Nachtrundfahrt durch Moskau

„Seit ich dich kenne, mag ich es gern, wenn der Winter kommt – dann wird’s früher dunkel.“ Element of Crime müssen an Moskau gedacht haben, denn Winterzeit heißt hier: Endlich muss man nicht mehr bis zum späten Abend warten, um die im Dunkeln angestrahlte Stadt zu bewundern. Wie sagte es neulich erst wieder ein Gast aus Westfalen: „Also beleuchten können se.“ Stimmt.

Zu den Vorbereitungen, wenn sich Gäste anmelden, gehört darum immer auch ein Anruf bei S. Er hat ein Auto – und ein Leben lang Erfahrung mit dem Moskauer Verkehr, ist also der perfekte Fahrer für eine Tour am Abend – vorbei an historischen Gebäuden, moderner Architektur und anderen Fotomotiven. Die Strecke dafür hat sich inzwischen eingespielt:

Wir starten am Kutusowsky-Prospekt, gegenüber vom Hotel Ukraina (1, rot markiert), einer der „Sieben Schwestern“ im Zuckerbäckerstil, die in warmem Licht angestrahlt wird. Vorbei am Weißen Haus (2), dem Regierungssitz, vor dem Jelzin einst auf einen Panzer kletterte, geht es über den Neuen Arbat (3), der im Dunkeln zumindest ein wenig besser zu ertragen ist als tagsüber. Der Buchladen „Dom Knigi“ (4) zur linken ist in den Farben des Regenbogens angestrahlt, einen Ausschnitt sieht man im Headerbild dieses Blogs.

Jetzt knickt die Route rechts ab und windet sich um ein Gebäude des Verteidigungsministeriums (5), kurz darauf hat man zum ersten Mal einen Blick auf den Kreml (6). Auf diesem Stück der Route wechseln sich in schneller Folge die Sehenswürdigkeiten auf beiden Seiten ab: links Staatsbibliothek (7), rechts Manege (8), links die Uni-Fakultät für Journalismus (9). Der Stau, den es hier selbst nach der Rushhour manchmal noch gibt, sorgt dafür, dass man wenigstens in Ruhe gucken kann.

Das Bolschoi bei Nacht, von rechts drängelt sich noch das TSUM ins Bild.
Das Bolschoi bei Nacht, von rechts drängelt sich noch das TSUM ins Bild.

Wie der Neue Arbat gehört auch die Duma (10) zu den architektonischen Punkten Moskaus, die man besser nicht bei Licht betrachtet. Das Bolschoi-Theater (11) und die riesigen Spielfiguren am früheren „Detski Mir“ (12) sind da eine willkommene Aufheiterung, ehe ein Gebäude mit düsterer Geschichte erscheint: In der Geheimdienstzentrale „Lubjanka“ (13) hielt der KGB unzählige Menschen fest und folterte sie, viele wurden in diesem Bau ermordet. Heute hat hier der KGB-Nachfolger FSB seinen Sitz.

Ein kleines Stück Fahrt, vorbei an den Bögen des Gostiny Dwor (14), und auf einer Art Park-Insel in der Mitte der Straße ist Platz für ein paar Autos. Manchmal halten hier abends Stretch-Limousinen. Wir steigen aus und gehen durch eine Unterführung rüber zur Basiliuskathedrale (15) am südlichen Ende vom Roten Platz (16). Leer ist es um diese Zeit hier immer noch nicht, aber zumindest weniger Geschiebe als tagsüber. Kathedrale, Kremlmauer mit Türmen, vielleicht sogar GUM und Leninmausoleum – wie viel Zeit für Fotos bleibt hängt vor allem davon ab, wie legal das Auto geparkt ist.

Der Blick aufs GUM vom Roten Platz
Egal zu welcher Jahreszeit, das beleuchtete GUM am Roten Platz wirkt immer weihnachtlich

Entlang der Moskwa – mit Blick rüber aufs andere Ufer zur früheren Schokoladenfabrik „Roter Oktober“ (17) – geht es zur Christ-Erlöser-Kathedrale (18). Die Route führt an zwei Seiten des Gebäudes vorbei, halten ist hier allerdings schwierig. Für einen kurzen Stopp zum Bestaunen der angestrahlten Riesenkuppel reicht es aber auf jeden Fall. Das Puschkin-Museum (19) liegt einige Meter zurück von der Straße und ist darum hinter den Bäumen nur kurz zu sehen.

Der nächste Abschnitt ist länger, keine großen Sehenswürdigkeiten, einfach ein entspanntes Dahingondeln durch die nächtliche Stadt, über den Fluss und vorbei am Gorki-Park mit seinem riesigen weißen Tor (20). Bis wir oben angekommen sind auf den Sperlingsbergen (21), an der Aussichtsplattform mit dem Universitätsgebäude (22) hinter uns. Wenn nicht gerade Bauarbeiten den Blick versperren, schweift der Blick hier über große Teile Moskaus – einschließlich Fußballstadion und Skisprungschanze.

Der Blick von den Sperlingsbergen, hier mal durch ein Loch im Baustellenzaun.
Der Blick von den Sperlingsbergen, hier mal durch ein Loch im Baustellenzaun.

Zwei Stopps fehlen noch: Der Siegespark (23) mit seiner Achse aus Springbrunnen, die nachts rot strahlen. Am Ende der Achse erinnern eine Säule und ein ewiges Feuer an die Opfer des Zweiten Weltkrieges. Wie an der Kathedrale ist es allerdings auch hier schwierig, das Auto zu parken – S. macht während des kurzen Halts am Straßenrand sicherheitshalber immer direkt die Kofferraumklappe auf, falls Fragen kommen.

Die finalen Schnörkel der Route winden sich schließlich rund um die spektakulären Hochhäuser von Moscow City (24), bis zu einer Haltebucht, die viele für einen Schnappschuss nutzen. Ach guck, und die Stretch-Limo von vorhin ist auch wieder da. Noch ein letzter Blick auf die Skyline, dann geht es zurück zum Ausgangspunkt vor dem Hotel Ukraina.

Wer die Tour nachfahren möchte, kann die Google-Route aus der Karte oben als KML-Datei runterladen und in sein Navi importieren – oder sich direkt von Google Maps selber navigieren lassen. Etwa zwei Stunden sollte man für die 37 Kilometer Rundweg einplanen.

Danke an Dominic für das Foto von den Sperlingsbergen und an Marco für das vom GUM.

Warum es politisch ist, wenn wir Schneeräumfahrzeuge sehen

Diese Woche haben wir in Moskau die erste richtige Ladung Schnee des Winters bekommen. Schön, weil die Stadt endlich mal nicht mehr grau aussieht, und weil man mit großen Augen die ganzen Räumfahrzeuge bestaunen kann. Gerade auf unserer Straße ist da einiges unterwegs, denn sie ist für viele Wichtigmenschen aus dem Kreml der Weg zur Arbeit.

Ein Verbund aus vier, fünf Schneepflügen, die gleichzeitig auch noch Frostschutzmittel sprühen, ist also kein seltener Anblick. Dieser Oschi von einer Maschine hier war mir dann aber doch neu.

Kann gut sein, dass dieser Schneefresser auch früher schon im Einsatz war und mir nur nicht aufgefallen ist. Speziell ist in diesen Tagen aber definitiv, wie viel Platz die Schneeräumerei in den Hauptnachrichten der staatlich kontrollierten Fernsehsender einnimmt.

Wir sehen Straßen im Schnee – und die Kamera schwenkt zu den Räumfahrzeugen, die am Straßenrand mit laufendem Motor auf ihren Einsatz warten. Wir sehen Autos, die über frisch geräumte Straßen rollen – und die Arbeiter, die sich nach ihrem Räumeinsatz an einer Tasse mit etwas Heißem drin aufwärmen. Minutenlang derselbe Zyklus aus fallendem Schnee, Schneeräumen und wieder fließendem Verkehr.

Der Grund für diese medialen Schneeräumfestspiele lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: Orenburg. 16 Stunden lang saßen Autofahrer dort eingeschneit fest, ehe die Räum- und Rettungskräfte sich ihrer annahmen. Ein Mann erfror, eine Frau starb kurz nach ihrer Rettung. Im Netz machte danach die Beschwerde eines der Eingeschneiten die Runde: “Wie kann es sein, dass in Russland die Ausrüstung fehlt, um durch den Schnee zu den Menschen zu kommen und sie zu retten?“

Dieses schwere Gerät, das wir in diesen Tagen so prominent in den Abendnachrichten der Staatssender sehen, hat also nicht nur die Aufgabe, Straßen vom Schnee zu befreien. Vor allem zeigt es Präsenz.

Putin der Woche (XXVIII)

putin der woche kerze etsy

Gesehen: Bei Etsy, der Website gewordenen Rule 34 für den Handarbeitsbereich: Wenn Du es Dir vorstellen kannst, hat es auch schon mal jemand gebastelt.

Begleitung: Eine formschöne Metalldose mit attraktivem Deckel.

Text: „Die Putin-Kerze kombiniert Duftnoten von Kiefer, Erde und Rauch, der über den Städten der Feinde aufsteigt. Es ist ein männlicher Duft, der speziell entworfen wurde, um (…) den Geruch politischer Dissidenten aus Ihrem Haus zu vertreiben.“

Subtext:  Diesmal ausnahmsweise unnötig. Im Gegensatz zu vielen anderen „Putins der Woche“, die in Russland tatsächlich zur mehr oder weniger ernst gemeinten Heldenverehrung verkauft werden, ist das hier ausnahmsweise ein Produkt aus dem imperialistischen Ausland und insofern satirisch gemeint. Glaube ich.

Oben-Ohne-Punkte: Putin ohne Hemd, Kerze ohne Deckel –  10/10

Tür auf, einer raus, einer rein

Attest Visum Moskau Skoromed

Eine Dönerbude, daneben eine Stahltür ohne Türschild. Durch den neonbeleuchteten Gang, vorbei an dem Verschlag, in dem man Schuhe reparieren lassen kann. Im Lösungsmittelgeruch die Treppe rauf: Zweiter Stock, Anmeldung. Hallo, ich brauche ein Gesundheitszeugnis für ein Visum. Ja, Russlandvisum. Ja, auch einen AIDS-Test. Pass und Meldebescheinigung hier, bitte – da hinten steht mein Name auf Kyrillisch.

Und jetzt? Ah, ein Laufzettel. Die Ärzte warten in ihren Räumen, auf dem Gang davor stehen die Kunden, um sich begutachten zu lassen und dann eine Bescheinigung zu bekommen. Rein in die Plastik-Schuhüberzüge und los.

Vierter Stock, Zimmer vier

– „Guten Tag.“
– „Guten Tag. Die Jacke bitte ausziehen.“
– (…)
– „Sie stellen sich da rein, und dann nach links.“
– (…)
– „Nach links.“
– „Ich steh doch links.“
– „Nach links drehen. Und dann (unverständliche Verben im Imperativ)!“
– „Ich weiß nicht, was das heißt.“

Die Frau im blauen Kittel grinst und stellt sich so vor die Tür der Röntgenkabine, dass ich sie sehen kann. Sie guckt mich an, atmet tief ein und hält dann die Luft an. Ah, danke. Alles klar. Die Röntgenmaschine röntgt den Oberkörper, ich atme aus und komme wieder raus.

– „Sind Sie verheiratet?“
– „Ja.“
– „Hatten Sie schon mal Tuberkulose?“
– „Nein.“
– „Okay, fertig.“

Ein Jahr lang gelten die Visa für uns ausländische Mitarbeiter der Moscow Times, und die einzige Konstante von einem Visum zum nächsten ist, dass sich die Vorgaben und Abläufe jedes Mal ändern. Bisher zum Beispiel musste ich selber mich immer nur um den AIDS-Test kümmern, den Rest hat die Personalabteilung organisiert. Warum das diesmal anders ist? „Die Regeln haben sich geändert.“ Das ist fast so schön wie die Rundmail neulich: „Die Einladungsschreiben für eure neuen Visa verzögern sich wegen einer Verspätung.“

Auf der To-do-Liste, gemailt von der Personalabteilung zusammen mit den Adressen drei autorisierter Kliniken, stehen Krankheiten, die nach anderen Zeiten klingen. Tuberkulose. Syphillis. Lepra, ganz biblisch. Eine Freundin übersetzt die Testliste ins Englische, ich erkenne obskure Begriffe aus dem „Medical Love Song“ von Monty Python. „Weicher Schlanker“ – klingt nach Wiener Kaffeehausspezialität. Weitere Gründe, eventuell kein Russland-Visum zu bekommen: Chlamydien und psychische Probleme.

Vierter Stock, Zimmer neun

– „Sie sind aus Deutschland? Ich hatte in der Schule Deutsch, Moment, ein Wort weiß ich noch: ‚der Zug‘!“
– „Ah, ja, toll, ‚der Zug‘. Und ‚der Arzt‘ sicher auch, oder?“
– „Nein, das Wort kenne ich nicht.“
– „Das heißt врач. Doktor. Wie Sie.“
– „Hm. Haben Sie Allergien?“
– „Ja.“
– „Gegen was?“
– „Staub.“
– „Was für Staub?“
– „Hausgemachter.“ (Was weiß ich, wie „Hausstaub“ auf Russisch heißt. Aber „hausgemacht“, damaschni, das Wort steht hier auf jeder Speisekarte. Also: einmal Stauballergie nach Hausmacherart.)
– „Hausgemacht? Also wie hier im Zimmer?“
– „Ja.“
– „Okay, ich schreibe mal ‚keine Allergien‘. Zeigen Sie mal Ihre Hände.“
– (…)
– „Hände umdrehen.“
– (…)
– „Zeigen Sie mal Ihren Bauch.“
– (…)
– „Zeigen Sie mal Ihren Rücken.“
– (…)
– „Hatten Sie schon mal Hautkrankheiten?“
– (Hatte das nicht jeder? Pubertäre Ekzeme in den Armbeugen. Hitzepickel. Zählen Windpocken?) „Nein.“
– „Okay. Sie schreiben hier Ihren Namen hin, ihr Geburtsdatum, das heutige Datum. Und dann hier unterschreiben.“

Das Zögern bei „Arzt“ da gerade, hieß das jetzt, dass sie gar keine Ärztin ist? Edel geschminkt, weißer Kittel – kann auch eine Kosmetikerin gewesen sein, Händezeigenlassen gehört ja nun zu beiden Berufsbildern. Und so ein Türschild, auf dem „Dermatovenerologe“ steht, ist schnell angefertigt. Vielleicht sogar bei dem Schuster im Erdgeschoss, nebenberuflich.

Andererseits: Macht’s einen Unterschied, so lange ich hinterher meine autorisierte Bescheinigung einer autorisierten Klinik bekomme? Immerhin kostet der Spaß hier bloß 1500 Rubel, also 20 Euro. Beim European Medical Center, wo die Ärzte garantiert Ärzte sind und fließend mehrsprachig noch dazu, sollten dieselben Diagnosen 300 Dollar kosten.

Zweiter Stock, Zimmer sechs

– „Guten Tag.“
– „Guten Tag.“
– „Bitte da hin.“
– (…)
– „Einmal eine Faust machen.“
– (…)
– „Festhalten.“
– (…)
– „Moment noch, das Pflaster. So. Das ist alles.“

Das Röhrchen mit dem Blut bleibt im Zimmer, die blauen Plastikschluppen kommen in den Mülleimer an der Rezeption. Was bleibt? Drei Zimmer, drei Frauen – eine blau bekittelt, eine weiß, eine türkis. Eine Bescheinigung, hoffentlich, in ein paar Tagen.

Über die Strahlendosis dieser Röntgenkiste denke ich jetzt jedenfalls nicht nach, sondern lieber darüber, was an diesem Vormittag wohl der Test auf psychische Probleme war. Die Frage nach der Ehe? (Fliegt raus, wer in Tränen ausbricht, hysterisch lacht oder ein Foto von Putin aus der Handtasche holt?). Oder einfach der ganze Prozess?

klinik gesundheitszeugnis füße moskau

#twitspeare – jeden Monat ein neues Shakespeare-Stück lesen

#twitspeare Shakespeare Twitter 2016

Wir machen das jetzt einfach mal: Jeden Monat ein Stück von William Shakespeare lesen und drüber twittern. Ohne festes Ziel, ohne akademischen Anspruch, ohne Vorgabe, wie viele Tweets, wann oder in welcher Sprache. Es geht einfach nur um den Spaß daran, 400 Jahre nach Shakespeares Tod gemeinsam etwas von ihm zu lesen und sich darüber auszutauschen.

Bisher sind wir ein gutes Dutzend Leute, manche kennen sich, manche nicht. Wenn jemand das hier liest und mitmachen will – nur zu, es geht los mit „Much Ado about Nothing“. Oder, wie eine Moskauer Freundin es gestern so schön auf den Punkt brachte: „Ahhhhh, Ken and Em.“

Ja, auch für mich ist die Version mit Kenneth Branagh und Emma Thompson die Verfilmung. Müsste man direkt mal wieder… und dann gab es ja auch noch diese schwarzweiße von Joss Whedon vor ein paar Jahren… und den Theatermitschnitt mit David Tennant.

Hier schwört er (mit schottischem Akzent als Bonus-Feature) in der Rolle des Benedick, dass er sich nie verlieben wird.

Was passiert, wenn jemand sowas am Anfang der Handlung sagt, wissen wir alle. Wie es passiert, dafür nehme ich das Stück gerne mal wieder in die Hand – erst recht, weil Beatrice, das weibliche Gegenstück zu Benedick, von je her eine meiner absoluten Lieblingsfiguren in der englischen Literatur ist.


Russland 1862 – eine Zeitreise mit Umweg über New York

Bevölkerung Pensa Russland 1862 NYPL 8

Pensa muss man nicht kennen. Eine mittelgroße Stadt acht Autostunden von Moskau, mit einer mittelguten Eishockeymannschaft. Historiker kennen Lenins Telegramm an seine Verbündeten in Pensa, in dem er blutigen Terror gegen politische Gegner anordnete. Wer sich für russische Literatur interessiert, weiß vielleicht, dass Michail Lermontow in der Nähe aufgewachsen ist. Die Stadt hat es als einzige in Russland auf die Wikipedia-Liste der Orte mit überdimensionierten Kuckucksuhren geschafft. Das war’s dann aber auch schon wieder.

Was Pensa dennoch besonders macht: Im Jahr 1862 hat sich jemand die Mühe gemacht, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die dort leben, zu dokumentieren. Das Ergebnis sind Fotos, teils ein wenig verwackelt, dafür aber von Hand koloriert – was vor allem die verschiedenen Trachten zur Geltung bringt.

Russen sind auf den alten Aufnahmen zu sehen, aber auch Tataren und Mordwinen. Man kann vergleichen, wie sich die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen kleideten, wie sie sich für den Fotografen aufstellten. Der Bildhintergrund lässt manchmal auch Schlüsse darüber zu, wie sie lebten. An dem Foto ganz oben gefällt mir besonders, dass hinter dem Fenster noch ein paar Menschen zu sehen sind, die wohl auch gerne für die Nachwelt posiert hätten.

Dass diese Bilder jetzt nicht nur zugänglich sind, sondern man sie weiterverbreiten kann, sie bloggen, sie in neue Zusammenhänge stellen, ist der New York Public Library zu verdanken. Sie hat zum neuen Jahr mehr als 180.000 Bilder aus ihren Archiven veröffentlicht, die alle in der Public Domain sind.

Tausende Dokumente zu Russland gibt es in den Bibliotheksbeständen – und einen schön verspielten Suchansatz bei diesem Remix, der das Archivmaterial nach Farbe sortiert.

Putin der Woche (XXVII)

putin der woche bauchtanz
Gesehen: In der Facebookgruppe „Belly Design by Sekhmet“, wo die hauseigene Designerin diesen dezenten Bauchtanz-Zweiteiler anpreist. 

Begleitung: Weihnachtsbaum, Kamin, Uhr, alles in Goldbarock. Und zum hüftabwärts wallenden Putin-Porträt ein Oberteil, das die russischen Farben aufgreift und entfernt an die Schwingen des russischen Adlers erinnert.

Text: „Meine neue Kollektion ist fertig! Brandneu im Angebot, Ladies! Nummer eins – Go Hard like Vladimir Putin. Bestpreis nur 300 Dollar!“

Subtext: Vielleicht können wir ja jetzt mal langsam aufhören, immer nur über das Tanztalent meiner Tochter zu reden und uns wieder mit dem befassen, der wirklich wichtig ist – also mit mir. Schließlich kann ich nicht nur Judo: Wenn die Kaminzimmer-Tanzfee auf dem Foto ihr Becken bewegt, wackel‘ ich nämlich mit den Ohren. Gut, ne? 

Oben-Ohne-Punkte: Für ihn keine, für sie 6, macht im Schnitt 3/10.

(via Maeve Shearlaw)

Museums-Marathon in Moskau – diese Woche kostenlos

Über den Jahreswechsel ist Moskau diesmal doppelt eingefroren: Fast 20 Grad unter null, und dazu der Winterschlaf, der jedes Jahr um diese Zeit die Restaurants, Cafés, Theater und Bibliotheken der Stadt ergreift. Nur einige Museen verfolgen eine entgegengesetzte Strategie: Mit kostenlosem Eintritt locken sie die Moskauer aus dem warmen Wohnzimmer zum Kollektivbibbern in der Schlange am Eingang. Weil sich bei mir in der Redaktion nicht viel tut, heißt der Plan für die ersten Tage des neuen Jahres also:

kscheib Moscow Museums

Natürlich haben wir eine Liste mit angepeilten Museen. Natürlich haben wir eine Route, an der sie liegen. Aber dann mischt sich der Busfahrer ein, mit einer Durchsage. Nächster Halt:

 

„Museum für Orientalische Kunst“

Kein freier Eintritt, ganz im Gegenteil: Das ist tatsächlich noch eines dieser Häuser mit höheren Eintrittspreisen für Nichtrussen, was ich je nach Tagesform dreist oder zumindest unklug finde.

Neben Kunsthandwerk aus dem asiatischen Teil Russlands, Kacheln aus dem Iran, Masken aus Indonesien, Porzellan aus Japan gibt es hier auch ein kleines Zimmer mit Exponaten aus Afghanistan. An der Wand hängt, ohne weitere Erklärung oder Jahresangabe, dieser Teppich. Sein Muster kombiniert Helikopter, Makarow-Pistolen und reaktive Panzerbüchsen. Gewebte Geschichte.

afghanischer teppich museum moskau

 

„Moscow Museum of Modern Art“

In seiner Niederlassung an der Petrowka befasst sich das Museum gerade mit Schreibmaschinen in der Kunst. Ein Raum voller Remingtons, Olympias, Erikas. Ein Raum, in dem sich gerade ein kleiner Junge von seinen Eltern erklären lässt, was Durchschlagpapier ist und wozu das mal gut war. Ein Raum mit Schreibmaschinenmusik.

Und einer, in dem nur ein großer Tisch steht, mit getippten A4-Seiten unter Glas. Es ist Wassili Grossmans „Leben und Schicksal“, von dessen wenigen Manuskripten der KGB fast alle beschlagnahmte. Dieses Exemplar bewahrten Freunde für den Autor auf, als KGB-Leute ihre Wohnung durchsuchten, hängten sie es aus dem Fenster. Nun ist es, Jahrzehnte nach Stalins Diktatur, hier zu sehen.

200 Keystrokes Grossman Manuscript

Eine Etage höher haben verschiedene Künstler je einen Raum gestaltet, in dem von Rostan Tavasiev wohnen ein paar flauschige Wesen. Ein grünes sieht so traurig aus, dass eine Besucherin es spontan umarmt, während dieses hier von der Decke baumelt.

Rostan Tavasiev It's Complicated

„Rate mal, wie das hier heißt“, schreibe ich einer Freundin in Köln und schicke ihr das Bild. „Das ist bestimmt eine Allegorie auf die Erderwärmung,“ kommt als Antwort. „Oben ein ehemaliger Eisberg, der sich in Wasser aufgelöst hat. Unten die Menschheit bzw. deren Industrie. Ich würde also sagen ‚I scream (blue)‘ oder so.“ Respekt, das überzeugt mich sehr viel mehr als der offizielle Titel: „It’s complicated.“

 

„Darwinmuseum“

Eine lange, langsame Schlange für alle, die gratis reinwollen. Eine kurze, schnelle, für die, die doch 100 Rubel zahlen. Ist das jetzt Sozialdarwinismus? Drinnen sind jedenfalls so viele Familien unterwegs, dass die Luft nach Turnhallenumkleide riecht, und zwar am Ende eines Unterrichtstages.

Das Haus ist riesig, für Erwachsene fast komplett uninteressant und auch mit Kindern wäre es nicht mein erster Anlaufpunkt. Okay, das Walross da in der Vitrine ist echt verdammt groß, an ein paar Stellen kann man auch mal was ausprobieren oder anfassen, und für Extrageld gibt es auch was Multimediales. Aber insgesamt ist das hier noch sehr die Schule „Wir stellen ein paar Bücher über Pilze in einen Glaskasten und nennen es ‚Das Königreich der Pilze‘.“

Auf einem Treppenabsatz hat jemand mit viel Alufolie und Krepppapier in Projektwochenästhetik eine Ausstellung zum Thema „Tiere und Süßigkeiten“ gestaltet. Diese Illustration, mit der eine Konfektfirma Kindern Verkleidungstipps gab, war zumindest leidlich lustig:

darwinmuseum moskau

 

„Haus an der Uferstraße“

Anfang der Dreißigerjahre war das Gebäude die Wohnadresse für Regierungsmitglieder und Parteigranden. 24 Stunden lang fließend warmes und kaltes Wasser, hohe Decken, Seidentapeten, Aufzüge (damals eine Attraktion an sich). Die in der hauseigenen Schreinerei entstandenen Möbel gehörten interessanterweise der Hausverwaltung und wurden von den Bewohnern bloß gemietet.

Dann kam die Zeit der „Säuberungen“, und viele der Bewohner wurden verschleppt, gefoltert, ermordet. An sie erinnert heute ein kleines Museum, das sowohl den Alltag in diesen Wohnungen dokumentiert als auch, soweit man es denn kennt, das Schicksal der Opfer von Stalins Terror und ihrer Familien.

haus am ufer moskau museum

 

Ilja-Glasunow-Galerie

Von Ilja Glasunow hatte ich noch nie gehört, und nach dem Besuch in diesem Museum hätte das auch gern so bleiben können. Er malt viel, in allen möglichen Stilen, und ich bin mir sicher, es gibt einen Markt dafür: Komm, noch ein Puschkin vor Stadtkulisse, noch ein Dostojewski, noch ein Birkenwäldchen, noch ein armes russisches Mütterchen im Schnee. Noch ein großformatiger Heiliger, noch ein größtformatiger Jesus.

All das hängt hier an den Wänden, wo man es doch genau so gut und im selben Stil einfach irgendwo auf eine Motorhaube airbrushen könnte. Stereotyper Brachialkitsch, gerne in Petersburger Hängung, damit es einen auch garantiert erschlägt. Man kann hier herkommen, wenn man schon immer mal wissen wollte, wie dieses leuchtend türkise Gebäude gegenüber dem Puschkinmuseum von innen aussieht. Man kann es aber auch einfach lassen.

Ilja Glasunow Galerie Moskau

 

Manege

„Vom Traum zum Start“ heißt die Ausstellung zum sowjetischen/russischen Raumfahrtprogramm, das ist aber auch schon das einzige bisschen Poesie, das die Manege sich hier gönnt. Willkommen in der Schautafelhölle, mit den Unterabteilungen „Kinder basteln Panzer und Kampfflugzeuge“, „Wie viele Fotos bekommen wir auf dieser Stellwand unter?“ und „Ich hab hier mal was mit Weltraum gemalt, wollte es mir aber nicht selbst ins Wohnzimmer hängen.“

Moskau Manege От мечты до старта

Das eine gut ausgeleuchtete Objekt in der Ecke, um das sich tatsächlich Menschen versammelt haben, staunen und lachen, ist ein Automat, der Astronautennahrung verkauft: Kohlsuppe, Püree mit Fleisch, Quark mit Obst. 300 Rubel kostet die Tube.

 

„Moscow Museum of Modern Art“

Noch mal MMOMA, diesmal aber das Gebäude am Gogoljewski-Boulevard. Auch wenn man nicht viel weiß über Welimir Chlebnikow, kann man gut eine Runde drehen durch diese Ausstellung, die auf seinen Werken basiert.

moscow museum of modern art

So verspielt und verrätselt wie seine Gedichte wirken auch einige der Illustrationen und Installationen auf den zwei Etagen. Viele Vogelmotive, aber auch Installationen wie diese, die an mit Brausepulver gefüllten Strohhalme erinnert.

Noch bis Ende dieser Woche gilt der freie Eintritt in vielen Moskauer Museen. Eine Auswahl gibt es hier, eine ausführliche Aufstellung hier. Im Zweifel aber besser noch mal auf der Museums-Website nachsehen oder kurz anrufen.

(Danke an Matt für die Hilfe beim Identifizieren der Waffen auf dem afghanischen Teppich, und großen Respekt an Anja für die Ausdeutung der blauen Flauschkunst.)

Mein Leben als Futterlieferantin für Twitters Fake-Accounts

Im Dezember waren wir ein Wochenende in Kasan, und auf dem Flug dahin gab es bei Aeroflot ein Sandwich, das aufgeklappt so aussah:

Seit Russland kaum noch Lebensmittel aus Westeuropa ins Land lässt, ist Käse hier ein beliebtes Seufz-Thema. Dass der Tweet einiges an Resonanz fand, hat mich also eher gefreut als gewundert. Einige Replies, so um die 180 Retweets und ein paar hundert Like-Sternchen Like-Herzchen – darauf hatte es sich nach drei, vier Tagen eingependelt, dann ließ das Interesse nach. Alles ganz normal.

Dann kam Silvester, und während ich mich aufs Raclette bei den Nachbarn freute, schien das olle Käsebrot plötzlich wieder neuen Leuten zu schmecken. Es hagelte Interaktionen, innerhalb von wenigen Stunden. Ins neue Jahr ging der Tweet schon mit mehr als 200 Retweets/1000 Likes, inzwischen sind es rund 300/2000. „Irgendwer mit vielen Followern muss den weiterverbreitet haben,“ dachte ich – und lag falsch. Alle durchgeguckt, kein großer Multiplikator dabei.

Stattdessen haben die Accounts, die sich neuerdings an diesem Tweet abarbeiten, einiges gemeinsam:

– extrem wenige Follower
– extrem wenige bisherige Tweets
– keine Twitter-Bio (den Bereich, wo Nutzer etwas über sich selber schreiben)
– oft kein Profilbild, nur Twitters voreingestellten Eierkopp
– die meisten haben Frauennamen – Viktoria, Lisa, Julia, Viktoria, Lisa, Julia
– die meisten ihrer Tweets sind Retweets

Die Schlagzahl, in der diese ganzen Accounts sich an dem Aeroflot-Käsebrot abreagieren, hat mehrere Folgen. Mir spammt es die Übersicht voll, weil alle paar Minuten neue Reaktionen gemeldet werden:

käsebrot 1

Die echten Twitterer, die aus ehrlichem Interesse auf den Tweet reagiert haben, bekommen ebenfalls einen Teil dieses Reaktionsmülls ab:

Und, wichtigste Folge: Es wird ziemlich schnell offensichtlich, dass hinter diesen Twitter-Nutzern keine Menschen stecken, sondern ein Automatismus. Einer, der reihenweise Accounts anlegt und sie mit minimalem Aufwand leidlich echt aussehen lässt.

Dazu füttert er sie mit einer Handvoll unverfänglicher Tweets, die sie automatisch retweeten. Kleine Stichprobe bei den ganzen ViktoriaLisaJulias, und man findet schnell die Übereinstimmungen. Einige (etwa sie und sie) haben das hier retweetet:

Andere (zum Beispiel sie und sie) das hier:

Sogar Tweets von einem der russischen Twitter-Mitarbeiter müssen als Füllmasse herhalten. Vor allem aber besteht die Timeline dieser Hunderte von Accounts aus Retweets einer Person (der sie natürlich auch so gut wie alle folgen): Sasha Spilberg.

Sie scheint hier eine große Nummer bei Youtube zu sein, fast drei Millionen Menschen haben ihren Kanal abonniert. Bei Twitter hakt es allerdings bei Sasha noch ein wenig, erst eine halbe Million Fans. Aber da scheint ja gerade jemand dran zu arbeiten, wie diese Statistik von Twittercounter zeigt:

sasha spilberg twittercounter

Bis zum 30. Dezember stetiges, organisches Wachstum, ab dem 31. dann ein unvermittelter Sprung in die Höhe. Das ist der Tag, an dem sie begann, die automatisierte Aufmerksamkeit für meinen Käsebrot-Tweet. Offenbar hat also jemand den Vorsatz, zum neuen Jahr Sasha Spilbergs Followerzahl künstlich hochzutreiben. Schwer vorstellbar, dass das ein professionelles Social-Media-Team so plump tun würde. Ein Fan also? Oder jemand, der ihr was will? (Wie war das damals noch mal mit den Fake-Fans der FDP?)

Bei Twitter gemeldet hab ich die Fakes, bisher hieß die Rückmeldung „wir untersuchen das“. Aber wer weiß: Wenn sie schon die Fake-Accounts nicht stillegen, basteln sie ja vielleicht zumindest an einer Funktion, die solche Aktionen weniger nervig macht: „Benachrichtigungen für diesen einen Tweet abschalten.“

Blogstatistik 2015 – ihr sucht was?

kscheib blogstatistik 2015

Wer mit WordPress bloggt, bekommt in diesen Tagen eine Statistik gemailt: Soundsoviele Leser im vergangenen Jahr, das ist soundsooft das ausverkaufte Sydney Opera House! Schau mal, das war Dein bester Post! Und Donnerstage sind Deine Freunde! Das soll zur Motivation gereichen.

Viel Motivierender finde ich ja, zu gucken, wen dieses Blog im vergangenen Jahr alles angezogen hat. Menschen mit obskuren Suchanliegen haben hier ein Zuhause gefunden – jedenfalls für den kurzen Moment, bis sie gemerkt haben, dass der Link, den ihnen Google da vorgeschlagen hat, leider auch keine vertiefenden Informationen bietet zu „punkt vor strich klammer comic art“, zu „ceci nest pas schriftart“ oder zu „sherlock molly sex“ (echt jetzt?).

Es steckt Poesie in diesen einsamen Anfragen – jede von ihnen hat nur einen einzigen Menschen hierher geführt. Und weil wir in Russland Weihnachten noch vor uns haben und das Gefühl des guten Willens stark ist, folgt nun der Versuch, einigen dieser Suchenden etwas verspätet doch noch den Weg zu weisen.

„umgucken“ – Hier im Blog? Gerne, fühl Dich wie zuhause. Oder draußen? Auch jederzeit.
„ohne hemde“ – Soll das „ohne Hände“ heißen? Dann Vorsicht beim Radfahren.
„metapher eichhörnchen“ – „mühsam ernährt sich“. Gerngeschehen.
„russische milf“ – Nun ja. Hier entlang, vielleicht?
„notenblatt leer männerchor“ – Ich rate zum Kanon. Vielstimmig und geht auswendig.
„mal was anderes googeln“ – Glückwunsch, erfolgreich erledigt. Du kleiner Rebell, Du!
„sowjetischer dokufilm lenin mit mütze“ – kenn ich keinen, aber das hier ist interessant.
„schweinefüße chinesisch“Nina Trentmann weiß mehr.
„wie viel geld kostet 1 gramm äpfel“ – Ein Kilo kaufen, Preis durch 1000 teilen. #profitipp
„was ist sehnsucht“ – Hunger, nur im Herz statt im Bauch.
„playmobil russe“ – Hm. Sowas hier?
„gulag witze“ – Witze hier, als Hintergrundlektüre lohnt sich „Hammer and Tickle“
„kann man das leitungswasser in transsilvanien trinken?“ – Wasser, Blut – ich wäre da vorsichtig.

War das jetzt seltsamer als oder genau so abwegig wie in den vergangenen Jahren? Ich bin mir unschlüssig:

Blogstatistik 2014 – ihr sucht was?
Blogstatistik 2013 – ihr sucht was?