Digitaler Journalismus im Zentralen Telegrafenamt

Zentrales Telegrafenamt Moskau

Da saßen wir also, reihenweise Journalisten, und hörten Referenten vom Guardian und vom Calvert Journal zu. Der Guardian macht derzeit eine Moskau-Woche (letztes Jahr gab es sowas schon mal mit Mumbai), und heute sollte es um Journalismus gehen: Welche Stereotypen westliche Medien nach Ansicht russischer Journalisten über deren Land verbreiten (Wodka, Kriminalität, Expansionismus, Dashcam-Videos) und umgekehrt. Was für Erzählformen sich online in letzter Zeit entwickelt haben. Wie man englischsprachigen Medien Themen anbietet. Was ein guter Einstieg ist. Wie Social Media hilft, die Reichweite zu steigern (selbst dann, wenn Dein Hashtag gekapert wird).

Vieles war sehr grundlegend, aber die Zielgruppe waren auch eher Berufseinsteiger, darunter eine ganze Gruppe Journalismus-Studenten. Da konnte man also zwischendurch gut mal ein wenig durchs Gebäude stromern und staunen.

Denn „DI Telegraf“ ist heute ein Veranstaltungsort und Coworking Space, aber früher war der Zwanzigerjahre-Bau an der Twerskaja das Zentrale Telegrafenamt. Als die Bürger der Sowjetunion Ende Juni 1941 übers Radio vom Angriff Hitlerdeutschlands auf ihr Land erfuhren, saß Molotow in diesem Gebäude und sprach zu ihnen.

Seltsam, dass ein solcher Gebäudekomplex in dieser Lage nicht längst ein Einkaufszentrum, ein Hotel oder der Hauptsitz einer Immobilienfirma ist. Seltsam, aber schön – denn das Gebäude mit seinem industriellen Charme, den freiliegenden Ziegelwänden und dem rauen Putz ist rundum sehenswert.

Wer nach den Fotos Lust bekommen hat: Man kann da einfach reingehen – am Portier vorbei, als gehörte man hierher, dann mit dem Aufzug in den 5. Stock. Der Eingang ist in einer Seitenstraße, dem Gasjetni Pereulok. Auch, wenn die nach Zeitungen benannt ist statt nach Radio oder Digitalem.

Vorschläge für den Grimme Online Award 2015

Seit drei Wochen kann man Projekte für den Grimme Online Award 2015 vorschlagen. In dieser Zeit sind schon rund 300 Projekte zusammengekommen; zwei davon habe ich eingereicht und möchte sie auch hier allen ans Herz legen.

Das eine sind die Reviermenschen, Straßenfotografie aus dem Ruhrgebiet. Meine Essener Kolleginfreundin Monika Idems hat ein Händchen für den richtigen Moment und die richtigen Fragen, sonst würden sich ihr die Leute, die ja im Pott gerne mal lakonisch und kurz angebunden sind, nicht so bereitwillig anvertrauen. Und dann würde sich das Fotoblog hier aus der Moskauer Entfernung auch nicht so nach Heimat anfühlen.

Warum sind Sie Stahlbetonbauer geworden?…

Der andere Vorschlag eignet sich im Gegensatz zu den Reviermenschen nicht zum Darinschwelgen. Manches hier fällt einem schwer zu lesen; es zu schreiben, muss also erst recht ein Kraftakt sein. Nora Hespers tut ihn sich derzeit an und rekonstruiert auf Die Anachronistin das Schicksal ihres Großvaters Theo, eines Widerstandskämpfers aus dem Rheinland.

Vielleicht ist es die Mischung aus journalistischem Herangehen und Persönlichem, die mir das so nahe gehen lässt. Es lohnt sich jedenfalls, und ich hoffe sehr, dass die Grimme-Jury einen guten Blick auf dieses Blog wirft, obwohl es erst am Anfang steht.

Viel Stoff, wenig Schlaf

Insgesamt taugt die Vorschlagsliste übrigens durchaus als kleine Fortbildung. „Meine Erlebnisse im Altenheim“ von Katrin Sickert zum Beispiel kannte ich noch nicht. Sie hat MS und zog darum mit 45 Jahren in ein Heim, aus dem sie nun bloggt.

Umgeben sind ihr Blog, die Reviermenschen und Die Anachronistin auf der Liste von vielen Platzhirschen: Reichlich Öffentlich-Rechtliches, Spiegel, Zeit, taz und, warum auch immer, Chefkoch.de. Wer die Vorschläge darum noch um sein persönliches Lieblingsprojekt ergänzen will, hat dazu noch bis zum 15. März Zeit.

Axel Springer und die Funke Mediengruppe – ein Deal in Tweets

 

 

 

 

 

Disclaimer: Axel Springer hat früher mal meine Miete bezahlt. Heute macht das die Funke Mediengruppe.

Folo 2013 – bitte mehr Handwerk

Kontrastreicher Monat, der Mai. Erst die re:publica, wo man als Onliner hinfährt, weil da viele sind wie man selber. Dann das Forum Lokaljournalismus, wo man als Onliner hinfährt, weil nicht. Die Bilanz zur #rp:13 gibt es hier, fehlt noch die zum #folo2013.

Der Auftakt war gut gewählt. Es macht Spaß, dem Phänomen Giovanni di Lorenzo zuzuhören (und sich nebenbei zu fragen, ob das Phänomen ein anderes wäre, wenn er „unumkehrbar“ sagen würde statt „irreversibel“, „vorwegnehmen“ statt „antizipieren“ und „Bräuche“ statt „Usancen“). Aber wenn zu den Machern von tagesaktuellem Lokaljournalismus jemand von einer überregionalen Wochenzeitung spricht, dann ist das Ergebnis zwar eine Motivationsrede, nach der man etwas aufrechter auf dem Stuhl sitzt. Es erinnert aber auch an reihenweise zu oft gehörte Verallgemeinerungen und schiefe Analogien.

An „Dass die Paywall funktioniert, zeigt ja die New York Times“. An „Diese animierte Infografik heute bei Spon, Rundgang durchs Weiße Haus – sowas brauchen wir auch, das bauen wir nach!“ An „…und dann machen wir das wie der Guardian“. Das sind alles tolle Medienhäuser. Aber deren Kerngeschäft ist, ohne eins von beiden auf- oder abzuwerten, nicht unseres. Das war bei der Diskussion nach dem di-Lorenzo-Vortrag ja dann zumindest kurz auch Thema: Wo informieren sich meine Leser noch außer bei mir? Muss ich der nächste sein, der auch noch mal die große Afghanistan-Reportage macht? Konzentrier ich mich ganz aufs Lokale? Oder riskiere ich dann, ins Provinzielle zu rutschen?

Davon hätte das Folo mehr brauchen können – anstelle einer Reihung von Versuchen, vom Überregionalen aufs Lokale zu schließen. „Ich wundere mich, dass ich zum Thema Lokaljournalismus eingeladen wurde“, gestand Karl-Heinz Ruch (taz).

Gerade von einem Forum Lokaljournalismus wünsche ich mir also fürs nächste Mal: Best Practice, aus dem Lokalredaktionsalltag. Erfolgreiche Neuerungen vorstellen, kleinteilig: Das haben wir gemacht, mit diesen Leuten, so sah der Alltag aus. Da hat es gehakt, das hat es gekostet – und so fanden es die Leser. Projekte im Porträt, gerne mit Steckbrief. Weniger Schlagwörter, mehr Werkstatt.

Ach so, und das beiläufige Online-Bashing, das Ich-spotte-aufs-Netz-und-krieg-Applaus, das lassen wir 2014 dann ganz hinter uns, ne? War diesmal schon besser als 2012, aber Sätze wie „Die Wächterfunktion lässt sich nicht an Twitter delegieren“ hinterfragen wir nächstes Jahr bitte auch genauer, und zwar zweifach: 1.: Hat das denn irgendwer behauptet? Und 2.: Können wir, anstatt einen Kanal (Twitter) und ein Handwerk (Journalismus) zu vergleichen, vielleicht einfach mal entspannt zugeben, dass die sich gut ergänzen? Spätestens seit #aufschrei hat ja jetzt jeder mindestens einmal mitbekommen, wie ein Missstand bei Twitter thematisiert wurde – und erst daraufhin sich auch Journalisten des Themas angenommen haben. Wächterfunktion, anyone?

Dankenswert: das Foto hat Sandra Schink gemacht, die kann sowas.
Lesenswert: die Folo-Bilanz von Thomas Schroeter