Auf den billigen Plätzen: Promming

  

Erste Male: Promming. Also, nicht einfach ein Konzert der Proms anhören, sondern von da, wo es die echten Fans tun, die Prommers: ganz oben unterm Dach der Royal Albert Hall. Stühle gibt es hier nicht, darum nutzen manche Leute ihre Jacken oder eine Zeitung als Unterlage. Die meisten aber sitzen einfach auf dem Boden – oder stehen vorne am Geländer, bei dem in jedem Metallstab das goldene A für Albert glänzt.

Unten spielt das Mahler Chamber Orchestra Stravinsky, hier oben schlüpfen ein paar Spätankömmlinge noch schnell aus den Schuhen, es hat den ganzen Tag geregnet. Ein älterer Mann knistert vorbei – er trägt statt Strümpfen Plastiktüten in seinen Schuhen. Wahrscheinlich hängen die Socken irgendwo an einem Treppengeländer, vielleicht da hinten, wo die drei aufgespannten Schirme auf dem Boden stehen und ihre Besitzer darunter liegen als hätten sie Angst vor Sonnenbrand. 

Der Klang hier oben ist kein Stück schlechter als auf einem der regulären Plätze – genau so rund, genau so klar. Aber wir hier oben (und die zweite Gruppe Prommers, auf Stehplätzen direkt vor der Bühne) haben nur £5 für unsere Karten bezahlt. Stundenlang stellen sich manche am Tag des Konzerts dafür an; ich hab wegen des Regens einfach kurz vor Beginn vorbeigeschaut – und Glück gehabt: kein Anstehen, nur fünf Pfund bezahlen und vier Stockwerke hochlaufen.

Umbaupause von Stravisnky zu Beethoven, ein paar Meter weiter hantieren zwei Mädels mit ihren Stäbchen über den Resten ihres Sushi-Picknicks hin und her. „Neulich saß ich hinter jemandem, der hatte eine Partitur dabei und hat die ganze Zeit mitgelesen,“ erzählt der Mann, der neben mir an der Wand lehnt. 

Bücher und Strickzeug sind keine Seltenheit, auch ein Schachbrett würde mich nicht überraschen. Schließlich kann diese Mischung aus Hochkultur und Rumfläzen kaum jemand so gut wie die Engländer: Shakespeare in einer Schlossruine mit Wein aus Plastikbechern. BYOB-Sinfoniekonzert im Park, mit Picknickdecke und Regencape. Musiker in Abendgarderobe spielen für Zuhörer in Jeans und ohne Schuhe. 

Unten schlägt der Konzertmeister am Flügel einen Ton an, damit das Orchester stimmen kann – ein „Bravo“-Ruf auf den billigen Plätzen, Gelächter und Applaus in der ganzen Halle. Dann kommt Leif Ove Andsnes, setzt sich an den Flügel und es wird wieder ruhig. Beethoven, Klavierkonzert Nr. 3. Großartig, ob im Sitzen, Stehen oder Liegen; ob vorgebeugt oder zurückgelehnt. 

Ich zieh mir auch mal die Schuhe aus.

Scratch Messiah in der Royal Albert Hall

Royal Albert Hall Scratch Messiah 2014 panorama 

Einmal das Foto großklicken. Von der Orgel nach rechts, bis da, wo die Logen anfangen. Jetzt ein Stück nach unten, noch ein bisschen, stop: Da irgendwo stehen wir, Katharina und ich, in roten Outfits, dem Dresscode für den Alt beim „Scratch Messiah“ in der Royal Albert Hall. Und ja, es fällt mir auch ein paar Tage danach noch schwer, nicht jedes Mal „Royal Fucking Albert Hall“ zu sagen, so grandios war das Gefühl, dort zu stehen und zu singen.

Über das Scratch-Prinzip hab ich hier schon mal ausführlicher gebloggt – Musiker studieren zuhause ein Stück ein und treffen sich dann, um es aufzuführen. Manchmal gibt es auch noch eine einzige gemeinsame Probe, aber nicht bei der Londoner Version von „The Really Big Chorus„. Jacken abgeben, noch mal zum Klo, Sitzplatz finden, sich den Nebenleuten vorstellen, Trinkflasche
unter den Stuhl stellen und los. Scratch as scratch can.

Völlig richtig natürlich, dass die ersten Chor-Noten vom Alt gesungen werden. Das Orchester ist unerschütterlich – muss es auch sein, denn 3000 Sänger, das ist keine Anzahl, die zum Allegro oder gar zur spontanen Tempoverschärfung neigt. Erst recht nicht, wenn sich manche in die schwierigen Stellen dann doch noch ein bisschen reinfühlen müssen. Aber auch das kennen Chorleute, nicht nur vom Scratch: Manchmal markiert man eben nur und verlässt sich auf die anderen.

Katharina und ich haben beide schon ein paar Messiasse hinter uns, es fluppt also an diesem Abend meistens, auch bei frickeligen Sätzen. Wie viel da jetzt Können ist, wie viel Adrenalin und wie viel Inspiration durch die heiligen Hallen, den genius loci? Komplett egal. Was bleibt, sind das Gefühl beim Schlussapplaus und die Bilder.

(Danke an Anja für das Panorama-Foto obendrüber!)