Die besten Threads aus dem Mai

kscheib threads pixabay

Dass zum Monatswechsel das Sichten von Twitter-Threads gehört, ist inzwischen eine schöne Routine geworden. Und so gut wie jedes Mal begegnen mir dabei Threads derselben Art: US-Bürger, die im (meist europäischen) Ausland waren, dort ärztliche Hilfe brauchten und dann fassungslos waren, wie schnell und wie preiswert sie sie bekommen haben. Jeden Monat könnte ich so einen Thread hier einbauen, aber für Leser in Deutschland ist der Erkenntniswert vermutlich nicht so hoch.

Irgendwie weiß man grob, dass das Krankenversicherungssystem in den USA viele Probleme hat – aber das auserzählte „so einfach war mein Arztbesuch in Großbritannien/Schweden/Italien“ hat nur für die Menschen einen echten Aha-Effekt, die das US-System gewohnt sind. Trotzdem wollte ich diesmal auf einen dieser Threads verweisen, weil er für viele ähnliche steht. Für ihn wie für alle gilt: Den ersten Tweet anklicken, und es öffnet sich der ganze Thread.

1. You found a lump

2. „Lieber Albert Camus“

Post-vom-Wagner-Parodie ist zwar ein recht weit verbreitetes Genre, aber die hier sind wirklich gut:

3. Polizeigewalt

Auch diesen Monat ist wieder das passiert, wofür ich Twitter-Threads so mag: Dass mir ein Geschichts-Thread in die Timeline gespült wird zu einem Thema, von dem ich noch nie gehört hatte. Diesmal geht es um eine extrem dunkle Begebenheit aus den Achtzigern.

4. Warum Büchereien wichtig sind

Was man lernt, wenn man in einer Bücherei arbeitet. Diese Liste fängt lustig an, ist aber ein Thread mit viel Tiefe, der zeigt, wen es trifft, wenn Büchereien klein- oder plattgespart werden.

5. Fagottogott

Winzigkleiner Thread, aber wer wollte nicht schon immer wissen, wie ein Fagott mit Verstärker klingt?

6. „I am the last survivor of the war“

Im Mai 1980 ist der Mount St. Helens ausgebrochen, der im US-Bundesstaat Washington liegt. Rund vier Autostunden entfernt verbrachte ein Wissenschaftler allein die Nacht in einem Observatorium. Als er wach wurde und nur von Asche und Dunkelheit umgeben war, dachte er. es habe einen Atomschlag gegeben – es waren die Achtziger, er konnte also nicht mal eben auf dem Handy nachsehen, was passiert war. Die ganze Geschichte hier:

7. Bilder und ihre Macht

Ein Denkanstoß zum Thema journalistisches Handwerk: Warum Bildauswahl wichtig ist. Bei Slate oder beim Guardian ist mir schon öfter positiv aufgefallen, dass da bei Symbolfotos manchmal einfach jemand im Rollstuhl sitzt/eine Frau ist/nicht weiß ist, ohne dass das Thema des Textes ist. Weil eben das jeweilige Thema nicht nur weiße, männliche Menschen betrifft, die nicht im Rollstuhl sitzen. Mehr als ein kurzes, wohlwollendes Bemerken war bei mir da nie, darum fand ich diesen Thread in seiner Ausführlichkeit so gut:

8. All kinds of Data

„Big Data“-Memes kannte ich, aber hier hat jemand wirklich unverhältnismäßig viel Zeit und Kreativität in Data-Witze inverstiert. Ich begrüße das.

9. WLAN in Londons U-Bahn

Wer in der Londoner U-Bahn das WLAN nutzt, muss in Zukunft damit rechnen, dass geloggt wird, wie er von A nach B kommt. Bisher gab es nur die Daten vom Betreten und Verlassen der jeweiligen Bahnhöfe, wo man seine Oystercard an ein Lesegerät halten muss. Nun erfährt das Transportunternehmen einiges mehr über seine Passagiere. Ein Thread darüber, warum das auch heikel sein kann, und welche Datenschutzregeln gelten sollen.

10. Eine Krähe hackt der anderen… oh.

Wer bei Twitter ist und sich für schwarze Vögel interessiert, folgt vermutlich dem Ravenmaster und erfährt so viel über die Raben im Londoner Tower. Diesen Momat ist mir aber auch ein Thread über Krähen begegnet, den ich interessant fand. Von wegen „kein Auge aushacken“ – Krähen tun einander manchmal sehr viel Schlimmeres an:

11. Eine Art Nachruf

Vielleicht les nur ich als Journalistin gerne über andere Journalisten, aber das hier hat mich berührt. Robert Pear war so ein einfluss- und kenntnissreicher Mann, das sich sogar Nancy Pelosi zu seinem Tod geäußert hat. Diesen Alltagsblick einer deutlich jüngeren Kollegin finde ich aber noch bemerkenswerter:

12. Wissenschaft 1, Marketing 0

Pseudo-Gesundheitswasser und wie man es mit ein wenig Wissenschaft als Schwachsinn entlarvt:

13. Der letzte Arbeitstag

Zum Beinahe-Schluss noch ein bisschen was aus der Reihe warm-ums-Herz:

14. Theresa Shampoo

Im wahrscheinlich letzten Monat mit ihr als Premierministerin gehört der Schluss-Thread diesmal Theresa May. Und ein paar Flaschen Shampoo.

Polizei und Kacheln – so war das in Usbekistan

Usbekistan kscheib Samarkand Bibi-Chanum-Moschee

Wie war das in Usbekistan? Es ist der Blogpost, den ich seit Monaten schreiben will, und der immer irgendwie liegen geblieben ist. Wegen der WM, ja, aber eben auch, weil es mir schwer fällt, dieses Land, durch das wir im April gereist sind, in einen durchgängigen Text zu zwingen.

Es sind einfach zu viele Eindrücke: Dass Khiwa, die alte Stadt in der Wüste, im Prinzip nur aus drei Farben besteht: Sandbraun für die Mauern, dazu Kacheln in Blau und Türkis. Dass das Brot hier nicht nur lecker, sondern ausgeprägt schön ist, vor allem in Samarkand. Dass die sowjetischen Protzbauten und die postsowjetisch-usbekischen so viel gar nicht unterscheidet.

Dass man bei so gut wie jeder Unterkunft, sei es ein Hotel oder eine schlichte Pension, aufs Dach hinauf darf, dort einen Tee trinken und über die Stadt gucken. Dass man auf der Suche nach Shampoo plötzlich in einem kleinen Geschäft eine Flasche „Head and Shouders“ (ja, ohne l) in der Hand hält, Duftrichtung: „Knoblauch“. Respekt, usbekischer Markenpirat, du hast Humor!

Dass die alten Paläste in Städten, die entlang der Seidenstraße erblühten, im Innenhof oft einen großen, flachen Sockel hatten, falls die Nomadenverwandtschaft vorbei kam und ihr Zelt aufstellen wollte. Dass die Madrasas eine prächtiger als die anderen sind. Dass die Züge hier schnell, sauber und klimatisiert sind wegen der Touristen, aber vor jeder Zugfahrt reihenweise Passkontrollen anstehen – vor dem Bahnhof, am Eingang zum Bahnhof, beim Verlassen des Bahnhofs Richtung Bahnsteig, beim Einsteigen.

Dass es diesem Land ein Anliegen war, schon vor der Anreise unmissverständlich mitzuteilen: Ja, okay, ihr zwei Journalisten dürft hier urlauben, aber kommt mal bloß nicht auf die Idee, hier herumzujournalisten! Ach so, und Fotoverbot in der Metro, ne? Ist klar! Autoritäres Regime und Seidenstraßenromantik, Polizeikontrollen und Kachelkunst, die zwei Schwerpunkte dieser Reise.

Die erzählenswerteste Geschichte trug sich in Samarkand zu, der Stadt, deren Hauptplatz an drei Seiten von Koranschulen flankiert wird, eine prachtvoller, imposanter und blau-türkis-gekachelter als die andere. Tagsüber stehen wir auf diesem Platz, dem Registan, schauen und staunen.

Usbekistand kscheib Registan Samarkand

In einem Reisereportagen-Buch findet sich eine Anekdote, in der der Autor abends an genau diesem Platz von einem Aufseher angesprochen wird, in etwa so: „Na, gefällt Ihnen Samarkand?“ – „Ja, sehr.“ – „Und wie finden Sie die Architektur hier?“ – „Beeindruckend.“ – „Aber wäre das nicht noch schöner, wenn es beleuchtet wäre?“ – „Ja, stimmt.“ – „Alles klar, 10 Dollar für jeden aus ihrer Gruppe.“ Eingesammelt, der Aufpasser legt einen Schalter um, das Licht geht an. Usbekistan gilt als eines der korruptesten Länder in der Region, wir grinsen über die Geschichte und denken nicht weiter nach.

Abends sind wir noch mal am Registan, alles ist beleuchtet, ohne dass jemand nachhelfen müsste. Der Platz selbst ist abends gesperrt, man kann nur an der nicht bebauten Seite entlang eines Zauns stehen und rüberfotografieren. Hier ein Grüppchen Touristen, da noch eins, ich stehe ein wenig am Rand, da kommt ein Polizist: „Na, woher sind Sie?“ – „Aus Deutschland.“ – „Reisen sie mit einer Gruppe“ – „Nein, nur zu zweit.“ – „Gefällt Ihnen Samarkand?“ – „Ja, sehr.“ – „Und wie finden Sie die Architektur hier?“ – „Beeindruckend.“ – „Haben Sie sich die Madrasen schon angesehen?“ – „Ja.“ – „Aber wäre das nicht noch schöner abends, wenn da sonst niemand drin ist?“

Usbekistand kscheib Registan Nacht Samarkand

15 Dollar später schiebt er den Zaun an der Ecke ein wenig zur Seite und winkt uns durch. Ein Manöver zwischen Routine und Ausnahme: Einerseits merkt man sofort: Der macht das nicht zum ersten Mal. Andererseits ist es ihm ein großes Anliegen, dass wir den Weg quer über den leeren Platz laufen, statt nur zu gehen – als würde das irgendwas daran ändern, dass all die Touristen auf der anderen Zaunseitee uns sehen.

Usbekistan Samarkand kscheib Ulugbek-Madrasa

Hinein in die Madrasa zur linken, sie heißt Ulugbek nach dem Khan, der sie im 15. Jahrhundert bauen ließ und so für die Ordnungshüter von Samarkand die Gelegenheit schuf, sich 600 Jahre später ein wenig Geld hinzu zu verdienen. Tagsüber darf man hier nur das Erdgeschoss und den Innenhof besichtigen, und wer die Treppe sieht, die wir nun hochsteigen in den ersten Stock, der weiß, warum.

„Nicht zu nah an den Rand heran, sonst fallen Sie runter“, sagt der Polizist noch, dann sind wir allein. Umgeben von, natürlich, blau und türkisen Wänden, viele Jahrhunderte alt, im Dunkel des Abends. Kacheln und Polizei, Polizei und Kacheln. So war das in Usbekistan.

Russball, Folge 57: Was von der WM übrig bleibt

Russball kscheib Suus Agnes 2 signed

Sag mal, Russland. So hatten wir aber nicht gewettet! Ich wollte doch noch ein bisschen schwelgen, ein wenig den WM-Afterglow genießen. Nach dem Finale (neun Freunde aus fünf Ländern vor einem Fernseher, grob je die Hälfte für Frankreich und für Kroatien) hatte ich mich auf den Weg Richtung Stadtzentrum gemacht, um mich noch einmal treiben zu lassen in dieser Menschenmenge.

Leute, die vor dem Erlöserturm um ein Handy mit angeschlossenem Lautsprecher tanzen. Eine Prozession trommelnder, trillerpfeifender Menschen, die kurz darauf ebenfalls beginnen zu tanzen. Spontaner Applaus von Passanten, wann immer ein Grüppchen Kroaten vorbeikommt. Frankreich-Fans, die im Brunnenbecken hinter dem GUM feiern und sorgfältig darauf achten, möglichst viele Zuschauer nass zu machen. Und dann, zuletzt, das langsame Geschiebe über die proppenvolle Nikolskaja. „Hey, hey, qui ne saute parle pas français!“ Eine Frau hält ein weißes Shirt hoch, auf das sie geschrieben hat: „Danke, Fußballfans, dass ihr keine Angst hattet, nach Russland zu kommen!“

wm nikolskaha shirt

Wie gesagt, für mich hätte das gerne noch ein bisschen so weitergehen können. Aber nein, am Tag danach veröffentlicht eine große russische Zeitung einen unsäglich rassistischen Kommentar über die vielen Schwarzen in der Weltmeistermannschaft. Aus mehr als einer WM-Stadt kommen Meldungen, dass die Infrastruktur rund um die Stadien bereits bröckelt. Ein Video macht die Runde, in dem offenbar ein Polizist die Pussy-Riot-Aktivisten verhört, die beim Finale aufs Spielfeld gerannt waren. „Wie schade, dass nicht mehr 1937 ist“, hört man ihn sagen. Das war die Zeit, in der Stalin massenweise politische Gegner verschleppen und ermorden ließ.

Für n-tv.de hatte ich für den Tag nach der WM einen fiktiven Ausblick auf Russland nach der WM geschrieben, durchaus süffisant. Darüber, was von der WM bleibt und was wieder dem Alltag weichen muss. Liebes Russland, ganz ehrlich: Ich mag da befangen sein, aber meine Variante hat mir besser gefallen.

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⚽ Woran man auch merkt, Dass die WM vorbei ist: Die in den vergangenen Wochen ausgesprochen zurückhaltenden Moskauer Polizisten lassen sowas hier nicht mehr durchgehen:

⚽ Normalerweise ist es ja gerne mal so, dass man erst einen Artikel liest und dann beim Blick in die Kommentare den Glauben an die Menschheit verliert. Bei diesem Text von Sport Express ist es andersrum: „Fans von Torpedo sind gegen Wechsel eines dunkelhäutigen Russen“ ist er überschrieben, es geht darin um eine Fangruppierung des FK Torpedo Moskau. Die protestiert online gegen die Verpflichtung von Erving Botaka. Botaka ist Russe, seine Fußballjugend verbrachte er bei Torpedo, nun kehrt er dorthin zurück. Was eine Gruppe von Ultras zu Posts wie „Auf unserem Trikot gibt es Schwarz, aber in unseren Reihen nur Weiße“ veranlasst. So weit, so dumm.

Deutlich dagegen halten aber viele der Leserkommentare unter dem Artikel. „Ist es nicht Zeit, solche ‚Fans‘ plattzumachen“, fragt einer, ein zweiter schlägt etwas milder vor: „Einfach diesen Abschaum nicht ins Stadion lassen. Das ist die beste Entscheidung, von der alle profitieren.“ Ein anderer Kommentator fühlt sich von der Haltung der Fangruppe an „die Neunziger des vergangenen Jahrhunderts“ erinnert, muss sich aber seinerseits korrigieren lassen: „Wohl eher an die Steinzeit.“ Den einen Leser schließlich, der unter dem Artikel munter rassistische Parolen postet, haben die anderen bereits weit nach unten gevoted.

⚽ Einen erfreulichen WM-Effekt dokumentieren derzeit die Kollegen von Russian Football News: überraschend gut gefüllte Stadien. Selbst Russlands Top-Vereine mussten sich bisher ins Zeug legen, um ihre Ränge voll zu kriegen. Da sind solche Bilder hier schon beeindruckend, erst Recht für ein Zweitligaspiel:

⚽  Stell dir vor, du bist Fan von St. Pauli und bekommst mitgeteilt, dass dein Verein ab sofort FC Garmisch-Partenkirchen heißt und dorthin auch umzieht. Weil da halt ein tolles Stadium rumsteht, was irgendwie mit Leben gefüllt werden muss. Sowas passiert hier gerade in Russland.

Denn da steht nun also in Sotschi dieses Stadion, das zwar bei den Olympischen Spielen, dem Confed Cup und der WM ein paar Mal gebraucht wurde, aber ansonsten – höflich gesagt – nicht allzu ausgelastet ist. Es gibt nicht mal einen örtlichen Verein, der dort in Zukunft spielen könnte. Also wird ein anderer Club umgetopft, vom finnischen Meerbusen runter ans Schwarze Meer: Dynamo St. Petersburg soll künftig PFK Sotschi heißen. Was das für die Fans in Petersburg heißt, scheint dabei niemanden so recht zu interessieren. Aber was sind schon knapp 30 Stunden Autofahrt zu einem Heimspiel, wenn man seinen Verein wirklich liebt.

⚽ Habt ihr das mit den Nigerianern mitbekommen? Dutzende von ihnen sind während der WM in Russland gestrandet – eingereist per Fan-ID, weil ihnen dubiose Vermittler erzählt hatten, sie könnten hier Arbeit in Fabriken oder sogar als Profifußballer finden. Die Rückflugtickets haben besagte Vermittler dann storniert, den Betroffenen blieb nichts übrig, als vor iher Botschaft zu warten und um Hilfe zu bitten. Inzwischen sieht es so aus, als ob sich die nigerianische Regierung wohl ihrer annehmen und sie zurück nach Hause holen wird.

⚽ Was mir fehlen wird: Die regelmäßigen Podcast-Gespräche mit Max vom Rasenfunk. Gestern haben wir das vorerst letzte aufgezeichnet, und dafür, dass ich beim ersten mal im Dezember noch ziemlich Muffensausen hatte (Was, wenn der von mir jetzt echte Fußballexpertenfragen beantwortet haben will?), ist mir dieses Format echt ans Herz gewachsen. Max hat mich jedes Mal beeindruckt als gut informierter und so ziemlich an allem interessierter Gesprächspartner, bei dem man in guten Händen ist. Jemand, der Spaß daran hat, sich auch mal zu einem abwegigen Thema zu verquatschen, aber gleichzeitig ein gutes Gefühl davon, wann es dann auch gut ist. Was er da während der WM gewuppt hat, ist bemerkenswert.

⚽ Es sprach der Scheich zum Emir: Jetzt zahlen wir, und dann gehn wir. Es sprach der Emir zum Scheich: Zahlen wir nicht, und gehn gleich! Einer dieser Vatersprüche, mit denen ich aufgewachsen bin – nie hätte ich damit gerechnet, dass ich ihn mal irgendwo sinnvoll anbringen könnte. Aber so kann’s gehen:

Da saß nun also der Gastgeber der nächsten WM, der Emir von Katar, im Restaurant des superschicken Moskauer Hotel Lotte und bestellte dort ausgerechnet einen Latte. Getrunken hat er ihn vermutlich, bezahlt aber nicht, weshalb die Kellnerin nun die Gäste nebenan fragt, ob sie die Rechnung nicht vielleicht bezahlen wollen. Weder der Journalist Jamil Chade noch sein Begleiter wollten das. Eine lustige Begebenheit, die damit endet? Aber nein.

Am Tag darauf twitterte Chade, die Hotel-Security habe ihn soeben rausgeworfen, als einzigen Journalisten. Warum? Erst keine Angabe, dann ein Missverständnis, schließlich: Chade habe mit seinem Tweet die Privatsphäre des Emirs verletzt. Dass er als derjenige, bei dem die Kellnerin versucht hatte, das Geld einzufordern, unmittelbar von der Emir’schen Zechprellerei betroffen war – offenbar kein Argument. Chade, der den ganzen Vorfall für O Estado de S. Paulo, Brasiliens älteste Tageszeitung, aufgeschrieben hat, zog folgende Bilanz:

⚽ Erinnert ihr euch an die Frage vor der WM? Wird das denn auch alles rechtzeitig fertig, die Stadien, die Straßen, die Fußwege? Die Antwort hieß „ja“, aber nun, kaum dass die WM vorbei ist, merken wir: Sie hieß eigentlich „ja, aber…“ Es hat zwar alles gerade noch rechtzeitig geklappt, aber wer so auf den letzten Drücker baut, baut eben nicht gerade für die Ewigkeit. Wir Moskauer kennen das von Bürgersteigen, die huschhusch hübsch gemacht werden, dann nach dem ersten Winter wie eine Buckelpiste aussehen, also wieder neu aufgehübscht werden. Es ist ein Zyklus.

So begab es sich also, dass ein Regen fiel in Wolgograd. Ziemlich ausdauernd, ja, es war die Niederschlagsmenge von zwei Monaten innerhalb von 24 Stunden. Ergebnis: Dieser asphaltierte Hang neben dem Stadion… sagen wir mal so: Heute ist er weder Hang noch asphaltiert. Schuld war nach Angaben der Stadtverwaltung das Fundament des neuen Stadions, das so gebaut sei, dass das Wasser nicht anständig abgeleitet wurde. Ähnlich in Nischni Nowgorod: Schon vor ein paar Wochen hatte der Blogger Ilja Warlamo darauf hingewiesen, dass da vielleicht das ein oder andere Abflussrohr gut täte. Dann kam der Regen und unterspülte so manches, was gerade erst gebaut oder hübsch gemacht worden war. Witze wie diesen hier haben sich die Architekten also selber eingebrockt:

„Schaut nur, wie das Stadion von Saransk, das zur WM 2018 gebaut wurde, nach einem leichten Regen aussieht. Einfach beschissen.“

⚽ Die WM-Infrastruktur und die Frage, was aus ihr wird, steht auch im Mittelpunkt des Fazits, das Sports.ru von der Weltmeisterschaft zieht. Doch es geht auch um Größeres, um Grundsätzliches. Es ist ein philosophischer Text geworden und es lohnt sich, daraus eine ganze Passage zu zitieren:

„Es hat sich gezeigt, dass es irgendwo in diesem Universum ein prächtiges, strahlendes Russland gibt, in dem es möglich und nötig ist, das Leben zu genießen und nicht bloß zu überleben. Wir lebten vier schöne Wochen lang in einem hastig aufgebauten Potemkinschen Dorf, das in kürzester Zeit einstürzen würde, wenn wir nichts dagegen tun. Wir haben gelernt, dass wir unter bemerkenswerten Bedingungen leben können, und dass wir nun lediglich vom Staat (und von uns) verlangen müssen, all das Schöne zu erhalten, was für die ausländischen Gäste gebaut wurde.“

Ein guter Einstieg für einen kleinen Bilanzblock: Wer zieht sonst so welches Fazit aus der WM?

⚽ Die Reporter des Guardian: Diese Mischung aus Sportlichem und russischem Alltag gefällt mir sehr. Und die Mottokuchen zu den einzelnen Spielen auch.
⚽ Das Sportblatt „Sowjetski Sport“: Dort haben sie schon mal durchgerechnet, was passiert, wenn am Donnerstag das neue FIFA-Ranking veröffentlicht wird. Ein Sprung nach oben für Russland, eventuell um ganze 32 Plätze, dank der guten WM-Leistung.
⚽ Die russischen Zeitungen: Irgendwo zwischen „Russisches Rebranding“, Stolz und „Schau mal, wie viel Geld wir verdient haben“

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Zum Schluss noch die Antwort auf eine Frage, die einige von euch in den vergangenen Tagen gestellt haben: Wie geht es weiter mit dem Russball? Die einfache Antwort ist: Das kommt auf euch an. Ich werde den Newsletter diesen Monat noch wöchentlich schreiben, so lange es viel nachzuberichten gibt. Danach dann in größeren Abständen, also vielleicht monatlich oder wenn irgendwas Besonderes anfällt. Denn: Mir macht das zwar weiterhin Spaß, aber ich will auch niemanden zuspammen. Außerdem spiele ich mit dem Gedanken, vom Mittwoch auf einen anderen Wochentag zu wechslen – demnächst ist wieder Chorsaison, und wir proben dienstags.

Damit auch ihr eure Zukunft planen könnt, kommt ganz zum Schluss noch ein Servicehinweis: Die Fan-ID soll bis Ende des Jahres als Visumsersatz gelten, man kann damit also weiterhin nach Russland reisen. Was erst eine Ankündigung Wladimir Putins nach dem Finale war, liegt nun bereits als Gesetzentwurf in der Duma auf dem Tisch. Noch vor Monatsende soll darüber abgestimmt werden. Also, wenn jemand von euch Tipps für Russlandreisen auch abseits der WM-Austragungsorte sucht: Gerne fragen!



 

Russball, Folge 55: Russland hört gar nicht mehr auf zu feiern

russland sieg spanien roter platz jubel

Nein, wir werden hier jetzt nicht mehr über Deutschland-Südkorea reden. Zu lange her, eh nicht zu ändern, anderswo schon verbloggt. Außerdem ist Schwelgen sowieso schöner als Frust Schieben, also reden wir noch mal über das, was Russland da geschafft hat: Erst den Einzug ins Viertelfinale gegen Spanien, dann ziemlich ausdauerndes Gefeier, nicht nur in Moskau.

Ein bisschen hab ich mich da auch treiben lassen, durch die Straßen rund ums GUM, dann auf den Roten Platz, weiter Richtung Manegenplatz. Ja, es gab einen Autokorso, auch wenn der stellenweise mehr stand, als dass er fuhr – Abendverkehr in Moskau, man kennt das. Und auch das macht Spaß: Nach dem Spiel in den Bus steigen, und der Fahrer beschließt, dass er jetzt auch einen auf Autokorso macht. (Besonders gefreut hat mich ein Hinweis via Twitter, dass selbst das Kartenlesegerät lächelt – das war mir beim Filmen nicht aufgefallen.)

Vielleicht am schönsten hat diesen Abend nach dem Spiel Andrew Roth vom Guardian zusammengefasst:

Cars honked their horns and passengers stuck their heads through windows and sunroofs shouting “Ros-Si-Ya!” Police officers looked on what must have been traffic violations with an air of indifference. Nobody was going to be fined, not for the noise, the errant driving or the copious amounts of public drinking that continued late into Monday morning.

It was wild stuff, the kind of night that ends with you rolling on the grass by the Karl Marx statue, clutching a bottle of champagne and somehow entangled inside of your own Russian tricolor flag.

Actually that was just at 9pm.

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⚽ Lustig auch, wie viele Menschen nicht damit gerechnet hatten, dass Russland jemals so weit kommen könnte – und deshalb munter Karten fürs Ballett gekauft hatten. Im Marinskij-Theater in St. Petersburg zum Beispiel erfuhren die Zuschauer in der Pause einer Aufführung von Dornröschen, dass Russland Spanien geschlagen hatte. Ergebnis: Standing Ovations, später zum Schlussapplaus kam dann der Dirigent mit Russlandfähnchen auf die Bühne.

Auch im Bolschoi, dem Moskauer Gegenstück zum Marinskij, fanden sich einige Zuschauer plötzlich in der Zwickmühle: Wie bleib ich auf dem Stand in Sachen Fußball, während ich hier in diesem Ballett-Palast sitze?

Auch die Ballerinas hinter den Kulissen mussten einen Weg finden, das Spiel zumindest zwischen ihren Auftritten zu verfolgen. Eine von ihnen hat das bei Instagram dokumentiert:

bolschoi⚽  Wir müssen noch mal über Datenschutz reden. Nein, diesmal geht es nicht darum, was man alles an persönlichen Infos für eine Fan-ID preisgeben muss oder welche Daten möglicher Hooligans die deutschen Behörden wohl an die russischen weitergegeben haben. Diesmal geht es um Überwachung und um das Fan-Fest hier in Moskau. Da ist am Tag des Spiels zwischen Spanien und Russland ein Mann festgenommen worden, nach dem wegen Diebstahls gefahndet wurde. Eine der Kameras hatte erkannt, dass da ein Fußballfan unterwegs war, der zu einem Bild in der Datenbank passte.

Interessant ist, was man aus der offiziellen Stellungnahme zur Verhaftung des Mannes noch so über die Gesichtserkennung in Moskau erfährt. Demnach werden das Fan-Fest und das Luschniki-Stadion von zusammen 282 Kameras überwacht. Sie sind verbunden mit einer Datenbank, die Bilder von 50.000 Menschen enthält, darunter auch Aufnahmen von 2000 Ausländern.

⚽  Das hier ist kurz, schön beobachtet und erhellend noch dazu: Zwölf Fragen zum Leben in Russland von einer, die hier lebt. Zwölf Antworten von einem, der hierher stammt: „Versteh einer die Russen“ wirft einen Blick auf das WM-Gastgeberland abseits von Stadien und Fan-Jubel.

⚽ Dass zur WM hier besonders darauf geachtet wird, Touristen in der Moskauer Innenstadt nicht mit allzu sichtbarer Armut die Laune zu verderben, darum ging es hier ja schon mal öfter. Die Moscow Times hat dazu eine eindringliche Geschichte zu erzählen: Am Platz mit den drei Bahnhöfen steht normalerweise ein Zelt, in dem Menschen, die Hilfe brauchen, eine warme Mahlzeit und ärztliche Versorgung bekommen. Allerdings: Wer als WM-Tourist z.B. zu einem Spiel in Nischni-Nowgorod will, der steigt an einem dieser drei Bahnhöfe in seinen Zug.

Damit also die Fußballfans nicht dem Anblick von Obdachlosen und Armen ausgesetzt sind, wurde der Hilfsorganisation, die das Zelt betreibt, ein Umzug verordnet. An den Stadtrand, unsichtbar für WM-Gäste, und für viele Bedürftige schwer zu erreichen. Das ist mehr als nur unbequem: Für Menschen, die auf medizinische Hilfe angewiesen sind und diese bisher am Platz mit den drei Bahnhöfen bekamen, kann es lebensbedrohlich sein.⚽ Unterdessen in Kasan: ein Fußballspiel der Bräute, oder zumindest ein Spiel von Frauen, die Brautkleider anhaben. „Kasan“ ist nicht nur der Name der Stadt, sondern auch für einen großen Topf, unter dem man Feuer macht, um darin etwas zu kochen. Auf dem zweiten Bild sieht man im Hintergrund das Gebäude in Kasan, das an dieses Konstrukt erinnern soll.

⚽  Was tun, wenn man sich mit jemandem unterhält, der diesen Sommer nach Russland kommt und sowas sagt wie: „Aber es ist doch alles so schön hier, die Leute sind zufrieden und freundlich – da zeichnen die Medien aber echt ein ganz falsches Bild“? Bisher habe ich auf einen Thread von Shaun Walker hingewiesen, der darauf hinweist, dass die Dinge eventuell ein bisschen komplexer sind, und dass auch in einem autoritär regierten Land, dessen Bürger nicht viele Freiheiten haben und, wenn sie aufmucken, Probleme kriegen, trotzdem Lebensfreude, Fußballbegeisterung und Gastfreundschaft herrschen können.

Nun hat Marc Bennetts einen Kommentar geschrieben, der vor allem diesen Vorwurf, das mediale Bild Russlands sei zu negativ, aufgreift. Er beginnt mit einer kleinen Erklärung, was die Aufgabe von Jouralismus ist (und was für Infos man eher aus einem Reiseführer erwarten sollte) und spielt dann sehr schön durch, wie es aussähe, wenn man diese Forderung, doch bitte mehr aufs Positive zu blicken, z.B. bei der USA-Berichterstattung einforderte: Wieder ein Amoklauf an einer Schule, aber hey, der Central Park ist echt schön. Oder, anders formuliert: „What is it to be — articles on the reported mass torture of gay men by Chechen security forces, or a detailed examination of the quality of the mozzarella on pizza toppings?“ Bilanz: „Don’t Blame Journalists for Bad News About Russia“.„It’s a lot nicer than I thought it would be“ is the official unofficial slogan of Russia 2018

⚽ Es gibt Gastgeberstädte, für die ist die WM schon vorbei. Saransk zum Beispiel: In der kleinen Stadt können sie die Bürgersteige jetzt wieder hochklappen, der Trubel ist vorbei, die Fans wieder abgereist. Was bleibt: Die Erinnerung an Frauen aus dem Iran, an Jubel im Stadion. Und ein Gouverneur, der poetische Dinge wie dies hier sagt: „Eine große Traurigkeit wird sich über uns legen, aber wir müssen uns wieder an die Arbeit machen, denn uns steht unsere eigene Weltmeisterschaft ins Haus, und das ist die Ernte. Die ist sehr wichtig für uns.“

⚽ Erik Stoffelshaus war früher bei Schalke, ist inzwischen bei Lokomotive Moskau und hat insofern einen guten Blick darauf, wie sich die Fankultur im deutschen und im russischen Fußball unterscheidet.

In einem ZEIT-Interview bringt er das so auf den Punkt: „In Deutschland ist es so: Wenn man einen Fußballverein unterstützt, dann mit Leib und Seele. Wenn der absteigt, dann steigt man mit ab. Wenn der die Meisterschaft gewinnt, dann feiert man mit. Hier kommt mir alles ein wenig distanzierter vor. Man wartet lieber ab, wie das Spiel ausgeht, was es zu sehen gibt, bevor man sich entscheidet, einen Club zu unterstützen.“ Auch was Russland tun muss, damit die WM dem heimischen Fußball einen Schub gibt und nicht einfach verpufft, erklärt er in dem Gespräch, das man hier nachlesen kann.⚽ Was muss man tun, damit die während der WM betont nachsichtige Polizei dann doch aggressiv wird und auf einen einprügelt? Aufs Dach eines Polizeiautos klettern und dort wippend feiern, dass Russland im Viertelfinale ist. Das soll jedenfalls der Hintergrund dieser Szene hier aus Woronesch sein:

⚽  Neulich habe ich eine Stunde lang mit Lars geskyped, er hat geredet und geredet und geredet, und ich hab gedacht: Was für eine Geschichte! Und wie wirst du der jetzt gerecht? Das Ergebnis hat nur am Rande mit Fußball zu tun, dafür aber damit, wie Lars in Russland aufwuchs, warum er das Land verließ und was das alles mit seiner Identität als Transmann zu tun hat: Found in Translation.

⚽ Von Lars‘ Kindheits-Gekicke auf dem Asphalt in einem russischen Innenhof zum Thema russischer Fußball-Nachwuchs im Allgemeinen. Wie teuer es ist, sein Kind auf eine der Fußballschulen im Land zu schicken, davon war ja letzte Woche hier schon mal die Rede. Nun hat Spon ein Interview mit dem russischen Fußball-Kommentator Sergej Krivokharchenko, nach seiner Einschätzung liegt das Problem noch ein ganzes Stück tiefer: Viele Talente werden nicht einmal entdeckt, „die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß, dass der russische Messi irgendwo in Sibirien als Wachmann arbeitet oder an einer Tankstelle.“

⚽ Dieses Spiel zwischen Japan und Polen, wie war das noch mal? Der Fernsehsender Match TV schaltet zu seinem Mann vor Ort, und dann geht irgendwas schief. Denn der glaubt, er sei nicht live, sondern zeichne auf, gönnt sich erst einen Patzer und dann einen Fluch. Das beste an dem Clip ist der kontrolliert stoische Gesichtsausdruck des Studiomoderators im Anschluss.

⚽ Was passiert, wenn man versucht, mit der Fan-ID von jemand anderem ins Stadion zu kommen? Molly Zuckerman aus St. Petersburg hat es ausprobiert, offenbar nicht als journalistischen Selbstversuch, sondern tatsächlich aus eigener Doofheit. Die wenig überraschende Antwort heißt: Man wird erwischt, festgenommen und muss mit auf die Polizeiwache. So weit, so unspektakulär. Sie hat eine unterhaltsame Reportage darüber geschrieben, auch wenn manchmal wohl die Pointe wichtiger war als die Recherche – wie bei dem Typen, der angeblich nur deshalb festgehalten wird, weil er kein Russisch kann.

Richtig nervig finde ich aber eine Stelle: In den USA, schreibt Zuckerman, habe man sie einfach weggeschickt, wenn sie versucht habe, mit falschem Ausweis in einen Club zu kommen, „but this is Russia“, also habe man sie festgenommen. Ja, klar. Oder vielleicht ist der Unterschied doch eher, dass keiner im Club Schaden nimmt, wenn eine Minderjährige um ihn rumtanzt, dass es bei großen Turnieren aber meist einen blühenden Schwarzmarkt gibt, der die Preise so hochtreibt, dass sie – gerade für Fans mit Normalgehalt – unbezahlbar sind. Oder dass hinter einem Club kein Riesenunternehmen wie die FIFA steht und die Regeln diktiert. Aber das ist natürlich nicht halb so sexy wie „Ich wurde verhaftet, und Russland ist schuld.“

⚽  Schweiz gegen Costa Rica, klar, das kennt man: Das ist eines dieser Spiele, wo die Gefühle hohe Wellen schlagen und sich die Aggression auf den Tribünen Bahn bricht.

⚽ Der Guardian hat in seinen Archiven gegraben und einen Artikel aus dem Juni 1928 online gestellt. Man kann darin lesen, was sich hier seitdem verändert hat („Moscow is still, as it always was, a big village.“) und was nicht („This privilege is shared by those who have enough money to pay bribes. All these things are done openly. There is no concealment about the sums that are paid.“) Fußball kommt in dem Text nicht vor, eigentlich überhaupt kein Sport. Die Jugend, heißt es, spiele lieber Karten.

⚽ Wie das so ist, wenn man mal ein Amt hatte, heute keines mehr hat, aber gerne in den Schlagzeilen bleiben möchte: Gennady Onischtschenko war mal Russlands oberster Hygiene-Wächter (so eine Art Gesundheitsamts-Chef, wenn es ein deutschlandweites Gesundheitsamt gäbe) und war schon damals immer für eine steile These zu haben. Nun hat er wieder eine rausgehauen: Mit jedem Sieg der russischen Nationalmannschaft steigt im Land die Lebenserwartung, so Onischtschenko – die Herleitung hat, vereinfacht gesagt, was mit persönlichem Wohlbefinden und positiver Einstellung zu tun.

Wenn das so ist, möchte man Russland ja den Finaleinzug, ach was: den Weltmeistertitel wünschen, das Land hat es schließlich immer noch bitter nötig. Außerdem hätten dann nach der geplanten Erhöhung des Rentenalters mehr Menschen eine Chance, ihre Pensionierung zu erleben.

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Ein Rausschmeißer noch, der nichts, aber auch gar nichts mit der WM zu tun hat: Wer sich den Twitter-Account „Footballers with animals“ angucken kann, ohne grinsen oder lächeln zu müssen, tut mir leid und ist mir zugleich suspekt. Danke an @Absatzkick für den Tipp! Mehr Russball dann wieder nächsten Mittwoch, das ist dann schon ein Halbfinaltag. Bis dann!



 

Russball, Folge 53: Das ist nicht mehr das Moskau, das ich kenne

Russball kscheib Suus Agnes 2 signed

Taxifahrer, die aussteigen und einem die Tür aufhalten. Laut singende Menschen, die abends durch unsere Straße ziehen. Polizisten, die Dinge durchwinken, die hier sonst sofort abgebrochen oder mit Festnahmen enden würden: Transparente ausrollen, auf Denkmäler klettern, sowas. Für diejenigen, die von außen angereist sind, mag das gar nicht so besonders sein: Eine Stadt, in der eine Fußball-WM stattfindet, natürlich sind die Menschen da ausgelassen, die Polizei versucht’s erst mal mit Deeskalation, die Einheimischen zeigen sich von ihrer besten Seite.

Für die von uns, die hier dauerhaft leben, ist der Unterschied sehr viel deutlicher. Der Moskauer an sich, er ist halt oft eher so eine Art Berliner: Kurz angebunden bis unwirsch, vor allem, wenn man was fragen will. Die Polizei zeigt sich normalerweise (Ausnahmen bestätigen die Regel) eher demonstrativ präsent als zurückhaltend. Derselbe Gesichtsausdruck, der für uns in Deutschland ernst und abweisend wirkt, gilt hier als normal.

Was das mit den Moskauern macht, ist sehr hübsch in einem Artikel der Nowaja Gasjeta beschrieben, deren Reporter sich im Zentrum der Stadt unter die feiernden ausländischen Fans gemischt hat: „Menschen, die in Shorts, Jeans, kurzen Röcken ihre Beine hochwarfen. Kolumbianer. Der Karneval hatte gerade erst begonnen, und die Moskauer Großmutter, die die Kolumbianer nun so betrachtete, wie Großmütter sonst Hare Krischnas mit Trommeln betrachten, konnte noch ungestört ihre Lieblingsstraße entlang gehen.“

Und ich bin irgendwo zwischen grummeliger Empörung (Na toll, für die vier Wochen versteht ihr also plötzlich Englisch, helft Leuten, die nach dem Weg fragen und rempelt nicht alle zur Seite, die im Bus eine halbe Sekunde zu spät die Tür frei machen) und Rührung. Diese Rentner, die sich da in der Innenstadt um einen Akkordeonspieler gesammelt haben und nun singen und vorbeiströmende Fans zum Mittanzen animieren – so wunderbar ist Moskau, wenn es sich mal richtig ins Zeug legt.

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⚽ Der WM-Effekt ist nicht auf Moskau beschränkt. „Solche Gefühle hat Samara noch nicht erlebt“, heißt es in einem Artikel der Komsomolskaja Prawda. Was war passiert? Vor dem Spiel Costa Rica – Serbien war eine große Gruppe Costa-Ricaner vor das Mannschaftshotel gezogen und hatte dort ihr Team so lange besungen, bis sich die Spieler zeigten und bedankten. Das Video allein macht schon gute Laune:

Der größte Spaß ist aber, zu lesen, wie der Journalist vor Ort diese ungewohnte, importierte Lebensfreude beschreibt: „Es war ein monumentaler, unvorstellbarer Anblick: Stellen Sie sich bloß vor, dass mitten in den Straßen von Samara (…) eine Menschenmenge aus heißblütigen Lateinamerikanern tobt, die Polizei gelassen daneben steht und darauf achtet, dass diese Leidenschaft nicht ausufert, die Busse ruhig auf die Nebenspur wechseln und Passanten sofort nach der Kamera oder dem Telefon greifen.“ Die Verwunderung, was in Russland plötzlich möglich ist, kann man gut heraushören.

⚽ Das ging schnell: Gestern habe ich darüber gebloggt, dass Leonid Sluzki in seiner Rolle als WM-Experte bei Russlands wichtigstem Staatsfernsehsender beiläufig Alexej Nawalny erwähnt hat. Das ist dort, na sagen wir mal: unüblich. Sehr unüblich. Massiv unüblich. Einige Stunden lang wurde Sluzki im Netz als Held gefeiert, man fragte sich bereits, welche heiklen politischen Themen er als nächstes ansprechen würde.

Dann, spät am gestrigen Abend, kam die Meldung: Sluzki wird keine weiteren Spiele mehr im Fernsehen kommentieren. Der Status Quo in seiner ganzen deprimierenden Reichweite ist damit wiederhergestellt. Lektion für alle: Wer ihn verletzt, fliegt raus.

⚽ Rund 33.000 Leute passen ins Stadion in Jekaterinburg, nur 27.000 waren am Freitag da, als Ägypten gegen Uruguay spielte. Sowas fällt auf, vor allem, wenn man Sitze in Knatschorange hat. Warum bleiben da so viele Plätze frei, die Frage beschäftigt viele Russen. Auch der Regionalgouverneur, Jewgeni Kuiwaschew, konnte sich in einem Instagram-Post den Ärger nicht ganz verkneifen: „Es hat mich ein wenig gekränkt, die leeren Plätze zu sehen, aber mir fehlen dazu die Befugnis und die nötigen Informationen: Für Tickets sind unsere Partner bei der FIFA zuständig.“

Игра закончилась победой Уругвая над Египтом, счет 1-0. Первый матч ЧМ в Екатеринбурге прошел без происшествий, все службы отработали хорошо. Впереди еще три игры. Стадион «Екатеринбург Арена» зарекомендовал себя прекрасно. В комментариях пишут про пустые места на центральной трибуне. Да, к сожалению, оставались свободные места. Согласно данным FIFA, на игру пришли 27015 человек, хотя были распространены более 30 тысяч билетов — на все свободные места. Мне было немного обидно видеть пустые места, но я тут не обладаю полномочиями и необходимой информацией: билетами занимаются наши партнеры из FIFA. В любом случае, заполняемость стадиона составила более 80%, боковые и верхние трибуны были заполнены почти под завязку. Болельщики получили огромное удовольствие от игры. Надо учитывать и то, что все-таки внимание к командам Уругвая и Египта не такое большое, как к некоторым другим сборным. В будущем нас ждут игры Мексики, Швеции, Франции. Думаю, людей на стадионе будет достаточно.

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Eine Erklärung ist, dass auf den leeren Plätzen VIP-Gäste sitzen sollten, denen es dort dann zu kalt war. So klingt es auch bei der FIFA, die nur etwas schwammig von Gruppenbuchungen spricht, bei denen die Gruppenmitglieder nicht erschienen seien. Die Vermutung liegt nahe, dass da nicht von Fan-Reisegruppen die Rede ist, sondern von Sportfunktionären oder Jekaterinburger Offiziellen.

Ein Fan hat unterdessen ganz andere Probleme: Er kam zu dem Spiel in Jekaterinburg und musste dort feststellen, dass es seinen Sitzplatz nicht gab. Die Nummer, die auf seinem Ticket stand, gab es im Stadion (das ja für die WM umgebaut wurde) nicht.

⚽ Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ihr über das Deutschland-Mexiko-Spiel in den vergangenen Tagen schon genug gesehen und gehört habt. Da spare ich mir also sowohl Gejammer als auch Analyse, sondern verlinke einfach eine kleine russische Presseschau vom Morgen danach.

⚽ Dieses Spiel da in Wolgograd, England gegen Tunesien, muss ja ein ziemliches Mückenfestival gewesen sein – hier eine kleine Fotosammlung zu dem Thema. Sportschau-Frau Julia Scharf entschied sich für den einzig passenden Hut und bekam dafür sogar die Aufmerksamkeit russischer Buchmacher:

„Ausländische Journalisten diskutieren während des Spiels zwischen Tunesien und England in sozialen Netzwerken die leeren Plätze und die Grashüpfer im Stadion„, heißt es da. „Das deutsche Fernsehen macht seine Übertragung generell in Masken.“ Stimmt so nicht, aber das Foto ist in der Welt und dreht seine Runden im Netz. Ach so, und eine Torte in Stadionform gab es auch.

⚽ Schön, wofür sich der russische Geheimdienst alles zuständig fühlt: Die kroatische Nationalmannschaft, die ihr Quartier irgendwo in der Nähe von St. Petersburg hat, wollte Fahrräder für ihren Kader haben, 30 Stück. Abgenickt werden musste das nach dem Bericht einer regionalen Nachrichtenseite allerdings von den zuständigen Sicherheitsleuten, und deren Chef ist vom FSB. So fiel die pragmatische Entscheidung: 30 Kroaten auf Fahrrädern, wie sollen wir die denn alle im Auge behalten? Komm, wir geben ihnen zwei Fahrräder, das muss reichen.

Besonders zauberhaft ist der Witz, der dem Bericht zufolge rund um das Mannschaftsquartier kursiert: Wenn auch nur einem der kroatischen Nationalspieler etwas passiere, heißt es da, könnten sich die Sicherheitskräfte, die für sie zuständig sind, schon mal darauf einstellen, demnächst nur noch Schachturniere in Sibirien zu bewachen. Und wenn die fahrradlosen Kroaten demnächst wegen akutem Lagerkoller aus dem Turnier ausscheiden, können sie immerhin sagen: Der FSB ist schuld!

⚽  Es gibt viele Dinge, die man am DFB kritisieren kann. Die überzogenen Versprechungen zum Moskauer Fan-Camp zum Beispiel, oder das Rumlavieren beim Thema Menschenrechte in Russland. Der Fairness halber soll aber hier auch erwähnt sein, dass sich die offizielle Delegation vorgenommen hat, sich hier auch mit Menschen und Organisationen zu treffen die sich für Freiheitsrechte einsetzen. Eines dieser Treffen war mit Memorial, wer mehr über diese NGO erfahren will, kann das hier.

⚽ So sieht es aus, wenn Fußballfans nach dem WM-Eröffnungsspiel in Moskau die Nacht zum Tag machen: Das Strelka-Institut zeigt, wann und wo Menschen in einer normalen Nacht in Moskau etwas kaufen (grün) und wann sie in der Nacht nach dem Eröffnungsspiel etwas gekauft haben (pink). In einer durchschnittlichen Juni-Nacht gibt es zwischen Mitternacht und 9 Uhr morgens kaum irgendwelche Einkäufe, heißt es im Artikel zu der Grafik.

strelka

In der WM-Nacht hingegen kann man sehen, wie die ganze Nacht hindurch Transaktionen stattfinden, vor allem von Fans, die Essen und Getränke kaufen. Man sieht, gerade nach Miternacht, ganz deutlich, wo Moskaus Kneipenstraßen liegen. Die Summe, die in dieser Nacht für Getränke ausgegeben wurde, lag doppelt so hoch wie sonst. Und wo wir schon bei Fans sind und der Frage, wofür sie Geld ausgeben: Seit Beginn der WM sinken die Mietpreise in Moskau – vermutlich, weil sie vor dem Turnier so obszön hoch waren.

⚽ Zum Schluss noch ein Wort zu Russlands 3:1 gestern Abend, das aller Wahrscheinlichkeit nach ja den Einzug ins Achtelfinale bedeutet. Das Spiel war gar nicht so doll, aber hinterher noch ein bisschen ins Stadtzentrum zu fahren, dort die hupenden Autos und feiernden Leute zu sehen – das hat schon großen Spaß gemacht.

Für die russischen Fans ist der Erfolg um so schöner, als er so unerwartet kommt. Am besten merkt man das vielleicht an einem Artikel von Championat.ru, dessen Überschrift schlicht lautet: „АААААААААаааааааа!!!1“ Darum zum Schluss noch ein Actionfoto, bei dem ihr mir einfach mal glauben müsst, dass es ein beflaggtes Auto zeigt, das in der Dunkelheit über den Neuen Arbat fährt.

kscheib moskau autokorso

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So, morgen gehe ich mir dann übrigens auch endlich mein erstes WM-Spiel live ansehen, Portugal gegen Marokko, hier bei uns im Luschniki-Stadion. Dank Reuters weiß ich, dass wohl auch ein ausgesuchter Möpp mit im Stadion sein wird: Sepp Blatter, früherer FIFA-Chef. Der ist zwar eigentlich für alle fußballerischen Aktivitäten gesperrt, aber was heißt das schon. Es ist WM in Russland, und wenn der Präsident dem Blattersepp einen Stadionbesuch ermöglichen will, dann macht er das auch.

Bis nächste Woche, macht’s gut!



 

Elf Polizisten müsst ihr sein

Es gibt so Geschichten, bei denen kann man gar nicht fassen, dass man sie erlebt. So eine habe ich gerade hinter mir, und eigentlich müsste man danach mit einem Kräutertee aufs Sofa und von da nahtlos ins Bett, es ist ja auch schon halb eins. Geht aber nicht, ich muss ja gleich noch Albrecht anrufen. Da kann ich sie auch aufschreiben: Die Geschichte, wie ich mal einen Abend mit elf Polizisten verbrachte.

***

Alles fängt damit an, dass R. in der Stadt ist. Zum Arbeiten, als Journalist bei der WM. Am Vortag gelandet, akkreditiert und im Hotel eingecheckt, heute wollen wir zum Abendessen beim Lieblingsgeorgier. Wird nur leider nichts, weil sein Pass weg ist. Gemerkt hat er das am Schlagbaum zu unserem Wohngelände, wo die Wachmänner die Papiere kontrollieren, verloren gegangen sein muss das Ding in der Metro, die kleine Tasche an seinem Rucksack, deren Reißverschluss er geschlossen hatte, stand offen. R. geht den Weg zurück zur Haltestelle, ich telefoniere diverse Hotlines ab, beides erfolglos. Dann geht er an der Metro auf einen Polizisten zu, spricht ihn auf Englisch an, was der Polizist nicht versteht. Der will nun aber von R. erst mal den Pass sehen. Und so beginnt es.

Kurz nach 19 Uhr, herbeitelefoniert stoße ich zu R. hinzu in die kleine Polizeikammer in der Metrohaltestelle. Er und vier Polizisten stehen da, in unterschiedlichen Uniformen, mit Jacke oder nur im Hemd, gelegentlich kommt ein Neuer hinzu und ein Alter verabschiedet sich. R. erzählt auf Englisch, was passiert ist, ich übersetze mir einen zurecht, die Polizisten fragen, einer schreibt langsam und in Handschrift alles auf, was R. heute getan hat. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass das Albrecht ist. Er wird uns heute noch öfter begegnen, erst aber verbringen wir ein Stündchen mit Protokoll, Rumstehen, Rumstehen, Protokoll, zwischendurch kurz in den Supermarkt.

Inzwischen sind eine ganze Reihe Polizisten hinzugekommen. Einer in Zivil, in einem weißen Blouson, der wissen will, ob um den verlorenen Pass eine Hülle war. Einer im Anzug, der R.s Metrokarte ausliest und so erfährt, dass er um 17.03 Uhr in die Metro gestiegen ist. Einer in blauem Tarnfleck, mit Schutzweste und Schäferhund. Einer mit einer Kamera, der Bilder von R. mit seinem Rucksack macht und sie zu Leuten schickt, die die Kameraufnahmen aus der Metro nach ihm durchsuchen sollen. Eine Frau in Rock und Bluse, mit Pistole im Halfter und Ministeriumswappen am Ärmel. Die Atmosphäre ist routiniert bis sonntäglich, mit gelegentlich aufblitzender Freundlichkeit.

Warum zieht sich das hier alles so? Auf Nachfrage kommt raus, dass R. leichtfertigerweise die Grenzen zwischen mehreren Polizeibezirken überschritten hat: In einem Bezirk in die Metro gestiegen. In einem Bezirk gemerkt, dass der Pass weg ist. In einem Bezirk einen Polizisten um Hilfe gebeten. Darum dürfen hier so viele Leute mitspielen, darum müssen wir nun alle noch mal zu uns nach Hause fahren, ans Schrankenwärterhäuschen, um auch diesen Bezirk abzuhaken. Erste Fahrt im Leben mit einem russischen Polizeiauto? Check! Für uns alle reicht der Wagen natürlich nicht, darum fährt der Rest in einem Kleinbus hinterher. Am Schrankenwärterhäuschen zähle ich durch: zehn. Es sind zehn Polizeikräfte, die uns hier betreuen, für einen verlorenen Pass.

Enlight277R. muss vor dem Wärterhäuschen posieren, wird zusammen mit ihm fotografiert – Beweisaufnahme. Ein Nachbar, der uns gesehen hat, kommt und bietet Hilfe an. Ein Polizist raucht. Der Schäferhund setzt sich. Das hier wird wohl noch länger dauern. Ob R. vielleicht inzwischen in sein Hotel fahren könnte, da im Zimmer noch mal gründlich gucken? Nein, erst muss die Anzeige aufgenommen werden. In neuer Besetzung, diesmal zu fünft, steigen wir ins Polizeiauto, der Beifahrer ist sicher wichtig, er trägt Zivil. Zur WM sei R. also das? England gegen Russland habe er mal in Wembley gesehen, sagt der Zivilist, er selber sei ja Fan von Spartak, was wir denn zu der Sache mit Leicesters Meisterschaft 2016 sagen, und dass ja leider dieser deutsche Torwart Liverpool den Sieg in der Champions League verbockt hat. Wir nicken und hmmmmmen, um ihn möglichst wohlwollend zu stimmen.

„Gucken Sie nicht so genau hin, das Gebäude ist schon alt, von 1935“, sagt der Zivilmann, als wir an der Wache angekommen sind. Was wir betreten, fühlt sich an wie die sowjetische Interpretation eines Gebäudes aus einem Harry-Potter-Band: Die Wache ist rund, man läuft in der Kurve den Gang entlang, hier mal eine Gittertür, rissige Farbe an den Wänden. Nachfrage ergibt: Das Ding ist rund, weil die Polizeiwache ringförmig in die Metrostation „Smolenskaja“ eingebaut ist, einmal rund um die Kuppel der Eingangshalle. R. und ich werden in einen Aufenthaltsraum gebracht, der, natürlich, auch gerundet ist. An der Wand Fotos der Mitarbeiter beim gemeinsamen Skifahren und beim Tauziehen im Schnee. Rechts an der Wand Bilder von Kollegen, die im Dienst gestorben sind. „Guck mal, da ist einer von unseren“, sagt R. und zeigt auf die Pinnwand, über der „Die Besten ihres Berufs“ steht. Ach schau, da hängt er – der Mann, der später Albrecht sein wird.

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Dann holt man uns auch schon wieder ab, in einen winzigen, zugestellten Raum mit zwei Schreibtischen „Ich hab eine Übersetzerin, die Englisch kann“, verkündet der Zivilist dem Kollegen, der dort sitzt und tippt – Nummer elf des heutigen Tages. Der ist durchaus attraktiv und es ist nicht ganz ohne, von so jemandem angesehen zu werden, als sei man die Antwort auf all seine Fragen. Ob ich vielleicht diesem jungen Mann hier aus Ägypten mal seine Aussage vorlesen und übersetzen könnte, ob man sich richtig verstanden habe? Sein Portemonnaie ist weg, er ist seit zwei Tagen auf der Wache, hat dort übernachtet. Zu Gast in Moskau, ohne Geld, ohne Freunde. Der Polizist will, dass das Protokoll unterschrieben wird. Dem Ägypter ist das Protokoll egal, er weiß nicht, wie er ohne Geld zurück nach Tambow kommen soll, wo er studiert und übermorgen seine letzte Prüfung hat. „Das tut uns leid, aber wir sind ja nur die Polizei, keine Bank“, sagt einer. An der Wand lehnt ein Bügelbrett mit buntem Stoffbezug. Fische schwimmen in einem winzigen Aquarium, der Zivilist erklärt, dass das seine sind und wie stolz er auf sie ist.

Munteres Übersetzen mit viel Geholper, mal für den Beamten, der R.s Fall in den Rechner tippt, mal für den anderen. Ich wundere mich, was für Vokabeln man sich alle erschließen kann, wenn einen ein Polizist erwartungsvoll anguckt. Vielleicht ein Thema für Didaktiker. Dazwischen reden wir über Ägyptens Chancen bei der WM, der Zivilist klinkt sich ein, das mit Salah, was der Ramos da gemacht hat, war eine ganz dreckige Sache. Ich denke daran, wie ich vor zwei, drei Stunden noch geglaubt habe, mit einem russischen Polizeiauto zu fahren sei sicherlich das Verrückteste, was mir diese Woche passieren würde. „Wir erleben hier gerade eine Kurzgeschichte“, sage ich zu R. „Ist aber nicht besonders kurz“, antwortet er.

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Der Ägypter, den die drei Beamten alle beim Vornamen nennen und nahezu väterlich behandeln, wischt durch die Fotos auf seinem Handy und zeigt seine Zeichnungen: Eine junge Frau mit hochgesteckten Haaren, eine ältere Frau mit Kopftuch. „Der ist ein echter Künstler“, sagt einer der Polizisten, „Komm, zeig denen doch mal deinen Putin.“ Der Ägypter zeigt ein YouTube-Video, in dem er einen Leinwand bemalt. Man erkennt nur seltsame Formen, bis er das fertige Bild auf den Kopf stellt und es plötzlich unverkennbar Putin ist. „Damit hab ich einen Wettbewerb gewonnen, ‚Tambov’s got talent‘,“ sagt er stolz. Ich kann und kann und kann das hier alles überhaupt nicht fassen.

Der Ägypter findet, dass wir doch jetzt alle mal Freunde bei Facebook werden sollten. R. und ich vereinbaren in einer stillen Minute, dass wir ihm gleich jeder 1000 Rubel geben, dann kann er sich ein Zugticket nach Tambow kaufen. Dann wollen die Beamten wissen, ob R. während der WM noch andere russische Städte sehen wird. Was, echt, Saransk? Ist ja ein Ding, da ist doch der Polizist her, der gerade R. s Protokoll schreibt! „Der ist nämlich kein Russe, der ist Tatar“, frotzelt der Zivilist. Großes Hallo, der Tatar holt das Handy raus, zeigt Fotos von sich vorm Saransker Stadion, von seinen Kindern, der Sohn in Eishockeymontur. Der Zivilist geht mit, er war auch schon mal in Saransk, bitte mal gerade für R. übersetzen: Es gebe dort eine Kirche an einem Platz, und ein Denkmal für einen berühmten russischen Admiral. Es geht auf Mitternacht zu, wir sitzen in einem ranzigen alten Büro auf einer Polizeiwache und bekommen Tipps zur Freizeitgestaltung in Saransk. Das Maskottchen der Stadt, sagt der Zivilist,sei übrigens das Eichhörnchen.

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Irgendwann sind die Protokolle fertig. R. muss unter seins auf Englisch schreiben, dass seine Aussage richtig aufgeschrieben und ihm vorgelesen wurde. Darunter schreibt der Polizist denselben Satz auf Russisch und daneben: Beglaubigt von der Übersetzerin, Frau Katrin Scheib. Gleiches Prozedere beim Ägypter, dann werden die Unterlagen abgeheftet, in einen Safe gelegt und ich denke mir, dass es bei der Moskauer Polizei jetzt auf ewig oder zumindest bis zur endgültigen Digitalisierung zwei Protokolle gibt, auf denen steht: „Übersetzerin: Frau Katrin Scheib“. Wäre ich nicht komplett ausgelastet mit dem Gedanken, wie unglaublich das hier alles ist, ich wäre stolz.

So, sagt der Zivilist, „übersetzen Sie bitte dem jungen Mann, dass wir ihm jetzt ein Ticket kaufen für den Bus nach Tambow.“ Der Ägpter strahlt. „Nicht wir, die Polizei, sondern wir als Menschen.“ Der Ägypter nickt. „Fragen Sie ihn mal, ob er am Fenster sitzen will oder am Gang.“ Wo der Bus denn losfährt, will der Ägypter wissen, und der Zivilist sagt: „Wir haben hier einen Auszubildenden, der steigt morgen mit dir in die Metro, fährt mit dir bis zum Busbahnhof und setzt dich in den Bus, auf den richtigen Platz.“ R und ich gucken uns an und sehen im Blick des anderen die Frage, was wohl für ein Gefühl kommt, wenn „komplett fassungslos“ nicht mehr reicht.

„Bitte übersetzen Sie ihm, dass er sein Portemonnaie in Zukunft in die Hosentasche steckt oder in die Innentasche der Jacke, nie außen“, sagt der Zivilist noch. Der Ägypter bedankt sich, strahlt noch ein bisschen mehr, als wir ihm die 2000 Rubel geben, und verabschiedet sich, es gibt im Untergeschoss einen Schlafplatz für ihn. Der Polizist, der R.s Fall getippt hat, sagt, dass er Albrecht heißt, dass er und ich jetzt mal Telefonnummern austauschen, und dass R. dann mit dem Taxi in sein Hotel fahren soll, irgendwo in der Nähe des DFB-Mannschaftsquartiers. „Und wenn er gut angekommen ist und geguckt hat, ob da sein Pass liegt, dann ruft er Sie an, Katrin, und Sie rufen mich an und sagen es mir. Auf Wiedersehen.“

***

Fünf Minuten später stehen wir auf der Straße vor der Polizeiwache, R. und ich, umarmen uns und vergewissern uns, was wir da gerade erlebt haben. Fünf Stunden mit elf verschiedenen Moskauer Polizisten, mit viel Warterei, viel Protokollschreiben und viel Übersetzen. Eine Stunde später wird R. sein Hotelzimmer betreten und feststellen, dass der Pass dort nirgends ist, morgen muss er also mit seinem Polizeiprotokoll zur Botschaft. Doch was immer er dort erlebt – den heutigen Tag wird es nicht übertreffen.

Mehr über den Alltag in Russland während der WM hier.

Durchs wilde Kirgistan

Eine Jurte mit der kirgisischen Flagge, auf der wiederum ein Teil eines Jurtendachs abgebildet ist
Eine Jurte mit der kirgisischen Flagge, auf der wiederum ein Teil eines Jurtendachs abgebildet ist

Landschaftsformen: 5 bis 6

Was da alles drinsteckt, in diesem gar nicht so großen Land! Mal sind es Bergwiesen, satt und grün und lieblich, mit rauschendem Wasser, wilden Pferden und hier und da einer Jurte. Dann ein Canyon, knallrot und heiß, auf dessen staubtrockenen Felsen sich Eidechsen sonnen. Der Yssykköl, zweitgrößter Gebirgssee der Welt, ein paar Angler oder Badende am Rand und sonst nur Wasser bis zum Horizont. Steppe hier. Halbwüste dort. Und immer das Bedüfrnis: noch ein bisschen bleiben, noch etwas länger gucken, noch ein paar Fotos machen.

Im Skaska-Canyon sollen die Felsen an Märchenfiguren erinnern
Im Skaska-Canyon sollen die Felsen an Märchenfiguren erinnern

Mitgebrachte Infusionsbestecke: 3

Wenn auf der Kofferpackliste neben festen Schuhen, Fleecejacke und Sonnenschutz auch Einwegspritzen und Infusionsbestecke stehen, dann hat das Auswärtige Amt mitgeschrieben. Erst fühlte sich das ein bisschen übervorsichtig an – ich werd mir ja wohl nicht zwei Jahre in Folge im Urlaub was brechen. Dann saßen wir abends mit ein paar Freunden zusammen, die alle selbst gerne reisen und teilweise auch für Unternehmen arbeiten, wo Aufenthalte in Ländern mit nicht so guter ärztlicher Versorgung zum Job gehören.

„Spritzen und Infusionsbestecke, das ist ja gar nichts. Bei uns ist neulich ein Kollege nach Indien gereist, dem hat der Betriebsarzt ein komplettes sterilisiertes OP-Besteck mitgegeben.“ – „Ist bei uns auch so, und du kriegst das alles nur, wenn du auch gleichzeitig die Kondome mitnimmst, die er dir mitgibt.“ – „Stimmt, das hatte ich auch schon mal, drei Stück waren das damals.“ – „Nee, heute nur noch eines, wir müssen ja sparen.“

Die russisch-orthodoxe Kirche von Karakol
Die russisch-orthodoxe Kirche von Karakol

Gelesene Buchseiten: unter 100

Sonst war es immer so einfach: Einer fährt, der andere liest und guckt zwischendurch in die Landschaft. Wenn allerdings aus der Straße eine Schotterpiste wird, aus der Schotterpiste ein Trampelpfad und aus dem Trampelpfad irgendwann fast blanker Felsboden, ist er schwer, den Blick auf der Zeile zu halten. Einerseits.

Andererseits soll das nicht heißen, dass der Urlaub frei war von literarischen Stilmitteln, ganz konkret: dem inneren Monolog: Oh mein Gott, da sollen wir rauf? In einem Auto? Ist das nicht ziemlich steil, und schmal, und dann zur Seite plötzlich… okay, der da drüben macht das in einem alten Golf, und ich fahr hier einen Jeep. Aber der ist auch Kirgise! Der hat Übung, Gene… ach guck, hat doch geklappt. Und das da vorne über den Fluss, das soll also eine Brücke… aber… haben Brücken nicht normalerweise Geländer? Und eine ebene Oberfläche statt grob nebeneinander montierte Baumstämme? Das wird nichts. Das kann ich nicht. Wir werden alle sterben, oder zumindest umkippen, oder…

Und laut dann: „Oh Mann, der Blick hier oben. Toll, oder?“ – „Ja, toll.“

Felsen am Südufer des Yssykköl
Felsen am Südufer des Yssykköl

Gescheiterte Polizei-Abzocken: 1

Die Polizei in Kirgistan ist legendär korrupt. Autovermieter, Reiseblogger, Bekannte, alle waren sich einig in ihrer Warnung. Wir hatten uns also vorbereitet: bloß ein paar kleine Som-Scheine ins Portemonnaie und, Faustregel: Wir können heute leider mal so gar kein Russisch. Gesehen haben wir täglich zwei, drei Geschwindigkeitskontrollen, rausgewunken wurden wir erst am vorletzten Tag, in einer 40-km/h-Zone.

Ich wusste, mehr als 35 war ich nicht gefahren – schon wegen der Schlaglöcher. Der Polizeimann sah das anders, tippte Zahlen auf seinem Handy-Taschenrechner und erklärte auf Russisch: „Hier ist 40. Sie sind 52 gefahren. 3000 Som Strafe.“ Ich: „Why?“ Er: „Hier ist 40. Sie sind 52 gefahren. 3000 Som Strafe.“ Ich: „I don’t understand.“ Nächste Eskalationsstufe: Er malt die 40 und die 52 auf einen Zettel (vielleicht liegt’s am Medium, dass die komische Ausländerin nichts versteht?) und fordert nun auch nur noch 2000 Som.

Ein paar Runden haben wir das Spiel noch gespielt, er mit seinen Zahlen, ich mit „Why“, „I don’t understand“, „I don’t speak Russian“. Dann war es ihm irgendwann zu viel kostbare Zeit, in der man gefügigere, sprachkompetentere Autofahrer hätte abzocken können. Wir fuhren weiter. Mit 35, höchstens.

Der Strand in Bosteri am Nordufer, fotografiert aus der Gondel eines Riesenrads
Der Strand in Bosteri am Nordufer, fotografiert aus der Gondel eines Riesenrads

Staatstragende Motivationskampagnen: 1

Im Vergleich zu vielen anderen -Stanen ist Kirgistan etwas demokratischer, es gab hier seit dem Ende der Sowjetunion schon eine ganze Reihe Präsidenten, einmal sogar eine Präsidentin. Der aktuelle Amtsinhaber, Almasbek Atambajew, wird denn auch nicht so sehr wie seine Kollegen aus den Nachbarländern als omnipräsenter, sonnengleicher Führer inszeniert. Nur einmal ist uns eines seiner Porträts begegnet, am Zaun zu einem Museumsgelände.

Durchaus postsowjetisch fühlt sich dagegen die Plakatkampagne an, deren zahlreiche Motive an den größeren Straßen stehen: Mal sind es uniformierte Soldaten, mal ein Mähdrescher, mal Ärzte im OP, mal Frauen in der Landwirtschaft. Begleitet werden sie vom immer gleichen knappen Slogan, auf Kirgisisch und Russisch: „Wir arbeiten!“ Ob das nun eher „Komm, pack an!“ vermitteln soll oder „Es gibt auch hier Arbeitsplätze, nicht alle müssen nach Russland abwandern“ – schwer zu sagen. 

Frauen verkaufen Kurut auf dem Osch-Basar in Bischkek
Frauen verkaufen Kurut auf dem Osch-Basar in Bischkek

Tage, die mit Kascha begannen: 7

Tage, die mit Lagman – dicken Nudeln mit Gemüse, serviert im Sud und mit vielen Kräutern – endeten: 5. Auch sonst war beim Essen einiges neu fur uns: „Koreanischer Möhrensalat“ zum Beispiel, der ungefähr so koreanisch ist wie Spaghetti-Eis italienisch. Kurut, kleine harte Knubbel, für die Joghurt getrocknet, gesalzen und gerollt wird.

Geröstete Bohnen vom Basar, die man wie Pistazien aus ihrer Schale fischt und dann knabbert. Und Tschalap, ein Getränk wie Ayran, nur salziger und mit viel Kohlensäure. In Bischkek sitzt an jeder zweiten Straßenecke eine Frau mit einem Tschalap-Fass. Vor allem bei 36 Grad zu Beginn unserer Reise genau das richtige Getränk.

Das Ortseingangsschild von Rotfront
Das Ortseingangsschild von Rotfront

Deutsche Spuren: viele

Der Ort „Rotfront“, gegründet von deutschen Mennoniten im Jahr 1927 als „Bergtal“. Die vielen Marx- und Engels- sowie gelegentlichen Thälmannstraßen. Vor allem aber: Autos. Was in Deutschland fürchten musste, nicht mehr durch den TÜV zu kommen oder einfach durch neuere Modelle ersetzt wurde, fährt nun über die Straßen von Kirgistan.

Was haben wir alte Audis gesehen, die sich tapfer über Schotterpisten kämpften. Und die Klein- und Großlaster erst, oft noch mit den ursprünglichen Werbeaufschriften: „www.Reifers-Reisen.de“ – „Otte: Qualitätsgemüse frisch aus deutschen Landen – schmackhaft und gesund“. Nur der Mercedes Sprinter vom Hüpfburgverleih, der kam aus Holland.

Unterwegs mit zwei PS
Unterwegs mit zwei PS

Ungelöste Globalisierungsrätsel: 2

Alte Frachtcontainer sind hier als Baumaterial, sogar als Wohngebäude populär. Wir sind an großen Geländen vorbeigefahren, die komplett mit Containerwänden umzäunt waren, Kirchen mit einem Container als Nebengebäude, sogar ein Haus, das einfach aus sechs gestapelten Containern bestand. Ob das billiger ist als Mauern? Hier, wo doch an vielen Orten Ziegelsteine hergestellt werden?

Vor allem aber, Rätsel Nummer zwei: Warum sieht man hier ständig Plastiktüten von Morrisons, der britischen Supermarktkette? Obst auf dem Basar – in der Morrisonstüte. Mineralwasser im Laden – in der Morrisonstüte. Selbst im Hotelbadezimmer hängt eine Morrisonstüte im Mülleimer, eine obdachlose Frau in Bischkek trägt ihre Habseligkeiten in drei Morrisonstüten rum. Morrisons hat keine Filialen in Kirgistan, es reicht außerhalb der britischen Inseln gerade mal für Gibraltar. Also, werden die Tüten nebenan in China hergestellt und beim Transport über Land ist regelmäßig ordentlich Schwund? Oder kann es daran liegen, dass es alles Tüten mit dem alten Logo sind, die in Großbritannien keiner mehr haben wollte? Und dann wurden die irgendwie nach Kirgistan verramscht?

Angeln mit Bergpanorama
Angeln mit Bergpanorama

Fotografierte Bushaltestellen: 8

Ob alte deutsche Audis oder neue japanische Modelle: ein Auto ist etwas, das sich bei weitem nicht jeder in Kirgistan leisten kann. Tatsächlich sieht man ab und an noch Eselskarren, wirklich entscheidend für die Fortbewegung sind aber Marschrutki, die weißen Sammeltaxis. Egal, ob du vom Stadtzentrum von Bischkek schnell mal zum Basar willst oder von einer Stadt hunderte Kilometer in die nächste: Die Marschrutka bringt dich hin. Und wo Busse fahren, braucht man Bushaltestellen.

Die Exemplare an unserer Route waren, immer wieder, Kompromisse zwischen Beton und Spieltrieb. Seltsam, wie viele unterschiedliche Formen man finden kann für ein Dach mit Stützen und eventuell noch einer Rückwand. Fliesen, Mosaike, Putz, alles nicht mehr ganz neu. Aber in all seinem bröckeligen, verspielten Charme doch immer wieder ein Grund, langsam zu fahren, anzuhalten und etwas zu fotografieren, das in keinem Reiseführer als Sehenswürdigkeit vorkommt.

Jurtenlager in Bokonbajewo
Jurtenlager in Bokonbajewo

Die Fotos hat übrigens Markus gemacht, mehr hier.

Eine Email aus #ElectricYerevan

Tatev

Dass Tatev Vardapetyan und ich uns kennengelernt haben, ist erst ein paar Monate her. In einer Kneipe in Jerewan saßen wir auf dem Boden und redeten zwischen Bier und Pizza über die politische Lage in Armenien, über Deutschland, Russland und die Türkei. Ich rede gerne schnell. Tatev redet schneller.

Sie ist 23, hat als Journalistin über Menschenrechtsfragen berichtet und koordiniert außerdem das Projekt „Radio Without Borders South Caucasus„. Und seit einigen Tagen besteht ihre Facebookseite aus immer neuen Posts zur Protestbewegung #ElectricYerevan, aus Fotos von Demonstranten und von Polizisten.

Letzte Nacht haben wir hin- und hergemailt.

Tatev, wo bist Du gerade? Wie antwortest Du auf meine Fragen?

Gerade bin ich auf der Baghramjan-Allee, die immer noch von Demonstranten besetzt ist – schon seit neun Tagen, aber die Menschen sind immer noch hier, wenn auch nicht mehr so viele wie zuvor. Aber die, die noch hier sind, sind motiviert und entschlossen, so lange wie nötig zu bleiben. Mithilfe von Freunden habe ich ein Laptop mit WLAN-Verbindung gefunden.

Wie ist die Atmosphäre um Dich herum?

Im Moment sehe ich zwei Hauptgruppen vor mir: Leute, die patriotische Lieder singen, tanzen und die Slogans der Protestbewegung rufen („Wir sind die Besitzer dieses Landes“, „Wir werden siegen“, „Schließt euch an“ und „Nicht plündern“) und, ein Stück weiter weg, Leute, die im Kreis auf dem Boden sitzen und eine öffentliche Diskussion begonnen haben. Hauptsächlich geht es um die Frage, was wir als nächstes tun sollen. Die Diskussionen sind basisdemokratisch, wir haben keine Führung, kein Richtig oder Falsch. Und wir achten darauf, dass jeder mitmachen kann – bei uns findest Du LGBT-Gruppen und Nationalisten nebeneinander.

Die öffentlichen Diskussionen laufen seit gestern, wir wollen sie jeden Tag zur selben Zeit fortsetzen. Es gibt auch schon Arbeitsgruppen mit festen Agendas – eine von ihnen hat zum Beispiel die Facebook-Gruppe „Electric Yerevan Media Hub“ gegründet. Sie sammeln verlässliche Informationen, Artikel und Neuigkeiten zu den Protesten, um Falschmeldungen und Propaganda in den Medien zu bekämpfen. Das ist wichtig, um Leuten zu zeigen, wie bürgerschaftliches Engagement funktioniert.

Seit wann beteiligst Du Dich an den Protesten?

Ich habe mich den Protesten am 23. Juni angeschlossen, nachdem die Polizei mit Gewalt eine Demonstration aufgelöst und viele Menschen verhaftet hat. Die ganze Gesellschaft war empört über die Brutalität der Polizei, denn die Demonstranten waren und sind friedlich. Tatsächlich war die Härte des Polizeieinsatzes der Hauptgrund, warum sich an dem Tag Tausende Menschen auf der Baghramjan-Allee versammelt haben. Wir verlangen auch, dass die Polizisten sich für ihr Vorgehen rechtfertigen müssen und diejenigen bestraft werden, die Gewalt gegen friedliche Demonstranten eingesetzt haben.

Wer sind Deine Mitdemonstranten?

Nationalisten, Leute von Bürgerinitiativen und NGOs, Menschenrechtler, Leute aus der LGBT-Community, Feministen – alles Mitglieder der armenischen Gesellschaft, und irgendwie haben wir es geschafft, die letzten neun Tage friedlich miteinander zusammenzuarbeiten. Am Anfang gab es noch Anführer, inzwischen organisiert sich die Basis selber.

Man muss auch sagen, dass solche Bürgerbewegungen in Armenien noch sehr neu sind, wir müssen noch viel lernen. Zum Beispiel hatten wir eine Woche lang keine Agenda – wir haben nur getanzt, gesungen, zusammen gegessen, Sprechchöre gemacht und versucht zu verhindern, dass die Polizei unser 24-Stunden-Sit-in auflöst. Das war unsere Schwäche.

Als Präsident Sersch Sargsjan angeboten hat, die Regierung könne die Kosten für die Strompreiserhöhung übernehmen, während unsere Notfallfinanzierung überprüft wird, haben wir „nein danke“ gesagt – das deckt sich nicht mit unseren Forderungen. Denn das würde ja bedeuten, dass sie Mittel aus dem Staatshaushalt nehmen, mit anderen Worten: unser Geld. Daraufhin wurde die Situation hier auf der Baghramjan-Allee sehr unübersichtlich, vor allem als die Polizei drohte, die Straße zu räumen. Einige Demonstranten sind auf den Freiheitsplatz gezogen, um die Situation auf der Allee zu entschärfen, die Leute hier hat das verunsichert: keine Anführer, keine Agenda, keine Pläne, wie es weitergeht. Da haben wir gemerkt, dass wir die öffentlichen Diskussionen brauchen, um die Zukunft zu planen.

Interessiert #ElectricYerevan irgendwen abseits der Hauptstadt?

Unser Hashtag ist zwar #ElectricYerevan, aber Proteste gab es auch anderswo, darum hieß es auch schon #ElectricArmenia. In Gjumri und Wanadsor wird jeden Tag demonstriert. In einigen Dörfern haben Leute ihre Autobahn blockiert. Und wir haben viel Unterstützung aus dem Ausland – Menschen aus der armenischen Diaspora haben in den USA und in Europa Demos organisiert. Es gab Solidaritätsaktionen von Mitgliedern der Gezi-Park-Protestbewegung in der Türkei, von Linken und Sozialisten in Russland, der Ukraine, Georgien und selbst in Aserbaidschan.

Siehst Du Parallelen zwischen eurer Protestbewegung und denen in anderen Ländern?

Ich glaube, #ElectricYerevan ähnelt allen Bewegungen, die von jungen Leuten angestoßen wurden – parteifern und ohne klare Anführer. Und ich hoffe, dass das dazu führt, dass linke Gruppen in Armenien sichtbarer werden und sich besser organisieren.

Was soll euer Protest erreichen?

Im Moment fordern wir, das die Pläne für eine Strompreiserhöhung gestoppt werden und wir eine Diskussion führen über den Preis. Außerdem wollen wir eine Untersuchung der Polizeigewalt am 23. Juni. Bis das passiert, werden wir weiter demonstrieren – auf der Baghramjan-Allee oder anderswo.

„Du bist der Nächste!“

Ein Sieg für Schalke, ein Kino-Besuch mit Freunden, ausgehen mit Kolleginnen zum Weltfrauentag. Es hätte ein gutes Wochenende sein können, wäre da nicht gleichzeitig ein Facebook-Post meines WAZ-Kollegen Sinan gewesen. Man liest die Wut und Frustration in jeder Zeile – denn für Sinan war der Schalke-Sieg das letzte positive Erlebnis am Samstag:

Ob es nun die Zug-Mitreisenden sind, ein Autofahrer oder die Gelsenkirchener Polizei: Klar wusste ich abstrakt, was Alltagsrassismus bedeutet. Aber so konkret und gehäuft mitzubekommen, welche Formen er annimmt, ist dann doch schockierend. Und verdient alle Öffentlichkeit, die es kriegen kann.

Sochi, Moskau und die Sicherheit

„Wie ist das denn während Sochi mit der Sicherheit in Moskau?“ Die Frage kam jetzt öfter, und die kurze Antwort ist: Weiß ich nicht. Noch nicht lange genug da, noch nicht genug den Blick geschult.

Was ich weiß, ist: Wenn ich zur U-Bahn gehe, sehe ich zwischen Haustür und Bahnsteig immer ein halbes Dutzend Uniformierte, oft mehr. „Uniformierte“ klingt ungelenkt, aber sie sind schwer zu unterscheiden: Polizisten, ja. Schwarze Sheriffs vom einen Einkaufszentrum. Grüngefleckte Sheriffs vom anderen. Manchmal entpuppt sich einer als Schaffner oder als Mensch, der privat Bomberjacke und Stiefel trägt, aber ja, ein halbes Dutzend auf 15 Minuten Fußweg sind es immer.

Ich weiß, dass das nichts Besonderes ist. Schon vor zwei Jahren sah man reichlich Sicherheitskräfte in der Metro – bei Fußballspielen zum Beispiel noch eine ganz eigene Einheit. Oder auch Soldaten, oft noch sehr jung, mit kleinen, kurzhaarigen Köpfen und zu großen Kappen, ein ganz eigenes Kindchenschema. Jedenfalls sind demonstrativ sichtbare Sicherheitskräfte schon deshalb nicht der Zeit der Winterspiele vorbehalten, weil Moskau Moskau ist, mit ständiger Angst vor Anschlägen am Flughafen oder an Metro-Haltestellen.

Sicherheit Metro Moskau Ich weiß, dass es irgendjemand für eine kluge Idee gehalten hat, in der Haltestelle Wystawotschnaja/Delowoi Zentr Fotos von Sicherheitsleuten aufzuhängen. Mit Schäferhund, mit Gewehr im Anschlag, mit Handgranate. Zu Pferd, mit Kindern, das Kreuz eines Priesters küssend. Vermutlich soll man sich davon sicherer fühlen.

Was ich weiß, ist, dass der ersten Tipps einer Russland-Erfahrenen, als sich unser Umzug abzeichnete, war: „Guck in der Metro keine Uniformierten an, das gibt nur Ärger.“ Das widerstrebt mir ganz massiv und weckt die Renitenz – warum soll ich weggucken, sollen die doch weggucken – aber dann hab ich es eilig, den Pass nicht dabei oder sonst einen Grund, gucke also weg und fühle mich irgendwo zwischen feige und pragmatisch.

Was ich inzwischen weiß, ist, dass sie mich wohl eh nur bei akuter Langeweile kontrollieren würden. Denn wer kontrolliert wird, der sieht anders aus.

Zweimal bin ich umgestiegen heute beim Metrofahren. In beiden Fällen standen am Übergang von einer Linie zur anderen Polizisten und überprüften die Papiere von Menschen, die nach Nordkaukasus oder Zentralasien aussehen. (Dazu lohnt es sich auch, diesen Blogpost zu lesen.) Dass Menschen aus dieser Region hier – gelinde gesagt – schief angeguckt werden, beschränkt sich nicht auf den dienstlichen Blick eines Polizisten, es gilt genau so für private Blicke.

Wie es ist während Sochi mit der Sicherheit in Moskau? Ich weiß es nicht.