Ein paar Monate war hier Blogstille, aus technischen Gründen. Es war etwas kaputt, und ich wusste nicht, wie man es repariert – bis mich die geduldigen und auch sonst famosen Leute von Uberspace an die Hand genommen haben und es laientauglich erklärt haben. Danke dafür! Und dann passt es ja auch, dass es im ersten Blogpost nach der technischen Pause um ein Technikthema geht.
Wir waren in Moskau, diesmal nur zu Besuch, und dort an einem Ort, der mich vorher nie gereizt hatte: im White Rabbit, einem Restaurant mit allerlei Auszeichnungen und mit einem Chefkoch, dem man bei Netflix dabei zuschauen kann, wie er Elchlippen zubereitet. Spitzenküche und dann auch noch in Moskau – ich hatte schlimmstes Chichi erwartet, alle Gäste Insta-ready und die Kellner mit auf Kinnhöhe festgetackerten Mundwinkeln. Dass wir es trotzdem versucht haben, liegt an einer Freundin, die dort schon mehrfach gut, aber vor allem auch entspannt gegessen hatte.
„Kontrast“ heißt das Probiermenü, die Gänge „Weder Fisch noch Fleisch“ (Speck-Ersatz aus Kokos mit einer kandierten Lindenblüte oben drauf), „Reich – Arm“ (angebratener Weißkohl in einer Sauce aus Champagner und Kaviar) oder „Ende – Anfang“ (mit einer Wachtel und einem Ei, Variation des „Was war zuerst da“). Es ist unglaublich lecker und das Ambiente für Moskauer Verhältnisse auch nur normal schick: sehr gestylte Einheimische, aber auch das Bewusstsein, dass man Touristen und anderen Ausländern halt nicht dasselbe Niveau abverlangen kann, leiderleider.
Eine freundliche Kellnerin erklärt die Gänge und ihre Zutaten, außerdem bringt sie Regieanweisungen aus der Küche mit: „Our chef suggests that you eat this in one bite“ – „Our chef suggests that you eat this together“ – „Our chef suggests that you eat this with emotion“. Zwischendurch baut sie gelegentlich Spökes ein: Anfangs pipettiert sie uns Schnaps auf die Handflächen, zum Verreiben und Einatmen. Später verschenkt sie hauseigene Parfüms in Lebensmittelduftnoten – ein schöner Gedanke, demnächst den Kolleginnen am Newsdesk als Schokoladentrüffel entgegenzuriechen.
Der Kohl und der Kaviar, die Wachtel mit dem Ei, das sind zwei von acht herzhaften Gängen. Es folgen vier Desserts (Respekt für diese Gewichtung) und die Erkenntnis, dass ich keine kandierten Salatblätter mit Aloe-Glibber mag. Sowas. Dafür klingt die Komibination aus Birkenbast und süßer, eingedickter Kondensmilch super, aber ehe wir die serviert bekommen, möchte die Kellnerin wissen, ob wir denn auch unsere Handys dabei haben. Dann bitte hier mal gerade diese App runterladen, die wird jetzt gleich wichtig.
Es folgt: ein eckiges Tellerchen für jeden, auf dem eine Art Kondensmilch-Taler liegt, zwischen Oblaten aus Birkenbast mit einem Blütenlogo. App öffnen, mit der Kamera auf die Blüte zielen, und auf dem Nachtisch erscheint erst ein Ladebalken und dann:
Metka heißt die App, das bedeutet so viel wie Markierung oder Tag (im Sinne von tagging). Sie soll als „Augmented-Reality-Browser Informationen in einem völlig neuen Format präsentieren“, ihre Macher dachten demnach vor allem an Kleinwagen, Flugzeuge oder auch animinierte Raumschiffe. Aber hier, im White Rabbit, beim elften von zwölf Gängen, wächst dank der App nun also eine bunte Blume aus meinem Nachtisch.
Das Ganze ist so gut gemacht, dass sie ihre Blüte mir sogar ein bisschen entgegenneigt, als ich mit dem Löffel versuche, ein Stückchen vom Nachtischtaler abzutrennen. Blume im Blick, Kondensmilchcreme im Mund, ob man nächstes Mal wohl auch einfch nur dieses Dessert bestellen kann?
Braucht man die Augmented Reality zum Dessert? Nein. Man braucht auch keinen Schnaps auf den Handflächen, kein Schokotrüffelparfum, kein White Rabbit und keine Spitzenküche als solche. Macht es Spaß, es auszuprobieren und damit rumzuspielen? Aber ja. Der ÖPNV-Ring, das Cappuccino-Selfie, die Riesenschneeräummaschine: Moskau ist halt die Technik-Staunen-Stadt Nummer 1.