Nachtrundfahrt durch Moskau

„Seit ich dich kenne, mag ich es gern, wenn der Winter kommt – dann wird’s früher dunkel.“ Element of Crime müssen an Moskau gedacht haben, denn Winterzeit heißt hier: Endlich muss man nicht mehr bis zum späten Abend warten, um die im Dunkeln angestrahlte Stadt zu bewundern. Wie sagte es neulich erst wieder ein Gast aus Westfalen: „Also beleuchten können se.“ Stimmt.

Zu den Vorbereitungen, wenn sich Gäste anmelden, gehört darum immer auch ein Anruf bei S. Er hat ein Auto – und ein Leben lang Erfahrung mit dem Moskauer Verkehr, ist also der perfekte Fahrer für eine Tour am Abend – vorbei an historischen Gebäuden, moderner Architektur und anderen Fotomotiven. Die Strecke dafür hat sich inzwischen eingespielt:

Wir starten am Kutusowsky-Prospekt, gegenüber vom Hotel Ukraina (1, rot markiert), einer der „Sieben Schwestern“ im Zuckerbäckerstil, die in warmem Licht angestrahlt wird. Vorbei am Weißen Haus (2), dem Regierungssitz, vor dem Jelzin einst auf einen Panzer kletterte, geht es über den Neuen Arbat (3), der im Dunkeln zumindest ein wenig besser zu ertragen ist als tagsüber. Der Buchladen „Dom Knigi“ (4) zur linken ist in den Farben des Regenbogens angestrahlt, einen Ausschnitt sieht man im Headerbild dieses Blogs.

Jetzt knickt die Route rechts ab und windet sich um ein Gebäude des Verteidigungsministeriums (5), kurz darauf hat man zum ersten Mal einen Blick auf den Kreml (6). Auf diesem Stück der Route wechseln sich in schneller Folge die Sehenswürdigkeiten auf beiden Seiten ab: links Staatsbibliothek (7), rechts Manege (8), links die Uni-Fakultät für Journalismus (9). Der Stau, den es hier selbst nach der Rushhour manchmal noch gibt, sorgt dafür, dass man wenigstens in Ruhe gucken kann.

Das Bolschoi bei Nacht, von rechts drängelt sich noch das TSUM ins Bild.
Das Bolschoi bei Nacht, von rechts drängelt sich noch das TSUM ins Bild.

Wie der Neue Arbat gehört auch die Duma (10) zu den architektonischen Punkten Moskaus, die man besser nicht bei Licht betrachtet. Das Bolschoi-Theater (11) und die riesigen Spielfiguren am früheren „Detski Mir“ (12) sind da eine willkommene Aufheiterung, ehe ein Gebäude mit düsterer Geschichte erscheint: In der Geheimdienstzentrale „Lubjanka“ (13) hielt der KGB unzählige Menschen fest und folterte sie, viele wurden in diesem Bau ermordet. Heute hat hier der KGB-Nachfolger FSB seinen Sitz.

Ein kleines Stück Fahrt, vorbei an den Bögen des Gostiny Dwor (14), und auf einer Art Park-Insel in der Mitte der Straße ist Platz für ein paar Autos. Manchmal halten hier abends Stretch-Limousinen. Wir steigen aus und gehen durch eine Unterführung rüber zur Basiliuskathedrale (15) am südlichen Ende vom Roten Platz (16). Leer ist es um diese Zeit hier immer noch nicht, aber zumindest weniger Geschiebe als tagsüber. Kathedrale, Kremlmauer mit Türmen, vielleicht sogar GUM und Leninmausoleum – wie viel Zeit für Fotos bleibt hängt vor allem davon ab, wie legal das Auto geparkt ist.

Der Blick aufs GUM vom Roten Platz
Egal zu welcher Jahreszeit, das beleuchtete GUM am Roten Platz wirkt immer weihnachtlich

Entlang der Moskwa – mit Blick rüber aufs andere Ufer zur früheren Schokoladenfabrik „Roter Oktober“ (17) – geht es zur Christ-Erlöser-Kathedrale (18). Die Route führt an zwei Seiten des Gebäudes vorbei, halten ist hier allerdings schwierig. Für einen kurzen Stopp zum Bestaunen der angestrahlten Riesenkuppel reicht es aber auf jeden Fall. Das Puschkin-Museum (19) liegt einige Meter zurück von der Straße und ist darum hinter den Bäumen nur kurz zu sehen.

Der nächste Abschnitt ist länger, keine großen Sehenswürdigkeiten, einfach ein entspanntes Dahingondeln durch die nächtliche Stadt, über den Fluss und vorbei am Gorki-Park mit seinem riesigen weißen Tor (20). Bis wir oben angekommen sind auf den Sperlingsbergen (21), an der Aussichtsplattform mit dem Universitätsgebäude (22) hinter uns. Wenn nicht gerade Bauarbeiten den Blick versperren, schweift der Blick hier über große Teile Moskaus – einschließlich Fußballstadion und Skisprungschanze.

Der Blick von den Sperlingsbergen, hier mal durch ein Loch im Baustellenzaun.
Der Blick von den Sperlingsbergen, hier mal durch ein Loch im Baustellenzaun.

Zwei Stopps fehlen noch: Der Siegespark (23) mit seiner Achse aus Springbrunnen, die nachts rot strahlen. Am Ende der Achse erinnern eine Säule und ein ewiges Feuer an die Opfer des Zweiten Weltkrieges. Wie an der Kathedrale ist es allerdings auch hier schwierig, das Auto zu parken – S. macht während des kurzen Halts am Straßenrand sicherheitshalber immer direkt die Kofferraumklappe auf, falls Fragen kommen.

Die finalen Schnörkel der Route winden sich schließlich rund um die spektakulären Hochhäuser von Moscow City (24), bis zu einer Haltebucht, die viele für einen Schnappschuss nutzen. Ach guck, und die Stretch-Limo von vorhin ist auch wieder da. Noch ein letzter Blick auf die Skyline, dann geht es zurück zum Ausgangspunkt vor dem Hotel Ukraina.

Wer die Tour nachfahren möchte, kann die Google-Route aus der Karte oben als KML-Datei runterladen und in sein Navi importieren – oder sich direkt von Google Maps selber navigieren lassen. Etwa zwei Stunden sollte man für die 37 Kilometer Rundweg einplanen.

Danke an Dominic für das Foto von den Sperlingsbergen und an Marco für das vom GUM.

Warum es politisch ist, wenn wir Schneeräumfahrzeuge sehen

Diese Woche haben wir in Moskau die erste richtige Ladung Schnee des Winters bekommen. Schön, weil die Stadt endlich mal nicht mehr grau aussieht, und weil man mit großen Augen die ganzen Räumfahrzeuge bestaunen kann. Gerade auf unserer Straße ist da einiges unterwegs, denn sie ist für viele Wichtigmenschen aus dem Kreml der Weg zur Arbeit.

Ein Verbund aus vier, fünf Schneepflügen, die gleichzeitig auch noch Frostschutzmittel sprühen, ist also kein seltener Anblick. Dieser Oschi von einer Maschine hier war mir dann aber doch neu.

Kann gut sein, dass dieser Schneefresser auch früher schon im Einsatz war und mir nur nicht aufgefallen ist. Speziell ist in diesen Tagen aber definitiv, wie viel Platz die Schneeräumerei in den Hauptnachrichten der staatlich kontrollierten Fernsehsender einnimmt.

Wir sehen Straßen im Schnee – und die Kamera schwenkt zu den Räumfahrzeugen, die am Straßenrand mit laufendem Motor auf ihren Einsatz warten. Wir sehen Autos, die über frisch geräumte Straßen rollen – und die Arbeiter, die sich nach ihrem Räumeinsatz an einer Tasse mit etwas Heißem drin aufwärmen. Minutenlang derselbe Zyklus aus fallendem Schnee, Schneeräumen und wieder fließendem Verkehr.

Der Grund für diese medialen Schneeräumfestspiele lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: Orenburg. 16 Stunden lang saßen Autofahrer dort eingeschneit fest, ehe die Räum- und Rettungskräfte sich ihrer annahmen. Ein Mann erfror, eine Frau starb kurz nach ihrer Rettung. Im Netz machte danach die Beschwerde eines der Eingeschneiten die Runde: “Wie kann es sein, dass in Russland die Ausrüstung fehlt, um durch den Schnee zu den Menschen zu kommen und sie zu retten?“

Dieses schwere Gerät, das wir in diesen Tagen so prominent in den Abendnachrichten der Staatssender sehen, hat also nicht nur die Aufgabe, Straßen vom Schnee zu befreien. Vor allem zeigt es Präsenz.

Putin der Woche (XXVIII)

putin der woche kerze etsy

Gesehen: Bei Etsy, der Website gewordenen Rule 34 für den Handarbeitsbereich: Wenn Du es Dir vorstellen kannst, hat es auch schon mal jemand gebastelt.

Begleitung: Eine formschöne Metalldose mit attraktivem Deckel.

Text: „Die Putin-Kerze kombiniert Duftnoten von Kiefer, Erde und Rauch, der über den Städten der Feinde aufsteigt. Es ist ein männlicher Duft, der speziell entworfen wurde, um (…) den Geruch politischer Dissidenten aus Ihrem Haus zu vertreiben.“

Subtext:  Diesmal ausnahmsweise unnötig. Im Gegensatz zu vielen anderen „Putins der Woche“, die in Russland tatsächlich zur mehr oder weniger ernst gemeinten Heldenverehrung verkauft werden, ist das hier ausnahmsweise ein Produkt aus dem imperialistischen Ausland und insofern satirisch gemeint. Glaube ich.

Oben-Ohne-Punkte: Putin ohne Hemd, Kerze ohne Deckel –  10/10

Tür auf, einer raus, einer rein

Attest Visum Moskau Skoromed

Eine Dönerbude, daneben eine Stahltür ohne Türschild. Durch den neonbeleuchteten Gang, vorbei an dem Verschlag, in dem man Schuhe reparieren lassen kann. Im Lösungsmittelgeruch die Treppe rauf: Zweiter Stock, Anmeldung. Hallo, ich brauche ein Gesundheitszeugnis für ein Visum. Ja, Russlandvisum. Ja, auch einen AIDS-Test. Pass und Meldebescheinigung hier, bitte – da hinten steht mein Name auf Kyrillisch.

Und jetzt? Ah, ein Laufzettel. Die Ärzte warten in ihren Räumen, auf dem Gang davor stehen die Kunden, um sich begutachten zu lassen und dann eine Bescheinigung zu bekommen. Rein in die Plastik-Schuhüberzüge und los.

Vierter Stock, Zimmer vier

– „Guten Tag.“
– „Guten Tag. Die Jacke bitte ausziehen.“
– (…)
– „Sie stellen sich da rein, und dann nach links.“
– (…)
– „Nach links.“
– „Ich steh doch links.“
– „Nach links drehen. Und dann (unverständliche Verben im Imperativ)!“
– „Ich weiß nicht, was das heißt.“

Die Frau im blauen Kittel grinst und stellt sich so vor die Tür der Röntgenkabine, dass ich sie sehen kann. Sie guckt mich an, atmet tief ein und hält dann die Luft an. Ah, danke. Alles klar. Die Röntgenmaschine röntgt den Oberkörper, ich atme aus und komme wieder raus.

– „Sind Sie verheiratet?“
– „Ja.“
– „Hatten Sie schon mal Tuberkulose?“
– „Nein.“
– „Okay, fertig.“

Ein Jahr lang gelten die Visa für uns ausländische Mitarbeiter der Moscow Times, und die einzige Konstante von einem Visum zum nächsten ist, dass sich die Vorgaben und Abläufe jedes Mal ändern. Bisher zum Beispiel musste ich selber mich immer nur um den AIDS-Test kümmern, den Rest hat die Personalabteilung organisiert. Warum das diesmal anders ist? „Die Regeln haben sich geändert.“ Das ist fast so schön wie die Rundmail neulich: „Die Einladungsschreiben für eure neuen Visa verzögern sich wegen einer Verspätung.“

Auf der To-do-Liste, gemailt von der Personalabteilung zusammen mit den Adressen drei autorisierter Kliniken, stehen Krankheiten, die nach anderen Zeiten klingen. Tuberkulose. Syphillis. Lepra, ganz biblisch. Eine Freundin übersetzt die Testliste ins Englische, ich erkenne obskure Begriffe aus dem „Medical Love Song“ von Monty Python. „Weicher Schlanker“ – klingt nach Wiener Kaffeehausspezialität. Weitere Gründe, eventuell kein Russland-Visum zu bekommen: Chlamydien und psychische Probleme.

Vierter Stock, Zimmer neun

– „Sie sind aus Deutschland? Ich hatte in der Schule Deutsch, Moment, ein Wort weiß ich noch: ‚der Zug‘!“
– „Ah, ja, toll, ‚der Zug‘. Und ‚der Arzt‘ sicher auch, oder?“
– „Nein, das Wort kenne ich nicht.“
– „Das heißt врач. Doktor. Wie Sie.“
– „Hm. Haben Sie Allergien?“
– „Ja.“
– „Gegen was?“
– „Staub.“
– „Was für Staub?“
– „Hausgemachter.“ (Was weiß ich, wie „Hausstaub“ auf Russisch heißt. Aber „hausgemacht“, damaschni, das Wort steht hier auf jeder Speisekarte. Also: einmal Stauballergie nach Hausmacherart.)
– „Hausgemacht? Also wie hier im Zimmer?“
– „Ja.“
– „Okay, ich schreibe mal ‚keine Allergien‘. Zeigen Sie mal Ihre Hände.“
– (…)
– „Hände umdrehen.“
– (…)
– „Zeigen Sie mal Ihren Bauch.“
– (…)
– „Zeigen Sie mal Ihren Rücken.“
– (…)
– „Hatten Sie schon mal Hautkrankheiten?“
– (Hatte das nicht jeder? Pubertäre Ekzeme in den Armbeugen. Hitzepickel. Zählen Windpocken?) „Nein.“
– „Okay. Sie schreiben hier Ihren Namen hin, ihr Geburtsdatum, das heutige Datum. Und dann hier unterschreiben.“

Das Zögern bei „Arzt“ da gerade, hieß das jetzt, dass sie gar keine Ärztin ist? Edel geschminkt, weißer Kittel – kann auch eine Kosmetikerin gewesen sein, Händezeigenlassen gehört ja nun zu beiden Berufsbildern. Und so ein Türschild, auf dem „Dermatovenerologe“ steht, ist schnell angefertigt. Vielleicht sogar bei dem Schuster im Erdgeschoss, nebenberuflich.

Andererseits: Macht’s einen Unterschied, so lange ich hinterher meine autorisierte Bescheinigung einer autorisierten Klinik bekomme? Immerhin kostet der Spaß hier bloß 1500 Rubel, also 20 Euro. Beim European Medical Center, wo die Ärzte garantiert Ärzte sind und fließend mehrsprachig noch dazu, sollten dieselben Diagnosen 300 Dollar kosten.

Zweiter Stock, Zimmer sechs

– „Guten Tag.“
– „Guten Tag.“
– „Bitte da hin.“
– (…)
– „Einmal eine Faust machen.“
– (…)
– „Festhalten.“
– (…)
– „Moment noch, das Pflaster. So. Das ist alles.“

Das Röhrchen mit dem Blut bleibt im Zimmer, die blauen Plastikschluppen kommen in den Mülleimer an der Rezeption. Was bleibt? Drei Zimmer, drei Frauen – eine blau bekittelt, eine weiß, eine türkis. Eine Bescheinigung, hoffentlich, in ein paar Tagen.

Über die Strahlendosis dieser Röntgenkiste denke ich jetzt jedenfalls nicht nach, sondern lieber darüber, was an diesem Vormittag wohl der Test auf psychische Probleme war. Die Frage nach der Ehe? (Fliegt raus, wer in Tränen ausbricht, hysterisch lacht oder ein Foto von Putin aus der Handtasche holt?). Oder einfach der ganze Prozess?

klinik gesundheitszeugnis füße moskau

#twitspeare – jeden Monat ein neues Shakespeare-Stück lesen

#twitspeare Shakespeare Twitter 2016

Wir machen das jetzt einfach mal: Jeden Monat ein Stück von William Shakespeare lesen und drüber twittern. Ohne festes Ziel, ohne akademischen Anspruch, ohne Vorgabe, wie viele Tweets, wann oder in welcher Sprache. Es geht einfach nur um den Spaß daran, 400 Jahre nach Shakespeares Tod gemeinsam etwas von ihm zu lesen und sich darüber auszutauschen.

Bisher sind wir ein gutes Dutzend Leute, manche kennen sich, manche nicht. Wenn jemand das hier liest und mitmachen will – nur zu, es geht los mit „Much Ado about Nothing“. Oder, wie eine Moskauer Freundin es gestern so schön auf den Punkt brachte: „Ahhhhh, Ken and Em.“

Ja, auch für mich ist die Version mit Kenneth Branagh und Emma Thompson die Verfilmung. Müsste man direkt mal wieder… und dann gab es ja auch noch diese schwarzweiße von Joss Whedon vor ein paar Jahren… und den Theatermitschnitt mit David Tennant.

Hier schwört er (mit schottischem Akzent als Bonus-Feature) in der Rolle des Benedick, dass er sich nie verlieben wird.

Was passiert, wenn jemand sowas am Anfang der Handlung sagt, wissen wir alle. Wie es passiert, dafür nehme ich das Stück gerne mal wieder in die Hand – erst recht, weil Beatrice, das weibliche Gegenstück zu Benedick, von je her eine meiner absoluten Lieblingsfiguren in der englischen Literatur ist.


Russland 1862 – eine Zeitreise mit Umweg über New York

Bevölkerung Pensa Russland 1862 NYPL 8

Pensa muss man nicht kennen. Eine mittelgroße Stadt acht Autostunden von Moskau, mit einer mittelguten Eishockeymannschaft. Historiker kennen Lenins Telegramm an seine Verbündeten in Pensa, in dem er blutigen Terror gegen politische Gegner anordnete. Wer sich für russische Literatur interessiert, weiß vielleicht, dass Michail Lermontow in der Nähe aufgewachsen ist. Die Stadt hat es als einzige in Russland auf die Wikipedia-Liste der Orte mit überdimensionierten Kuckucksuhren geschafft. Das war’s dann aber auch schon wieder.

Was Pensa dennoch besonders macht: Im Jahr 1862 hat sich jemand die Mühe gemacht, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die dort leben, zu dokumentieren. Das Ergebnis sind Fotos, teils ein wenig verwackelt, dafür aber von Hand koloriert – was vor allem die verschiedenen Trachten zur Geltung bringt.

Russen sind auf den alten Aufnahmen zu sehen, aber auch Tataren und Mordwinen. Man kann vergleichen, wie sich die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen kleideten, wie sie sich für den Fotografen aufstellten. Der Bildhintergrund lässt manchmal auch Schlüsse darüber zu, wie sie lebten. An dem Foto ganz oben gefällt mir besonders, dass hinter dem Fenster noch ein paar Menschen zu sehen sind, die wohl auch gerne für die Nachwelt posiert hätten.

Dass diese Bilder jetzt nicht nur zugänglich sind, sondern man sie weiterverbreiten kann, sie bloggen, sie in neue Zusammenhänge stellen, ist der New York Public Library zu verdanken. Sie hat zum neuen Jahr mehr als 180.000 Bilder aus ihren Archiven veröffentlicht, die alle in der Public Domain sind.

Tausende Dokumente zu Russland gibt es in den Bibliotheksbeständen – und einen schön verspielten Suchansatz bei diesem Remix, der das Archivmaterial nach Farbe sortiert.

Museums-Marathon in Moskau – diese Woche kostenlos

Über den Jahreswechsel ist Moskau diesmal doppelt eingefroren: Fast 20 Grad unter null, und dazu der Winterschlaf, der jedes Jahr um diese Zeit die Restaurants, Cafés, Theater und Bibliotheken der Stadt ergreift. Nur einige Museen verfolgen eine entgegengesetzte Strategie: Mit kostenlosem Eintritt locken sie die Moskauer aus dem warmen Wohnzimmer zum Kollektivbibbern in der Schlange am Eingang. Weil sich bei mir in der Redaktion nicht viel tut, heißt der Plan für die ersten Tage des neuen Jahres also:

kscheib Moscow Museums

Natürlich haben wir eine Liste mit angepeilten Museen. Natürlich haben wir eine Route, an der sie liegen. Aber dann mischt sich der Busfahrer ein, mit einer Durchsage. Nächster Halt:

 

„Museum für Orientalische Kunst“

Kein freier Eintritt, ganz im Gegenteil: Das ist tatsächlich noch eines dieser Häuser mit höheren Eintrittspreisen für Nichtrussen, was ich je nach Tagesform dreist oder zumindest unklug finde.

Neben Kunsthandwerk aus dem asiatischen Teil Russlands, Kacheln aus dem Iran, Masken aus Indonesien, Porzellan aus Japan gibt es hier auch ein kleines Zimmer mit Exponaten aus Afghanistan. An der Wand hängt, ohne weitere Erklärung oder Jahresangabe, dieser Teppich. Sein Muster kombiniert Helikopter, Makarow-Pistolen und reaktive Panzerbüchsen. Gewebte Geschichte.

afghanischer teppich museum moskau

 

„Moscow Museum of Modern Art“

In seiner Niederlassung an der Petrowka befasst sich das Museum gerade mit Schreibmaschinen in der Kunst. Ein Raum voller Remingtons, Olympias, Erikas. Ein Raum, in dem sich gerade ein kleiner Junge von seinen Eltern erklären lässt, was Durchschlagpapier ist und wozu das mal gut war. Ein Raum mit Schreibmaschinenmusik.

Und einer, in dem nur ein großer Tisch steht, mit getippten A4-Seiten unter Glas. Es ist Wassili Grossmans „Leben und Schicksal“, von dessen wenigen Manuskripten der KGB fast alle beschlagnahmte. Dieses Exemplar bewahrten Freunde für den Autor auf, als KGB-Leute ihre Wohnung durchsuchten, hängten sie es aus dem Fenster. Nun ist es, Jahrzehnte nach Stalins Diktatur, hier zu sehen.

200 Keystrokes Grossman Manuscript

Eine Etage höher haben verschiedene Künstler je einen Raum gestaltet, in dem von Rostan Tavasiev wohnen ein paar flauschige Wesen. Ein grünes sieht so traurig aus, dass eine Besucherin es spontan umarmt, während dieses hier von der Decke baumelt.

Rostan Tavasiev It's Complicated

„Rate mal, wie das hier heißt“, schreibe ich einer Freundin in Köln und schicke ihr das Bild. „Das ist bestimmt eine Allegorie auf die Erderwärmung,“ kommt als Antwort. „Oben ein ehemaliger Eisberg, der sich in Wasser aufgelöst hat. Unten die Menschheit bzw. deren Industrie. Ich würde also sagen ‚I scream (blue)‘ oder so.“ Respekt, das überzeugt mich sehr viel mehr als der offizielle Titel: „It’s complicated.“

 

„Darwinmuseum“

Eine lange, langsame Schlange für alle, die gratis reinwollen. Eine kurze, schnelle, für die, die doch 100 Rubel zahlen. Ist das jetzt Sozialdarwinismus? Drinnen sind jedenfalls so viele Familien unterwegs, dass die Luft nach Turnhallenumkleide riecht, und zwar am Ende eines Unterrichtstages.

Das Haus ist riesig, für Erwachsene fast komplett uninteressant und auch mit Kindern wäre es nicht mein erster Anlaufpunkt. Okay, das Walross da in der Vitrine ist echt verdammt groß, an ein paar Stellen kann man auch mal was ausprobieren oder anfassen, und für Extrageld gibt es auch was Multimediales. Aber insgesamt ist das hier noch sehr die Schule „Wir stellen ein paar Bücher über Pilze in einen Glaskasten und nennen es ‚Das Königreich der Pilze‘.“

Auf einem Treppenabsatz hat jemand mit viel Alufolie und Krepppapier in Projektwochenästhetik eine Ausstellung zum Thema „Tiere und Süßigkeiten“ gestaltet. Diese Illustration, mit der eine Konfektfirma Kindern Verkleidungstipps gab, war zumindest leidlich lustig:

darwinmuseum moskau

 

„Haus an der Uferstraße“

Anfang der Dreißigerjahre war das Gebäude die Wohnadresse für Regierungsmitglieder und Parteigranden. 24 Stunden lang fließend warmes und kaltes Wasser, hohe Decken, Seidentapeten, Aufzüge (damals eine Attraktion an sich). Die in der hauseigenen Schreinerei entstandenen Möbel gehörten interessanterweise der Hausverwaltung und wurden von den Bewohnern bloß gemietet.

Dann kam die Zeit der „Säuberungen“, und viele der Bewohner wurden verschleppt, gefoltert, ermordet. An sie erinnert heute ein kleines Museum, das sowohl den Alltag in diesen Wohnungen dokumentiert als auch, soweit man es denn kennt, das Schicksal der Opfer von Stalins Terror und ihrer Familien.

haus am ufer moskau museum

 

Ilja-Glasunow-Galerie

Von Ilja Glasunow hatte ich noch nie gehört, und nach dem Besuch in diesem Museum hätte das auch gern so bleiben können. Er malt viel, in allen möglichen Stilen, und ich bin mir sicher, es gibt einen Markt dafür: Komm, noch ein Puschkin vor Stadtkulisse, noch ein Dostojewski, noch ein Birkenwäldchen, noch ein armes russisches Mütterchen im Schnee. Noch ein großformatiger Heiliger, noch ein größtformatiger Jesus.

All das hängt hier an den Wänden, wo man es doch genau so gut und im selben Stil einfach irgendwo auf eine Motorhaube airbrushen könnte. Stereotyper Brachialkitsch, gerne in Petersburger Hängung, damit es einen auch garantiert erschlägt. Man kann hier herkommen, wenn man schon immer mal wissen wollte, wie dieses leuchtend türkise Gebäude gegenüber dem Puschkinmuseum von innen aussieht. Man kann es aber auch einfach lassen.

Ilja Glasunow Galerie Moskau

 

Manege

„Vom Traum zum Start“ heißt die Ausstellung zum sowjetischen/russischen Raumfahrtprogramm, das ist aber auch schon das einzige bisschen Poesie, das die Manege sich hier gönnt. Willkommen in der Schautafelhölle, mit den Unterabteilungen „Kinder basteln Panzer und Kampfflugzeuge“, „Wie viele Fotos bekommen wir auf dieser Stellwand unter?“ und „Ich hab hier mal was mit Weltraum gemalt, wollte es mir aber nicht selbst ins Wohnzimmer hängen.“

Moskau Manege От мечты до старта

Das eine gut ausgeleuchtete Objekt in der Ecke, um das sich tatsächlich Menschen versammelt haben, staunen und lachen, ist ein Automat, der Astronautennahrung verkauft: Kohlsuppe, Püree mit Fleisch, Quark mit Obst. 300 Rubel kostet die Tube.

 

„Moscow Museum of Modern Art“

Noch mal MMOMA, diesmal aber das Gebäude am Gogoljewski-Boulevard. Auch wenn man nicht viel weiß über Welimir Chlebnikow, kann man gut eine Runde drehen durch diese Ausstellung, die auf seinen Werken basiert.

moscow museum of modern art

So verspielt und verrätselt wie seine Gedichte wirken auch einige der Illustrationen und Installationen auf den zwei Etagen. Viele Vogelmotive, aber auch Installationen wie diese, die an mit Brausepulver gefüllten Strohhalme erinnert.

Noch bis Ende dieser Woche gilt der freie Eintritt in vielen Moskauer Museen. Eine Auswahl gibt es hier, eine ausführliche Aufstellung hier. Im Zweifel aber besser noch mal auf der Museums-Website nachsehen oder kurz anrufen.

(Danke an Matt für die Hilfe beim Identifizieren der Waffen auf dem afghanischen Teppich, und großen Respekt an Anja für die Ausdeutung der blauen Flauschkunst.)

Mein Leben als Futterlieferantin für Twitters Fake-Accounts

Im Dezember waren wir ein Wochenende in Kasan, und auf dem Flug dahin gab es bei Aeroflot ein Sandwich, das aufgeklappt so aussah:

Seit Russland kaum noch Lebensmittel aus Westeuropa ins Land lässt, ist Käse hier ein beliebtes Seufz-Thema. Dass der Tweet einiges an Resonanz fand, hat mich also eher gefreut als gewundert. Einige Replies, so um die 180 Retweets und ein paar hundert Like-Sternchen Like-Herzchen – darauf hatte es sich nach drei, vier Tagen eingependelt, dann ließ das Interesse nach. Alles ganz normal.

Dann kam Silvester, und während ich mich aufs Raclette bei den Nachbarn freute, schien das olle Käsebrot plötzlich wieder neuen Leuten zu schmecken. Es hagelte Interaktionen, innerhalb von wenigen Stunden. Ins neue Jahr ging der Tweet schon mit mehr als 200 Retweets/1000 Likes, inzwischen sind es rund 300/2000. „Irgendwer mit vielen Followern muss den weiterverbreitet haben,“ dachte ich – und lag falsch. Alle durchgeguckt, kein großer Multiplikator dabei.

Stattdessen haben die Accounts, die sich neuerdings an diesem Tweet abarbeiten, einiges gemeinsam:

– extrem wenige Follower
– extrem wenige bisherige Tweets
– keine Twitter-Bio (den Bereich, wo Nutzer etwas über sich selber schreiben)
– oft kein Profilbild, nur Twitters voreingestellten Eierkopp
– die meisten haben Frauennamen – Viktoria, Lisa, Julia, Viktoria, Lisa, Julia
– die meisten ihrer Tweets sind Retweets

Die Schlagzahl, in der diese ganzen Accounts sich an dem Aeroflot-Käsebrot abreagieren, hat mehrere Folgen. Mir spammt es die Übersicht voll, weil alle paar Minuten neue Reaktionen gemeldet werden:

käsebrot 1

Die echten Twitterer, die aus ehrlichem Interesse auf den Tweet reagiert haben, bekommen ebenfalls einen Teil dieses Reaktionsmülls ab:

Und, wichtigste Folge: Es wird ziemlich schnell offensichtlich, dass hinter diesen Twitter-Nutzern keine Menschen stecken, sondern ein Automatismus. Einer, der reihenweise Accounts anlegt und sie mit minimalem Aufwand leidlich echt aussehen lässt.

Dazu füttert er sie mit einer Handvoll unverfänglicher Tweets, die sie automatisch retweeten. Kleine Stichprobe bei den ganzen ViktoriaLisaJulias, und man findet schnell die Übereinstimmungen. Einige (etwa sie und sie) haben das hier retweetet:

Andere (zum Beispiel sie und sie) das hier:

Sogar Tweets von einem der russischen Twitter-Mitarbeiter müssen als Füllmasse herhalten. Vor allem aber besteht die Timeline dieser Hunderte von Accounts aus Retweets einer Person (der sie natürlich auch so gut wie alle folgen): Sasha Spilberg.

Sie scheint hier eine große Nummer bei Youtube zu sein, fast drei Millionen Menschen haben ihren Kanal abonniert. Bei Twitter hakt es allerdings bei Sasha noch ein wenig, erst eine halbe Million Fans. Aber da scheint ja gerade jemand dran zu arbeiten, wie diese Statistik von Twittercounter zeigt:

sasha spilberg twittercounter

Bis zum 30. Dezember stetiges, organisches Wachstum, ab dem 31. dann ein unvermittelter Sprung in die Höhe. Das ist der Tag, an dem sie begann, die automatisierte Aufmerksamkeit für meinen Käsebrot-Tweet. Offenbar hat also jemand den Vorsatz, zum neuen Jahr Sasha Spilbergs Followerzahl künstlich hochzutreiben. Schwer vorstellbar, dass das ein professionelles Social-Media-Team so plump tun würde. Ein Fan also? Oder jemand, der ihr was will? (Wie war das damals noch mal mit den Fake-Fans der FDP?)

Bei Twitter gemeldet hab ich die Fakes, bisher hieß die Rückmeldung „wir untersuchen das“. Aber wer weiß: Wenn sie schon die Fake-Accounts nicht stillegen, basteln sie ja vielleicht zumindest an einer Funktion, die solche Aktionen weniger nervig macht: „Benachrichtigungen für diesen einen Tweet abschalten.“

Blogstatistik 2015 – ihr sucht was?

kscheib blogstatistik 2015

Wer mit WordPress bloggt, bekommt in diesen Tagen eine Statistik gemailt: Soundsoviele Leser im vergangenen Jahr, das ist soundsooft das ausverkaufte Sydney Opera House! Schau mal, das war Dein bester Post! Und Donnerstage sind Deine Freunde! Das soll zur Motivation gereichen.

Viel Motivierender finde ich ja, zu gucken, wen dieses Blog im vergangenen Jahr alles angezogen hat. Menschen mit obskuren Suchanliegen haben hier ein Zuhause gefunden – jedenfalls für den kurzen Moment, bis sie gemerkt haben, dass der Link, den ihnen Google da vorgeschlagen hat, leider auch keine vertiefenden Informationen bietet zu „punkt vor strich klammer comic art“, zu „ceci nest pas schriftart“ oder zu „sherlock molly sex“ (echt jetzt?).

Es steckt Poesie in diesen einsamen Anfragen – jede von ihnen hat nur einen einzigen Menschen hierher geführt. Und weil wir in Russland Weihnachten noch vor uns haben und das Gefühl des guten Willens stark ist, folgt nun der Versuch, einigen dieser Suchenden etwas verspätet doch noch den Weg zu weisen.

„umgucken“ – Hier im Blog? Gerne, fühl Dich wie zuhause. Oder draußen? Auch jederzeit.
„ohne hemde“ – Soll das „ohne Hände“ heißen? Dann Vorsicht beim Radfahren.
„metapher eichhörnchen“ – „mühsam ernährt sich“. Gerngeschehen.
„russische milf“ – Nun ja. Hier entlang, vielleicht?
„notenblatt leer männerchor“ – Ich rate zum Kanon. Vielstimmig und geht auswendig.
„mal was anderes googeln“ – Glückwunsch, erfolgreich erledigt. Du kleiner Rebell, Du!
„sowjetischer dokufilm lenin mit mütze“ – kenn ich keinen, aber das hier ist interessant.
„schweinefüße chinesisch“Nina Trentmann weiß mehr.
„wie viel geld kostet 1 gramm äpfel“ – Ein Kilo kaufen, Preis durch 1000 teilen. #profitipp
„was ist sehnsucht“ – Hunger, nur im Herz statt im Bauch.
„playmobil russe“ – Hm. Sowas hier?
„gulag witze“ – Witze hier, als Hintergrundlektüre lohnt sich „Hammer and Tickle“
„kann man das leitungswasser in transsilvanien trinken?“ – Wasser, Blut – ich wäre da vorsichtig.

War das jetzt seltsamer als oder genau so abwegig wie in den vergangenen Jahren? Ich bin mir unschlüssig:

Blogstatistik 2014 – ihr sucht was?
Blogstatistik 2013 – ihr sucht was?

2015 – das Jahr in Büchern

kscheib Bücher 2015

Gute Vorsätze so auszuwählen, dass man sie auch einhält – das ist die Kunst. Meine Lesevorsätze für 2015 hießen also:

1. Mehr Bücher von russischen/sowjetischen Autoren – um das inzwischen nicht mehr ganz so neue Heimatland noch besser kennenzulernen.

2. Mehr Kurzgeschichten – weil „The Assassination of Margret Thatcher“ von Hilary Mantel letztes Jahr so viel Spaß gemacht hat, und weil einem Kurzgeschichten viel zu selten begegnen, wenn man sie nicht sucht.

3. Mal wieder was auf Französisch lesen – um zu gucken, ob es noch geht.

Was fehlt auf dieser gebloggten Leseliste? „Londongrad“, das ich nach den ersten Seiten abgebrochen habe (Darf man das? Sollte man sogar? Gerne hier mitreden), weil es so pseudodramatisch rüberkam wie eine Sendeplatzfülldoku über Hitlers Hunde. Und allerlei Dinge, die ich zwar gerne gelesen habe, die der Form nach aber kein Buch waren:

Iterating Grace“ zum Beispiel, diese geheimnisvolle Erzählung, die einige Leute in den USA plötzlich als Band im Briefkasten hatten. Fanfiction, zu „Sherlock“ und, aus Gründen, zu „The West Wing“. Einen Stapel Kurzgeschichten zum Thema „Conflict“, als Jurorin für einen Wettbewerb von Red Line. (Der Siegertext, „Don’t Go Darling Boy“ von Sophie Petit-Zeman, war auch mein Favorit – lesen lohnt sich. Alle Geschichten, die es in dieser Runde auf die Shortlist geschafft haben, hier zum Nachlesen.)

Der Rest waren aber tatsächlich alles Bücher. Hier also die Liste – per Klick auf den Titel lassen sich Details ausklappen.

“Leuchtspielhaus” von Leif Randt.
leuchtspielhaus „Schimmernder Dunst über Coby County“ hab ich vor ein paar Jahren auf diesen Auftritt hin gekauft und gemocht; „Leuchtspielhaus“ liest sich ähnlich gut. Eine Londoner Hipster-Künstler-Modedesigner-Szene, die vor allem aus Nicht-Briten besteht. Darüber schwebt der Mythos um Bea, so eine Art Mischung aus Banksy und Godot, die in der Stadt Kunst hinterlässt, damit die Hipster-Künstler-Modedesigner sie dann finden und ausdeuten können. Ich weiß nicht, ob eine der Figuren auch nur einmal im ganzen Buch einen authentischen Gedanken denkt oder einen Satz sagt, ohne dessen Wirkung auf andere zu reflektieren. Aber die Sätze sind so satirisch-schön, wie sie oberflächlich sind. Existenzkrise: „Alle Katzen, die ich zeichne, scheint man schon auf T-Shirts gesehen zu haben.“ Ein Tag im Park: „Die Luft riecht gebraten; ein Pakistani verkauft eigengewerblich Würstchen.“ Zukunftspläne: „Dann male ich größere Pandas.“

 

“A History of the World in 10½ Chapters” von Julian Barnes.
history of the world barnesEin Holzwurm erzählt, wie er sich auf die Arche geschmuggelt hat. Ein Schauspieler schreibt vom Dreh im Dschungel Briefe an seine Freundin. Eine Frau steigt in ein Boot und fährt los, um der Apokalypse, dem Atomkrieg oder sowas Ähnlichem zu entkommen. Die Geschichten sind nicht nur jede einzeln klasse, sondern erst recht, wenn man so ab Nummer vier oder fünf immer mehr Verbindungen und gemeinsame Themen entdeckt: Noah eben mit seiner Arche. Boote überhaupt. Gott. Bitumen. Holzwürmer. Freier Wille. Oft ist das sehr geschickt von der einen Geschichte in die andere gestrickt – und manchmal auch demonstrativ-dreist noch schnell ein Verweis drangeklatscht, im letzten Satz. Ausgelesen und am nächsten Tag schon weiterverliehen.

 

“The Memorial” von Christopher Isherwood.
isherwood the memorialEin Buch im Taxi zum Flughafen in Moskau aufschlagen, am Gate weiterlesen und die letzte Seite in dem Moment umblättern, wo die Räder des Fliegers Düsseldorfer Boden berühren. So war das mit diesem Isherwood, der seine Figuren immer wieder aus anderen Blickwinkeln zeigt, dabei durch die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg springt und zwischen Wärme und Satire diesen Ton trifft, den ich an Isherwood so mag. Bitte nicht von dem Klappentext abschrecken lassen, den Random House dem Buch verpasst hat. Viel besser trifft es diese Rezension: „The plot of ‚The Memorial‘ can be discussed very briefly: it doesn’t have one. It doesn’t need one. The book proceeds, not forward in time, but inward by layers. Isherwood has a wonderful gift of getting inside people.“

 

“Der überflüssige Mensch” von Ilija Trojanow.
der überflüssige menschInnehalten, ein paar Schritte zurücktreten und einen analytischen Blick auf das werfen, was wir für gegeben halten: Ilija Trojanow macht das in diesem Essay mit dem Kapitalismus und seinen Auswirkungen auf die Menschenwürde. Das ist oft interessant, manchmal eher nölig (alberner Seitenhieb gegen die englische Sprache) und, in seiner Kürze, eher eine Diagnose als eine Anregung, wie etwas anders laufen könnte. Am interessantesten war darum, was ich nicht aus dem Buch, sondern beim Drumherumlesen gelernt habe: dass der „überflüssige Mensch“ eine populäre Figur in der russischen Literatur ist.

 

“Boy Meets Boy” von David Levithan.
boy meets boyEinen Schluck „suspension of disbelief“ nehmen und schon kann man sich verlieren in dieser Highschool-Liebesgeschichte zwischen Paul und Noah. Nötig ist der Schluck, weil in ihrem Heimatort Homophobie kein Thema ist – nicht mal Boy Scouts gibt es hier, die örtliche Abteilung hat sich abgespalten und heißt jetzt Joy Scouts. (Das Buch ist aus dem Jahr 2003, inzwischen sind die einst recht homophoben Boyscouts ein bisschen weiter.) Nach ein bisschen Eingewöhnung ist das hier jedenfalls ein Jugendbuch mit vielen originellen Figuren, das man gut lesen und noch besser jemandem im Highschool-Alter schenken kann.

 

“Pnin” von Vladimir Nabokov.
nabokov pninWie gemein, wie toll beobachtet, wie ungewöhnlich formuliert! Eines dieser Bücher mit so vielen cleveren Wendungen und Anspielungen, dass man ständig zitieren möchte. Die Hauptfigur wird gerade zu Beginn oft als verpeilt und seltsam vorgeführt, ehe man seine komplexeren Seiten kennenlernt. Dazu satirische Seitenhiebe auf den akademischen Betrieb – das war nicht mein letzter Nabokov, so viel steht fest.

 

“What If” von Randall Munroe.
what if xkcdJa, der Randall Munro von xkcd hat das Buch geschrieben, es ist aus einem Nebenprojekt entstanden, bei dem ihm Leute komplett bekloppte Fragen stellen und er sie ernsthaft und nach allen Regeln der Wissenschaft beantwortet: Wenn alle Leute auf der Welt einen Laserpointer auf den Mond ausrichten, ändert sich dann dessen Farbe? (Nö.) Wie hoch kann ein Mensch einen Gegenstand werfen? (14 Giraffen hoch, wenn es ein Profisportler ist.) Was passiert, wenn man das Periodensystem nachbaut aus Ziegelsteinen, bei denen jeder aus dem entsprechenden Element ist? (Einiges, aber spätestens ab Phosphor wird es unerfreulich.) Das beste Kapitel spielt durch, was passiert, wenn man die Ozeane der Welt leerlaufen lässt: Weltherrschaft für die Niederlande!

 

“We” von Yevgeni Zamyatin.
zamyatin weWie der Nabokov weiter oben ein Buchclubbuch, und ja: Mit den richtigen Leuten funktioniert das Prinzip, sich die Buchauswahl aus der Hand nehmen zu lassen. Vor allem, wenn die mehr Ahnung von russischer Literatur haben als ich (also ungefähr alle Leute in Moskau). Dieser totalitäre, dystopische Staat, dessen Bewohner keine Menschen mehr sein dürfen sondern nur noch Ziffern, und der nun daran arbeitet, als letztes Problem auf dem Weg zum uniformen Glück noch die Vorstellungskraft zu vernichten – das liest sich sehr eindringlich, wenn man zwischen Betonklötzen entlang geht oder mit der Metro unter der Stadt entlang rattert.

 

“The Bedroom of the Mister's Wife” von Philip Hensher.
hensher bedroom of the mister's wife„Der war in der Weihnachts-Promi-Staffel von University Challenge so schlau und sympathisch“ ist vielleicht kein ganz gängiger Grund, einen neuen Autor auszuprobieren. Aber auch kein schlechter. Denn solch einen Band Kurzgeschichten kann bestimmt nicht jeder schreiben, jedenfalls nicht so, dass die Geschichten gelingen: eine russische Emigrantin in Cambridge, die ihren Kühlschrank hasst, ein junges Paar, das mit dem Hauskauf das Böse in sein Leben holt, zwei Männer, die sich über eine ominöse Wer-mit-Wem-Übersicht unterhalten, die den einen seine Beziehung gekostet hat. Manches ist autobiografisch angehaucht, einmal läuft Ulrike Meinhof durchs Bild, und immer ist die nächste Geschichte wieder ganz anders. Und die Sprache so, dass ich gelegentlich besonders gelungene Stellen abtippen oder -fotografieren und wem anders schicken musste, zum Mitfreuen. Ganz abgesehen davon, dass ein Autor, der sich bei Twitter meldet, wenn ein Leser was nicht versteht, so falsch nicht sein kann.

 

“Adibas” von Zaza Burchuladze.
ADIBAS_coverIm Vordergrund Party und Konsum, im Hintergrund Krieg. „Fiddling while Rome burns“ heißt das Prinzip das wohl im Englischen, auf Deutsch wäre es vielleicht der „Tanz auf dem Vulkan“. So ganz rund hat sich dieses Buch beim Lesen zwar nicht angefühlt, aber Zaza Burchuladze probiert immerhin viel aus, spielt mit Marken und Logos, mit verschiedenen Text-Genres einschließlich Skype-Chat und Horoskop. Dazu noch eine Ladung „Wenn ihr glaubt, meine Sprache ist obszön, solltet ihr mal überlegen, wie obszön Krieg ist.“ Nicht so richtig neu, aber eindringlich.

 

“Die Sache mit Tom” von Rüdiger von Fritsch.
die sache mit tomRüdiger von Fritsch ist unser deutscher Botschafter hier in Moskau, und nach allem, was man von ihm so mitbekommt zu Themen wie Journalismus, Pressefreiheit und Russland-Berichterstattung, fühle ich mich gut von ihm vertreten. Vor ein paar Jahren hat er aufgeschrieben, wie er 1974, kurz nach dem Abitur, seinen Cousin aus Ostdeutschland herausgeschmuggelt hat. Der Gedanke, dass jemand, der später für den Bundespräsident arbeiten und BND-Vizechef werden würde, in jungen Jahren Pässe gefälscht hat und eine Gefängnisstrafe riskiert, um jemandem zur Freiheit zu verhelfen, gefällt mir.

 

“Halfway to Hollywood” von Michael Palin.
halfway to hollywood palinDer zweite Band der Palin-Tagebücher, wieder im Urlaub gelesen, wieder genau richtig dafür. Beim Tagebuchformat kann man so schön leicht ein- und aussteigen, es lohnt sich also, das Buch auch mal nur für zehn Minuten in die Hand zu nehmen und zu lesen, was ein intelligenter, warmherziger, lustiger Mensch über sich und seine Zeitgenossen schreibt. Ausgelesen und sofort Band drei bestellt, für den nächsten Urlaub.

 

The Children Act” von Ian McEwan.
the children act ian mcewanUnangenehmes Gefühl, ein Buch für unseren Buchclub vorzuschlagen und dann die einzige zu ein, der es so richtig gefällt:  ein moralischer Konflikt, eine interessante, komplexe Hauptfigur in einer Sinn- und Lebenskrise, Musik als Gemeinsamkeit über Generationen hinweg und die kluge, klare McEwan-Sprache – für mich hat’s funktioniert, auch wenn ich es schwer finde, genauer zu erklären, warum. Und „Down by the Sally Gardens“, die Schlüsselmelodie des Buchs, kann man auch gut mal kennen.

 

“The Literature Express” von Lasha Bugadze.
the literature expressWer jemals mit einem Stipendium im Ausland war, bei einem Seminar mit internationalen Teilnehmern mitgearbeitet hat oder auch nur vage verfolgt, was für Kulturprojekte so ausgelobt und gefördert werden, wird an diesem Buch seine helle Freude haben. Denn es gibt so viele Momente zum Wiedererkennen in diesem Band, in dem eine nicht näher benannte deutsche Kulturorganisation (in meinem Kopf: das Goetheinstitut) auf die Idee kommt, eine Gruppe Schriftsteller aus verschiedenen Ländern mit dem Zug durch Europa tingeln zu lassen. Buchmessen und latent anstrengende Lesungen. Gruppendynamik und permanentes Wer-mit-wem-Getuschel. Deutsche Reiseleiter und halbverkrampfte Tanzabende. Zu überlegen, was an diesem Buch Fiktion ist und was Fakt, gehört zum Lesegenuss dazu. Auch, wenn man nicht genau weiß, ob man gerne mitgereist wäre oder dabei doch den Rappel bekommen hätte.

 

“The Imperfectionists” von Tom Rachman.
the imperfectionistsEine doppelte Empfehlung, von gleich zwei Freundinnen, und völlig zu Recht. Es geht um eine kleine Zeitung in Italien, die auf Englisch erscheint – natürlich fällt es da schwer, im Kopf keine Parallelen zu meinem aktuellen Arbeitgeber zu ziehen. Die ganzen Journalistenmacken fand ich gut und glaubwürdig porträtiert, und die Mischung aus versäumten Chancen, fehlender Innovation und inkompetenter Geschäftsführung, die letztlich zur Schließung des Blattes führen, hat man so oder ähnlich auf dem deutschen Medienmarkt auch schon öfter erlebt. Nach dem Lesen ein kurzes Stoßgebet, dass die Moscow Times noch ein paar Jährchen vor sich hat.

 

“Georgisches Reisetagebuch” von Jonathan Littell.
georgisches reisetagebuchKein Buch bloß über, sondern direkt aus dem Georgien-Krieg im Jahr 2008. Der französisch-amerikanische Schriftsteller Jonathan Littell war damals auf beiden Seiten unterwegs und beschreibt hier nun  die Strategien der zwei Konfliktparteien, ihren unterschiedlichen Umgang mit Journalisten und das tagtägliche Kleinklein aus Chaos, Taktieren und Feilschen in der Region. Ein kleiner Band, keine 60 Seiten, aber extrem nah dran und darum lesenswert.

 

“Journey to Karabakh” von Aka Morchiladze.
journey to karabakhGeplant war ein Drogendeal, stattdessen geraten zwei Freunde nach Karabach und dort zwischen die Fronten. Die folgende Geschichte ist manchmal drastisch und oft überraschend leicht. Bemerkenswert auf jeden Fall, dass Gio, die Hauptfigur, als Gefangener im Krisengebiet freier in seinen Entscheidungen ist, als er es zuhause unter der Fuchtel seines Vaters war. (Vor diesem Buch noch mal ein paar Details zu Armenien, Aserbaidschan und Karabach nachzulesen, hilft.) 

 

“Lingo” von Gaston Dorren.
lingo„A language spotter’s guide to Europe“ soll es sein, genau das richtige Buch für einen Sprachnerd also. In jedem Kapitel nimmt sich Dorren eine andere Sprache vor und zeigt eine ihrer Macken. Die vielen, nicht immer schmeichelhaften Versionen des Italienischen für „Frau“ (Donnina? Donnetta? Donnicina?). Das schiere Tempo, in dem Spanier ihre Silben raushauen. Nebenbei gelernt: Bis in die Sechzigerjahre hatten schwule Männer in England ihre eigene Geheimsprache namens Polari. Norweger haben ein Wort für ein Bier, das man im Freien trinkt: Utepils. Und „Quark“ kommt tatsächlich vom Sorbischen „twarog“ – offenbar also ein direkter Verwandter des Russischen „tworog“. 2016 soll das Buch auf Russisch erscheinen.

 

“Jeeves in the Offing” von P.G. Wodehouse.
jeeves in the offingDer erste „Jeeves“-Band hat mich letztes Jahr ja nicht so mitgerissen, den hier fand ich schon viel besser. Was vermutlich weniger an den beiden Geschichten liegt als daran, dass man sich an diese Figuren, ihre Marotten und die Sprache, in der von ihnen erzählt wird, erst mal gewöhnen muss. Dann macht das Wiedererkennen tatsächlich Freude – erst recht als leichte kleine Urlaubslektüre, zu großen Teilen gelesen auf allerlei U-Bahn-Fahrten durch London.

 

“Die Reise nach Armenien” von Ossip Mandelstam.
reise nach armenienZu konfus, zu verwirrend, zu viel wildes Assoziieren: Bei manchen dieser kurzen Skizzen aus den 1930ern wusste ich am Ende immer noch nicht recht, worum es geht. Ja, das ist sicher alles originell formuliert und sprachlich liebevoll poliert – aber Lesefluss gibt es halt keinen. Also: Mandelstam-Gedichte weiterhin jederzeit gerne. Mandelstam-Prosa lieber nicht noch einmal.

 

“Fathers and Sons” von Ivan Turgenev.
turgenev fathers and sonsHat ein bisschen gedauert, bis ich mit den Figuren warm geworden bin – und so richtig hat mich bis zum Schluss nicht berührt, was aus denen allen wird. Ja, der Generationenkonflikt steht für den Umbruch in Russland zu Turgenevs Zeiten, versteh ich alles, aber Bazarov – dieser grundzynische Nihilist, der alles in Frage stellt – hat mich wirklich lange genervt. Trotzdem liest sich das Buch gut, wegen Turgenevs Sprache und dem, was er mit seinen Charakteren so veranstaltet: Der Nihilist zum Beispiel darf nicht Nihilist bleiben, sondern ist zunehmend für die großen Gefühle zuständig, bei sich und bei anderen. Dazu ein paar typisch russische Orte und Themen – Birkenwäldchen, Landsitz, Duellanten. Sommerlektüre. 

 

“The Penguin Book of Russian Poetry” von Robert Chandler, Boris Draalyuk und Irina Mashinski (Hrsg.).
penguin book of russian poetryEines der Bücher, an dem ich in diesem Jahr die meiste Freude hatte. Weil es so schön langsam ging – Gedichte kann man ja nicht einfach so runterlesen wie einen Krimi, oder ich kann es jedenfalls nicht. Also sind mit diesem Buch Erinnerungen verbunden an viele halbe Stündchen auf dem Balkon und ans Abtippen, wenn etwas besonders griffig war. Zusätzlich zu den Gedichten gibt es gut geschriebene, pointierte Kurzbiografien der einzelnen Autoren. Was hängen bleibt von dieser geballten Ladung russische Dichtung, von diesem Band mit seinen über 500 Seiten: Eindrücke davon, was das Leben dieser Autoren geprägt hat, durch die Jahrhunderte, nämlich Orthodoxer Glaube, Natur, Familie, Liebe – und immer wieder politische Verfolgung.

 

“Letters to Georgian Friends” von Boris Pasternak.
letters to georgian friends pasternakFür Pasternak war, wenn man diese Briefe liest, Georgien zeitlebens das Gelobte Land. Weit weg von Moskaus Zwängen, in der Gesellschaft anderer Schriftsteller und ihrer Familien tankte er hier Kraft. Nachdem seine beiden engsten Freunde aus diesem Kreis bei Stalins „Großer Säuberung“ ermordet werden, schreibt er vor allem immer wieder an Nina, die Witwe von Titian Tabidze. Lesenswert nicht nur wegen der Einblicke in Pasternaks Arbeitsalltag zwischen Gedichten, Übersetzerarbeit und später „Doktor Schiwago“, sondern auch dafür, mit welcher Hingabe er Freundschaften pflegt und feiert.

 

“Ein Monat auf dem Lande” von Iwan Turgenew.
ein monat auf dem landeNoch mal Turgenew, diesmal in der deutschen statt in der englischen Übersetzung. Und nein, das war keine bewusste Entscheidung, sondern nur der Tatsache geschuldet, dass die Moskauer Läden eher englische Versionen anbieten, dieses Buch hingegen in Deutschland gekauft ist, ganz stilecht als Reclamheft. Das Setting ist ähnlich wie bei „Fathers and Sons“ (Russland, obskurer Landadel, Sommer), aber dieses Stück hat mich beim Lesen mehr gefesselt. Dabei hat sicher geholfen, dass ich die ganze Zeit die Eindrücke aus London vor Augen hatte, aus der rundum gelungenen Aufführung einer Patrick-Marber-Bearbeitung dieses Stoffes. „Three Days in the Country“ statt ein ganzer Monat – das hat dem Stück gut getan und mir beim Lesen viele Bilder im Kopf beschert.

 

Travelling to Work: Diaries 1988-1998” von Michael Palin.
travelling to work michael palinDrei Bände Palin-Tagebücher à rund 500 Seiten, gelesen innerhalb von anderthalb Jahren, von Monty Python über „Ein Fisch namens Wanda“ bis hin zu seinen Reise-Dokus. Weil der Mix aus Zeitgeschichte und Anekdoten, aus Entertainment-Industrie und Palins Handwerk als Autor, Moderator und Schauspieler sich einfach so gut liest. Wie sich dabei das Leichte, Lustige immer wieder mit dem Ernsten mischt, zeigt ein Tagebuch-Eintrag aus dem Jahr 1996: Als Palins Frau Helen ein Hirntumor entfernt wird, hat der Chirurg beim Nachsorgetermie eine Bitte: Ob er vielleicht mit Palin für ein Foto posieren könnte, als Gumby? Alle Hirnchirurgen seien schließlich große Gumby-Fans, wegen dieses einen Python-Sketches. Das Foto ist dann auch tatsächlich entstanden. Und sobald Palins vierter Band erscheint – das müssten dann die Jahre 1999-2009 sein – kommt er auch wieder auf die Leseliste.

 

“Heavy Water” von Martin Amis.
martin amis heavy waterEine Welt, in der die Mehrheit schwul ist (oder, mutmaßlich, lesbisch, aber es tauchen nur männliche Paare auf) und mit Befremden auf die paar Heten guckt, die da plötzlich für ihre Rechte einstehen. Eine Unterhaltungsindustrie, die total auf Gedichte abgeht, während ein Autor von SciFi-Filmen es zu nichts bringt. Ein Mann, der seine Frau hintergeht – „mit sich selbst“, wie es der Klappentext so taktvoll formuliert. Konstruiert, ja, aber es funktioniert. Nur mit der letzten Geschichte hab ich gekämpft, weil sie lautmalerisch zeigen will, dass da ein Kind spricht, dessen Akzent halb britisch und halb amerikanisch ist. „Jagob is dodally obzezzed by durdles, dordoizes, vrags, doads, labzders, grabs, and all zords of zlimy and weird-shabed rebdiles.“ Das hat sich dann doch mehr nach Gimmick als nach einem Kunstgriff angefühlt.

 

“Going Solo” von Roald Dahl.
going solo roald dahlEin Flohmarktfund. Den ersten Band von Dahls Autobiografie, „Boy“, hatte ich vor Jahren mal gelesen und gemocht. In diesem Buch erzählt er von seinem Leben als Shell-Mitarbeiter in Afrika in den 1930er Jahren, vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und von seinen Einsätzen als Kampfpilot – alles mit diesem Roald-Dahl-Blick, der ihn auch zu so einem tollen Kinderbuchautor macht: Neugier, Staunen, Freude am Fabulieren. Gewundert hat mich nur, dass dieser Band als Buch für junge Leser vermarktet wird: bunt gezeichnetes Cover, „superb stories, daring deeds, fantastic adventures“ als Anreißer auf der Rückseite, erschienen bei Puffin, der Kindersparte von Penguin. Von Dahls detailliert beschriebenen Kriegsverletzungen bis hin zu dem, was er an Wissen über Frontverläufe, Hitlerdeutschland und das Vichy-Regime voraussetzt, ist das hier vielleicht was für Jugendliche, die sich für Geschichte interessieren. Aber sicher kein Kinderbuch.

 

“The Time Traveller's Guide to Medieval England” von Ian Mortimer.
time travellers guideEine Alltagsgeschichte des 14. Jahrhunderts, mit all dem, was sie einem als Journalist so einbimsen übers Reportageschreiben: Was sieht, hört, riecht man? Vieles schildert Mortimer so anschaulich, dass es bei mir auf Dauer hängengeblieben ist: Der Geruch von Abwasser, wenn ein Wanderer sich damals einer großen Stadt näherte – in Exeter hieß der Bach, in den all das geleitet wurde, ehrlicherweise gleich „Shitbrook“. Die Stille des Alltags, und wie sehr dadurch Musik zur Geltung kam. Bloß die Kapitel über Krankheit und mittelalterliche Chirurgie waren so anschaulich, dass ich einige Absätze überspringen musste.

 

“Prater Violet” von Christopher Isherwood.
prater violet isherwoodReicht „ist halt von Christopher Isherwood“ als Begründung, warum auch das hier wieder ein großer Lesegenuss war? Der Autor Isherwood macht sich liebevoll über seinen Protagonisten Isherwood lustig und verbindet außerdem eine Geschichte über die Filmindustrie in den Dreißigern mit Hitlers dräuendem Aufstieg, der politischen Situation in Österreich und der britischen Haltung irgendwo zwischen „da muss man doch was machen“ und „was geht uns das an?“. Und all das mit diesen Isherwoodbeobachtungen: „The King’s Road was wet-black and deserted like the moon. It did not belong to the King or to any human being. The little houses had shut their doors against all strangers and were still, waiting for dawn, bad news and the milk.“

 

“Soviets” von Danzig Baldaev & Sergei Vasiliev.
Soviets baldaev vasilievKarikaturen und Fotografien aus Sowjetzeiten, die Zeichnungen offen kritisch, die Bilder eher zeitgeschichtliche Dokumente. Zusammen sind das zwei interessante Blicke auf den Alltag in der UdSSR, auf Arbeit und Korruption, Kirche und Staat, auf Machthunger hier und sehr realen Hunger dort. Viele der Karikaturen sind mutig, andere legen einen krassen Antisemitismus an den Tag. Bei beiden war ich froh über die Fußnoten zum historischen Kontext.

 

“Hack Attack” von Nick Davies.
hack attack nick daviesEiner der besten britischen Investigativjournalisten lässt sich in die Karten gucken: In „Hack Attack“ beschreibt Nick Davies, wie er über Jahre hinweg nach und nach das Ausmaß aufgedeckt hat, in dem das Murdoch-Blatt „News of the World“ die Telefone von Prominenten, Politikern, Opfern von Verbrechen und deren Angehörigen abhören ließ. Erschütternd ist daran vor allem, wie eng Polizei und Politik mit diesem Konzern verquickt waren und die Ermittlungen verschleppt oder behindert haben: Andy Coulson, zu dessen Zeit als Chefredakteur das Abhören gängige Praxis war, wurde später Pressesprecher des frisch gewählten Premierministers David Cameron. Was das Buch außerdem zeigt: Dass eine solch intensive Recherche nur selten aus spektakulären Undercover-Wallraffiaden besteht und sehr viel öfter aus Beharrlichkeit, Papierkram, Kontaktpflege und dem Bau von Allianzen. Und dass es nicht nur Journalisten braucht, die solche Themen recherchieren, sondern auch Chefredakteure wie Alan Rusbridger vom „Guardian“, die das Rückgrat haben, solche Geschichten zu veröffentlichen.

 

“Ёжик в тумане (Joschik w tumane)” von Juri Norstein.
igel im nebelDas Kinderbuch zum berühmten sowjetischen Zeichentrickfilm über den kleinen Igel, der sich auf dem Weg zu seinem Freund, dem Bären, im Nebel verläuft. Eine gruselige Welt, in der er sich dort findet, aber dank der Ideen des Igels hat sie auch ihren Zauber: „Der Igel riss einen Grashalm aus, auf dem ein Glühwürmchen saß, und hielt ihn hoch über den Kopf, als wäre es eine Kerze.“ Weil Patenkind 2 das Buch zu Weihnachten bekommt, habe ich es gelesen und ins Deutsche übersetzt. Ein Erfolgserlebnis, und ein Stückchen mehr russische Alltagskenntnis.

 

Malentendu à Moscou” von Simone de Beauvoir.
malentendu a moscouJa, es klappt noch mit dem Lesen auf Französisch, wenn auch langsamer als früher. Die Geschichte: Ein Paar, beide gealtert und darüber unglücklich, reist in die Sowjetunion – die Konstellation erinnert an Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. In Moskau haben sie ständig strammes Programm mit der Tochter des Mannes, und irgendwann sind beide genervt genug, dass sie aneinander geraten, spektakulär und dramatisch, wie man sich das bei einem französischen Paar so dem Klischee nach vorstellt. Die ganze Beziehung steht in Frage, aber dann liegen sie plötzlich wieder zweisam in einer Blumenwiese und lieben sich doch noch. Für mich hat sich das auf der Zielgeraden sehr hopplahopp angefühlt, dieser U-Turn Richtung Happy End. Der Weg dahin hat sich trotzdem gelohnt, vor allem, wenn diese wohlhabenden Pariser Bildungsbürger mit der Realität in der Sowjetunion konfrontiert sind, die sie als gesellschaftlichen Entwurf eigentlich unterstützen. Aber sie haben ja auch das Privileg der Touristen, wieder abreisen zu können.

 

“How to Build a Girl” von Caitlin Moran.
how to build a girlStellenweise ein bisschen doppelig, wenn man Caitlin Morans Autobiografie/Feminismushandbuch „How to be a Woman“ kennt, denn auch bei diesem Roman bedient sie sich großzügig am eigenen Leben. Diesmal aber nicht mit dem abgeklärten, analytischen Blick einer etablierten Journalistin, sondern aus der Perspektive einer jungen Frau kurz vor der Volljährigkeit, die beschließt, sich komplett neu zu erfinden – und dabei leiderleiderleider die Idee verwirft, sich künftig „Belle Jar“ zu nennen. Egal, ob sie über das Leben am Existenzminimum schreibt, über die britische Musikszene oder über Sex („Moran is in danger of becoming to female masturbation what Keats was to nightingales“), Moran ist so gut, dass wir einen kompletten Flug Moskau-Düsseldorf miteinander verbracht haben. (Aeroflot-Bordessen unterstützt, gerade in Sanktionszeiten, die Atmosphäre von Armut und notgedrungen vitaminfreier Ernährung recht gut.)

 

How Not to Become a Spy” von Justin Lifflander.
lifflander how not to become a spyEin paar Monate haben wir uns bei der Moscow Times überschnitten, Justin Lifflander und ich, er hat dort das Wirtschaftsressort geleitet. Dass er sich in Russland gut auskennt, wusste ich – dass er bereits zu Sowjetzeiten aus den USA hierher kam mit dem Plan, Spion zu werden, hab ich erst aus dem Buch erfahren. Nach einem Job als Botschafts-Busfahrer war er später einer der Inspektoren, die kurz vor dem Ende der Sowjetunion den IFN-Abrüstungsvertrag überwachten. Das klingt extrem seriös – nur dass Justin halt der Hausmeister und zeitweise auch Koch des Teams war, mit großem Talent zur Insubordination: Er baute im Keller der Unterkunft einen illegalen Whirlpool, versuchte sich als Kidnapper einer Ziege und verliebte sich in Sophia – die KGB-Frau, die ihn, den Überwacher, überwachen sollte. In diesem NPR-Interview hier kann man ab 2’50“ hören, was Justin für ein Geschichtenerzähler ist. Sophia und er sind übrigens immer noch zusammen.

 

Lenin Lives Next Door” von Jennifer Eremeeva.
lenin lives next door jennifer eremeevaDas Buch meiner Moskauer Mit-Bloggerin Jennifer habe ich gebraucht gekauft, und als es geliefert wurde, waren auf dem Schutzumschlag mehrere Ringe von abgestellten Gläsern. Passt gut zum Plot rund um (meist englischsprachige, meist wohlhabende) Expats, die in Russland Wurzeln geschlagen haben und sich das Leben nun mit Parties, Drinks und eisernem Zusammenhalt erträglich machen. Das Kapitel „The Red Handshake“ beschreibt, wie es ist, für ein russisches Unternehmen zu arbeiten – und ja, all die Vertrösterei, Verpeiltheit und allgemeine Unlust, Verantwortung zu übernehmen, hab ich aus dem Stand so wiedererkannt. Im vielleicht lustigsten, weil absurdesten Kapitel geht es um die russische Masche, Balkons rundum zu verglasen, damit man dort nicht an der frischen Luft sein muss, sondern drei Quadratmeter mehr Stellfläche für Gerümpel hat.

 

Der Papyrus des Cäsar” von Jean-Yves Ferri und Didier Conrad.
asterix Der Papyrus des CäsarEs hätte mir ja schon völlig gereicht, wenn der neue Asterix (der erste, an dem weder René Goscinny noch Albert Uderzo mitgearbeitet haben) die Tradition nicht ramponiert. Dass er sogar richtig gut ist, mit Anspielungen auf Edward Snowden, staatliche Abhörpraktiken, Twitter und Kommunikation per Mail- bzw Brieftaubenanhang, ist um so schöner. Und das „Postskriptum“, ganz besonders das vorletzte Bild des Bandes – okay, keine Spoiler. Nur ein geseufztes „Hach“.

 

Down There on a Visit” von Christopher Isherwood.
down there on a visitDas dritte Buch von „Mr Issyvoo“ dieses Jahr, wieder in einem Rutsch innerhalb weniger Tage durchgelesen. Dabei den rundum faszinierenden Denham Fouts (im Buch „Paul) kennengelernt und bei vielen anderen Namen gerätselt, wer sie wohl in Wirklichkeit waren. Hugh Weston war leicht als WH Auden erkennbar, aber sonst? Und wer war wohl der G. aus dieser Anekdote: „Just back from a weekend in the country with G. A great mistake. Trailing all the way down to Kent just to make love in an inn gave the love-making an altogether false importance. We had to play up to it, pretend it was romantic, or at least fun. And it wasn’t. It was depressing, like the cold bedroom and the lumpy bed. Right in the midst of the act, I found myself grunting and groaning extra loud, out of sheer politeness. I dare say G., who is really very sweet, was doing the same thing. But I couldn’t discuss this. We don’t know each other well enough.“

 

Sophia, der Tod und ich” von Thees Uhlmann.
sophia der tod und ichWenn der Tod an der Tür klingelt und du hast nur noch drei Minuten – was machst du damit? Die Frage stellt sich nur kurz, denn diesmal dauert alles ein bisschen länger: Der Tod, sein vorerst weiterhin untotes Opfer und dessen Ex-Freundin treiben sich noch ein bisschen auf der Erde rum. Dabei entwickelt der Tod eine große Lebensfreude und der (namenlose) Mann, den er holen soll, erlebt mit dem Gevatter und der Ex ein kleines Roadmovie. Ein Buch mit vielen Pointen und anderen schönen Stellen, immer wieder zum laut Vorlesen. Und der Hype, weil das eben das erste Buch von Thees Uhlmann ist, sorgt für genug Leute im Freundeskreis, die es auch gerade gelesen haben, um gemeinsam unklare Stellen auszudeuteln.

 

Hottentottenstottertrottel” von Wolf Schneider.
U1_978-3-498-06435-8.inddWie Wolf Schneider als Kind kurzzeitig stotterte und sich dies dann mit Disziplin und Fleiß wieder abtrainierte – diese Anekdote, auf die sich der Titel bezieht, nimmt im Buch nur wenig Raum ein. Ein ziemlich offensichtliches „Schau mal, lieber Leser, auch ich hatte Schwächen, zumindest kurz“, denn ansonsten lässt Schneider vor allem die Leistungen seiner vielen Jahrzehnte als Journalist Paroli laufen. Das steht ihm zu, sicher, vor allem als Ausbilder und als Kämpfer für eine gute, klare Sprache hat Schneider viel geleistet. Aber dieser permanente Unterton von „da hab ich dem Nannen in der Konferenz aber mal als einziger Kontra gegeben“ und „da hab ich aber diesen linken Redakteuren mal gezeigt, wo der Hammer hängt“, von Seitenhieben Richtung Hartz-IV-Empfänger und Feminismus – Mann, Mann, Mann! Der Klappentext beschreibt Schneider als jemanden, „der schon politisch unkorrekt ist, bevor es den Begriff überhaupt gibt.“ Kann man so beschreiben. „Arroganz, Populismus und ein letztes Beharren, wer hier bitteschön immer noch die Deutungshoheit hat“ ginge aber auch.

 

“Granta 67: Women and children first”.
granta 67 women and children firstDie Kaltmamsell liest immer Granta, das reicht als Argument. Oder, doch etwas ausführlicher: Etwas lesen, worauf ich sonst nicht käme – das ist ein Reiz an sich. In diesem alten Band, gefunden beim Umzug unserer Redaktion, findet sich zum Beispiel ein Text von Zadie Smith, ehe sie mit „White Teeth“ bekannt wurde. Einen anderen Beitrag konnte ich vor lauter grausamen Bildern im Kopf schließlich nur noch querlesen: „The Problem Outside“ von Linda Polman, einer Augenzeugin des Massakers von Kibeho in Ruanda.

 

“Slam” von Nick Hornby.
nick hornby slamMeh. Der Plot und die Kunstgriffe (Zeitreisen, Dialoge mit einem Skater-Poster) haben mich überhaupt nicht überzeugt. Nach ein paar Seiten hat man begriffen, dass das düstere Ereignis, auf das alles zusteuert, die ungewollte Schwangerschaft eines Schüler-Paares ist. Und dann muss man da halt die nächsten mehr als 200 Seiten durch, mit Sam, dem 16 Jahre alten Vater des Kindes, der sich nach aller Kraft wie ein anständiger Mensch zu verhalten versucht. Und wartet auf eine Wendung, irgendwas, worauf das Buch noch hinsteuern könnte. Kommt aber nichts, nur Stress und Sorgen und Panik, und dann ist das Baby da, und Sam gibt seinem Leben 3 von 10 möglichen Punkten. Das Buch ist für „young adults“ gedacht, und die Botschaft an die ist offenbar tatsächlich: Ein paar Sekunden Pech können Dein Leben zerstören, aber eventuell wird es Jahre später wieder ein ganz klein wenig besser.

 

“Die juristische Unschärfe einer Ehe” von Olga Grjasnowa.
juristische unschärfe einer eheDas zweite Buch von Olga Grjasnowa, nach „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, und eigentlich wieder richtig gut. Zwei winzige Stadtproträts zum Beispiel: „die Auslagen der Geschäfte simulierten Reichtum als gesellschaftlichen Konsens“ (Baku). „Berlin war wunderbar – Homosexualität und Menschsein schlossen sich in europäischen Großstädten nicht mehr aus.“ Das einzige, was nervt, sind die vielen sprachlichen Fehler: „Servierten“ statt „Servietten“, „Liberal Art College“ statt „Liberal Arts College“, „Fouttés“ statt „Fouettés“. Dass mir sowas besonders auffällt, mag eine Berufskrankheit sein – aber spätestens bei „auf dem Wasser schwamm ein feiner Ölfilter“ liest es sich einfach nach Autokorrektur-Panne. Schade, weil es von einer interessanten Geschichte ablenkt.

 

“Fingerlickin' Fifteen” von Janet Evanovich.
fingerlickin' fifteenGenau das richtige Buch für krank-auf-dem Sofa. Hohe Literatur sind die Krimis um Kopfgeldjägerin Stephanie Plum nicht, dafür aber so formelhaft, dass man auch mit rasselnden Bronchien und verschleimten Nebenhöhlen folgen kann. Stephanie hat nie Kugeln in ihrer Pistole, scheitert zunächst beim Versuch, eine ihrer Zielpersonen festzunehmen, steht permanent zwischen denselben zwei Männern, hat jeweils mit beiden dann doch ganz knapp keinen Sex, zerstört früher oder später zwei bis drei Autos und nimmt am Ende doch noch wen fest.

 

“Sizzling Sixteen” von Janet Evanovich.
sizzling sixteenGanz schön hartnäckig, diese Erkältung, also ran an den nächsten Stephanie-Plum-Band. Plötzlich und unerwartet hat sie auch diesmal keine Kugeln in ihrer Pistole, scheitert zunächst beim Versuch, eine ihrer Zielpersonen festzunehmen, steht permanent zwischen denselben zwei Männern etc. Neu dabei ist eine Herde Hobbits. Alles leicht und lustig – kein Wunder, dass Evanovich aktuell mal wieder auf der Bestsellerliste der New York Times steht, diesmal mit Nummer 22 der Plum-Krimis.

 

“Forty Stories” von Anton Chekhov.
chekhov forty storiesSein Grab auf dem Neujungfrauenfriedhof, eine seiner Kurzgeschichten im aktuellen Repertoire eines Moskauer Theaters, die Kladde mit seinem stilisierten Gesicht auf dem Schreibtisch einer Kollegin. Wie präsent Tschechow noch heute in Russland ist, war mir nicht klar, aber nach diesem Band verstehe ich, warum: Ob Prinzessin oder Waisenkind, ob ein sterbenskranker Bischof oder eine Katze, der in bester Pawlow-Manier abtrainiert wird, auch nur eine Maus zu jagen – über alle schreibt er so klug, authentisch und mitfühlend, dass man es ihm sofort abnimmt. „Angeblich teilen sich Leser in Russland in zwei Lager auf, Tolstojaner und Dostojewskijaner,“ sagt T., meine Russischlehrerin. „Aber wenn das die Auswahl ist, bin ich weder noch. Ich bin Tschechowianerin.“

 

“Nothing is true and everything is possible” von Peter Pomerantsev.
pomerantsev everything is trueEine Leseempfehlung für alle, die mehr über Russland wissen wollen als Putin-dies und Lawrow-das. Pomerantsev berichtet aus der Zeit, als er für einen russischen Fernsehsender arbeitete. Gewünscht waren Wohlfülgeschichten, aber er stieß immer auf Abgründe – Korruption, Sekten, Meinungsmache und Menschen, die sich mehr oder weniger geschickt verbiegen, um in dieses Russland zu passen. Da verzeiht man auch sein Faible dafür, Moskau alle paar Kapitel mit Gotham City zu vergleichen. (Dem Guardian hat Pomerantsev erzählt, was sein Konzept beim Schreiben des Buches war.)

 

“Pushkin Hills” von Sergei Dovlatov.
dovlatov pushkin hillsEine kleine Episode aus Sowjetzeiten, in der ein nicht sehr erfolgreicher Schriftsteller sich als Reiseführer versucht und dabei eine unterhaltsame Bocklosigkeit an den Tag legt. Wenn er Details aus Puschkins Leben mal nicht weiß, wird halt geblufft. Leicht, lustig, lässig liest sich das, bis seine Frau ihm eröffnet, dass sie mit der gemeinsamen Tochter das Land verlassen will. Sein Durchwurschteln durchs Leben, ihre Suche nach grundsätzlichen Werten wie Freiheit – Zeitgeschichte.

 

“Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit” von Thomas Kunze und Thomas Vogel.
Porträts von 15 Ländern, die früher Sowjetrepubliken waren – jeweils als politisch unterfütterter Reisebericht plus Steckbrief. Das klang interessant und übersichtlich, aber irgendwo zwischen „Djen Pobeda“ (sic) und „Perestoika“ (sic), zwischen fehlerhaften Transliterationen aus dem Russischen und schiefen Bildern („die gelockerten Zügel ließen es gären“) fiel es mir zunehmend schwer, das ernst zu nehmen. Und da war mir noch gar nicht aufgefallen, dass auch ein Buch aus dem Kopp-Verlag zitiert wird, war mir da noch gar nicht aufgefallen. Und das in einer Ausgabe der Bundeszentrale für Politische Bildung. Seltsam.

 

“My Discovery of America” von Vladimir Mayakovsky.
mayakovsky discovery of americaGerade mal drei Jahre gab es die Sowjetunion, als Majakowski über Mexiko in die Vereinigten Staaten reiste. Es ging ihm vor allem darum, was man sich dort in Sachen Industrie und Elektrifizierung abgucken konnte. Leider hakt alles ein wenig, weil Majakowski so gut wie kein Englisch spricht und ihm immer wieder die Fakten durcheinander geraten (da retten die Fußnoten das Buch). Insgesamt nicht uninteressant, aber lange nicht so aufschlussreich wie „Das eingeschossige Amerika“.

 

“Hyperbole and a Half” von Allie Brosh.
hyperbole coverJa, das ist das Buch zum Blog. Ein paar Einträge kannte ich, aber das meiste war neu und genau richtig für die Zeit zwischen den Jahren: leicht, aber mit Tiefgang. Besonders gefallen hat mir, wie sie für ihre beiden bekloppten Hunde eine eigene Sprache (eigentlich eher eine eigene Syntax) erfindet. Das Kapitel „Dog’s Guide to Understanding Basic Concepts“ gibt es zwar nur im Buch, aber auch in diesem Blogpost bekommt man einen guten Eindruck.

 

“Die heimlichen Revolutionäre - Wie die Generation Y unsere Welt verändert” von Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht.
Hurrelmann_GenerationY_K1_140312.inddWarum kommt mir das nur so vertraut vor, was über die Generation eins unter meiner (hallo Y, hier winkt X) in diesem Buch steht? Es hat gedauert, bis der Groschen fiel: Weil das, was für die inzwischen allgemein gilt, uns werdenden Journalisten schon früher eingebimst wurde: Nicht damit planen, dass euch mal wer fest anstellt. Auf befristete Verträge einstellen, aufs Leben als Freiberufler. Darum liest sich das hier wie eine Mischung aus „über die“ und „über uns“ und damit doppelt interessant – auch wenn ich mir manches hätte etwas gestraffter gewünscht hätte.