alles aufgeschrieben, fortsetzungsroman in sieben teilen, glaubt ja keiner sonst. wer mag, kann eine runde (oder zwei) lachen gehen: https://gastgeberin.blogger.de/stories/1596821/
Liebe Frau Scheib, Sie haben bei mir 500 Rubel gut!
Immer gern, aber warum?
Ganz unterhaltsam geschrieben, aber warum der Geschichte Attribute wie Wahnsinn und unfassbar zugeschrieben werden, kann ich nicht so richtig nachvollziehen. Was genau soll an dem Geschilderten ungewöhnlich sein? Dass der Passverlust ne Menge Papierkram mit sich bringt? Dass Polizisten freundlich sind? Sich über ein Weltereignis unterhalten, das gerade in Ihrem Land stattfindet? Dabei ein verlorenes Dokument für die Herren keinen Grund darstellt, in Hysterie auszuarten, wie es von der Autorin scheinbar erwartet wird?
Fünf Stunden Abenteuer mit Polizisten in Fußballmannschaft-Stärke, ausufernde Bürokratie, plötzlich als Übersetzerin eingespannt werden, Einblicke hinter Kulissen bekommen und dann noch solche geballte Hilfsbereitschaft, wie man sie von russischen Sicherheitskräften nicht so oft erlebt – ich fand‘s bemerkenswert. Aber muss ja auch nicht jedem gefallen, der Text.
man muss das wohl so sehen: wer solche situationen selber nicht kennengelernt hat, geschweige denn in einer solchen gefangen war, und wer die diversen gebäude nicht schon live und in farbe erlebt hat, und dazu womöglich nicht weiss, dass die herrschaften vom staat (und das kann man verstehen wie man will) eigentlich angehalten sind, sich ganz anders zu verhalten, der kann nicht nachvollziehen welche emotionen da hoch kommen, welche erinnerungen, assoziationen, ängste etc..
Eine tolle „Kurzgeschichte“, die mein Bild über die Russen – vor allem der Polizei – positiv beeinflusst hat. Das einige nicht verstehen können, wie abenteuerlich das ganze ist, liegt wohl daran, dass sie noch nie so aufgeschmissen im Ausland waren. Pass gestohlen ist der Worst Case und Übersetzer sind rar gesät. Da ist man froh, wenn man sich mit wenigen Vokabeln, Händen und Füßen unterhalten kann.
Puh, was für ein Albtraum den Pass im Ausland zu verlieren. Aber gut zu lesen, dass es alles sehr freundliche Polizisten waren. Und witzig zu sehen, dass die Bürokratie scheinbar nicht nur in Deutschland so schlimm ist mit ihren Zuständigkeiten ^^
Ich wünsche euch noch viel Spaß und dass der Rest eures Urlaubes ohne Probleme verläuft 🙂
Danke, ist zwar kein Urlaub, aber gute Wünsche kann man ja immer brauchen 🙂