Der 9. Mai mag vorbei sein, aber das Nachdenken über das Kriegsende und wie man es in Russland feiert noch nicht. Denn am 19. hat mein Chor hier sein erstes Konzert der Saison, und seit Probenbeginn im Januar bedeutet das: viel Textübersetzen, viel Nachdenken und manchmal auch ganz schön schlucken müssen.
Denn in der zweiten Hälfte (erste Hälfte allerlei Rachmaninow, kannte ich vorher als Chorkomponist gar nicht, dabei ist „W Molitwach neussypajuschtschuju“ wirklich schön und auch erfreulich komplex) singen wir Lieder über den Zweiten Weltkrieg. Siegeslieder, Partisanenlieder, Lieder von der Sehnsucht, der Krieg möge endlich aufhören.
„Das sollen nicht nur russischen Lieder sein, wir sind ja ein internationaler Chor,“ hatte unser Dirigent Anfang des Jahres gesagt, „also bringt mal alle was mit, was da zu der Zeit in eurem Land populär war – auch Katrin.“ Wir kennen uns jetzt ein gutes Jahr, und ich weiß, das ist sein Humor, seine Art zu zeigen: Du bist hier nicht „die Anderen“, egal, woher Du kommst.
„Eure Hitler-Attentäter, was haben die denn so gesungen?“
Überhaupt hört man hier Russen sehr viel öfter von „den Faschisten“ reden oder von „Nazi-Deutschland“, wenn das Gespräch auf den Krieg kommt. Immer schön mit Präfix. Das habe ich, zum Beispiel in England, oft ganz anders erlebt. Und sicherheitshalber kommen in der Probenpause auch noch ein paar Mitsängerinnen vorbei und sagen: „Versteh ihn nicht falsch, das war ein Scherz, ihr hattet ja sicher auch Lieder gegen die Nazis.“ – „Genau, eure Hitler-Attentäter, was haben die denn so gesungen? Bringste halt ein Lied von denen mit.“ Ich möchte sie alle umarmen.
Dass das Ganze dann doch nicht so flauschig und einfach ist, wird klar, als mehr Lieder zusammenkommen. „Wetscher na Rejdje“ singen ist einfach, „Zhuravli“ auch. Schwieriger wird es schon bei „Swjaschtschennaja wojna„, dem Lied vom „Heiligen Krieg“, mit drastischen Sprachbildern und viel Heldenpathos. Das Lied, bei dessen Titel Google Translate der Einfachheit halber schlicht „Dschihad“ ausspuckt.
“Wir können doch Lili Marleen nicht auf Deutsch singen.“
Und parallel das Hin und Her über den Chor-Mailverteiler, von „Wir können doch Lili Marleen nicht auf Deutsch singen, ich weiß, dass das auch SS-Männer gesungen haben“ – „Aber im Text geht es um Kriegsmüdigkeit, Marlene Dietrich hat es für die alliierten Truppen gesungen“ bis zu „Konzertkleidung: schwarz und lang, im zweiten Teil wäre es schön, wenn alle ein Georgsband anstecken“. Oh.
Das Georgsband, schwarz und orange, ist aus einem Militärorden entstanden. Es war lange Zeit ein Symbol für die Leistung der sowjetischen Armee im Zweiten Weltkrieg und für den Sieg allgemein. Dann kam der Krieg in der Ukraine, und plötzlich trugen es die putintreuen Politiker, die Separatisten in der Ostukraine, die Krimnaschisten, ganz demonstrativ. Letzten Mai hat eine Cafékette jedem Kassenbon einen halben Meter Bändel beigelegt. Wodkaflaschen bekommen es um den Hals geknotet, damit sie sich besser verkaufen. Es weht auf dem offiziellen Kalender, den der Kreml an Journalisten verteilt. Viele Gründe für Unbehagen. Ich möchte das nicht tragen.
„Willst Du die Veteranen nicht ehren?“
Es folgen Gespräche, in zwei Varianten. Die mit anderen Ausländern sind kurz: „Ich möchte das nicht tragen.“ – „Klar, würde ich auch nicht.“ Die mit Russen sind meist länger: „Ich möchte das nicht tragen.“ – „Aber bist Du nicht froh, dass Du nicht im Faschismus aufwachsen musstest? Willst Du die Veteranen nicht ehren? Ist das nicht schöner, wenn’s einheitlich aussieht? Ist doch egal, wer es sonst noch trägt, solange wir das Richtige damit meinen.“ Doch. Gerne. Weiß nicht. Nein.
Dass Uniformität etwas Erstrebenswertes ist – der Glaube endet bei mir kurz nach Chorkleidung. Die kann ich mir noch herleiten aus „liebes Publikum, ihr sollt nicht gucken, ihr sollt hören.“ Aber schon das britische Klima, bei dem sich rechtfertigen muss, wer keine Mohnblume ans Revers (oder Trikot) steckt, ist mir suspekt. Genau wie „wir feiern den Sieg über ein totalitäres Regime mit einer Runde Gruppenzwang“, schon vor Ukraine, Krim und Putin-Propaganda.
„kleinstmögliches Zeichen von Opposition“
Das Ganze ist nicht gelöst. Die Diskussion geht weiter, vor kurzem hat zum ersten Mal eine Russin aus dem Sopran diplomatisch-vorsichtig gemailt, dass das Bändel vielleicht negative Reaktionen im Publikum auslösen könnte aufgrund dessen, wie es in jüngster Zeit verwendet wurde.
Eine Bekannte, ebenfalls Russin, erzählt, dass sie und ihre Freunde aus Prinzip kein Georgsband tragen, „als kleinstmögliches Zeichen von Opposition“. Und ich erinnere mich regelmäßig daran, dass auch das hier schon ein Wert an sich ist: Dass wir diese Debatte führen, und dass wir, mit Bändel oder ohne, im Jahr 2015 alle zusammen da vorne stehen können und zusammen Musik machen.