Russball, Folge 70: Angriff auf den Thron

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Wir können nicht über Russland reden, ohne die Gewalt zu erwähnen, mit der dort im Moment gegen Menschen vorgegangen wird, die für mehr Demokratie auf die Straße gehen. Dieser Mann zum Beispiel wurde von Sicherheitskräften zu Boden geworfen und abgeführt, nachdem er Spartak-Fangesänge gesungen hatte. Diesen Demonstranten halten mehrere Polizisten fest, während einer von ihnen auf ihn einprügelt. Journalistenkollegen, denen ich seit gemeinsamen Moskauer Zeiten bei Twitter folge, posten dort plötzlich (hier und hier), dass sie bei der Arbeit trotz Akkreditierung festgenommen werden.

Beeindruckt hat mich ein Text des Geschichtsprofessors Sergej Radschenko, indem er erklärt, warum er trotz der drohenden Polizeigewalt an den Protesten teilnimmt: „Wir – Russland, Europa, die Welt – waren schon einmal an diesem Punkt. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Unterdrückung zurückkehrt.“

Und jetzt reden wir über Fußball.

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Mitte Juli waren wir zum ersten Mal in Moskau, seit wir Anfang des Jahres dort weggezogen sind – ich hab damit gerechnet, gelegentlich sentimental zu werden und zu schwelgen. Aber dass sich einem die Stadt schon aus der Ferne an den Hals wirft, war dann doch eine Überraschung: Wir sitzen in Schönefeld, dieser Flughafen-Parodie, als auf dem Handy aufplöppt: Ihr Boardingpass hat sich geändert – ein Upgrade in die Business Class. Sekt, ausgestreckte Beine und vom Zeitungswägelchen eine Sport Express, Flugcharme rundum.

Auf Seite 1 haben die Blattmacher eine Ladung Dramatik geschaufelt: „Die neue Saison der Premjer-Liga, Episode: ANGRIFF AUF DEN THRON„. Wir haben Großbuchstaben! Wir haben Spieler von Krasnodar, Lokomotive, Spartak und ZSKA, die um den Game-of-Thrones-Thron rumstehen! Aber darauf sitzen darf nur Artjom Dsjuba von Zenit, dem amtierenden Meister!

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Nach der Landung, auf dem Weg ins Zentrum, sage ich zu Markus: Dir ist natürlich klar, dass ich diese Stadt betrete mit der Erwartung, zufällig auf der Straße jemanden zu treffen, den ich kenne. Er macht angesichts von zwölf Millionen Einwohnern ein paar Geräusche. Ich glaube, einen halblustigen Witz gemacht zu haben darüber, wie sehr sich diese Stadt immer noch wie zuhause anfühlt. Soweit alles normal, nur dass wir am nächsten Tag auf dem Roten Platz stehen (wir sind jetzt Touristen, wir machen Touristendinge) und das hier geschieht:

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Eine Nachricht von Jura – wir waren mal zusammen im Stadion, als Schalke nach Moskau gekommen ist, um dort in der Champions League gegen Lokomotive anzutreten. Als Chef der Russischen Knappen, Russlands Schalke-Fanclub, hatte Jura damals die Karten organisiert und uns im strömenden Regen vorm Stadion getroffen, damit wir die anderen Schalke-Fans auch finden. Also, schnell einmal treffen neben dem Leninmausoleum, ein gemeinsames Foto, gemacht von Juras Vater, die beiden wollen später zum Spiel Sotschi – Spartak gehen. Ach so, Jura ist übrigens keineswegs aus Moskau, sondern aus Krasnodar, mehr als 1000 Kilometer entfernt. Was dieses Treffen hier auf dem Roten Platz noch unwahrscheinlicher macht.

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⚽ Sotschi, das gegen Spartak dann übrigens 0:1 verloren hat, ist ein Neuzugang in der Premier-Liga. Die hat ihre Saison 2019/20 zwar mit einem Zuschauerrekord begonnen, dafür hat es mit einer großen Neuerung nicht hingehauen: Der Videobeweis, für den die Russen die englische Abkürzung VAR übernommen haben, war nicht rechtzeitig zum Saisonbeginn am Start. Dabei war die Fußball-WM 2018 doch das große VAR-Vorzeigeturnier gewesen.

Woran’s lag? Zu viele Beteiligte, die sich bei der Umsetzung nicht einig geworden sind. So hat es jedenfalls zum Saisonbeginn Alexander Djukow erklärt, der Präsident des russischen Fußballverbands. Zum zweiten Spieltag sollte es klappen, meinte er da noch, letztlich wurde es der dritte. Ärgerlich ist das für Sotschi, denn das Siegtor für Spartak war alles andere als regelkonform: Fernsehbilder zeigen deutlich, wie sich Spartaks Samuel Gigot bei seinem Kopfballtreffer auf einen Spieler von Sotschi aufstützt. Sport Express titelt dazu: „VAR hätte so einen Sieg nicht zugelassen“.

⚽ Noch mal Spartak: Die haben da jetzt ja diesen frisch ausgeliehenen neuen Spieler im Kader, dessen Ü im Nachnamen im Russischen als ю, also [ju] wiedergegeben wird. „Andre Schjurrle“ also hat nach seinem ersten Spartak-Spiel (0:0 gegen Dynamo) Sowjetski Sport ein Interview gegeben, das meiste waren höfliche Floskeln, die Fans von BVB und Spartak seien sich sehr ähnlich, sowas. Eine Passage fand ich aber doch ganz lustig: Offenbar ist in der Umkleide einer der jungen Spartak-Spieler auf Schürrle zugekommen und hat sinngemäß gesagt: „Hey, ich hab beim FIFA-Zocken immer als du gespielt!“ Fühlt man sich da geehrt? Alt? Schürrle jedenfalls hat im Interview von seinen eigenen FIFA-Spielzeiten erzählt: Er war am liebsten Lampard oder Ballack.

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Auf die Liste der zehn wichtigsten Sommertransfers im russischen Fußball hat es Schürrle nicht geschafft – die war schon veröffentlicht, als er bei Spartak anfing. Dafür punktet er mit Sprachkompetenzdialektik: Auf die Interviewfrage, ob ihm seine aus Kasachstan stammende Frau denn schon Russisch beigebracht habe, hat er mit „Ich spreche kein Russisch“ geantwortet. Auf Russisch.

⚽ Noch mal Spartak, dann ist aber echt Schluss: Leonid Fedun, Besitzer des Vereins, bekommt bei Gol.ru eine, tja… Würdigung? Anklage? Jedenfalls ein ungewöhnliches Artikelformat. Aufgehängt an Feduns Versprechen aus dem Januar, Zé Luís und Luiz Adriano würden noch jahrelang für Spartak spielen (heute ist der eine beim FC Porto unter Vertrag und der andere bei Palmeiras São Paulo) hat die Redaktion eine Liste veröffentlicht: „14 Beispiele, in denen Fedun das eine sagt und das andere tut“. Besonders hübsch, im April 2011: „Den neuen Trainer verkünden wir wahrscheinlich am Donnerstag.“ Tatsächlich hat es noch mehr als ein Jahr gedauert.

⚽ Es gibt ja so journalistische Projekte, die man gerne verfolgt, bei denen man aber schon auch arg froh ist, sie nicht selber umsetzen zu müssen. Andrew Flint hat sich so eins ausgedacht. Er lebt seit Jahren in Tjumen in Sibirien, und in dieser Saison will er alle Spiele des Drittliga-Vereins FK Tjumen besuchen. Diese Liga ist aufgeteilt in Regionen, Tjumen tritt im Bereich Ural-Wolga an gegen Vereine, die wie Autos heißen – Kamaz, Wolga, dazu der doppelte Lada aus Lada Dimitrowgrad und Lada Togliatti. Dass zwei Wochen vor Saisonbeginn noch nicht bekannt war, welcher dieser Clubs wann gegen wen spielen würde ist nur eine der vielen Randbeobachtungen, über die Flint bei Futbolgrad berichtet.

Über Tjumen wusste ich bisher nur, wo es grob liegt und dass man es auf der zweiten Silbe betont. Ein Blick in die Vereinschronik zeigt, dass das einer dieser Sowjetclubs war, die alle paar Jahre einen neuen Namen bekamen. So stand der Verein immer wieder für andere Berufsgruppen und hieß: Geologe Tjumen, Ölarbeiter Tjumen, Bauarbeiter Tjumen, später dann wieder Geologe. Wenn Andrew Flint sein Saisonprojekt wirklich durchzieht – wer weiß, was da noch alles an Nischenwissen über den sibirischen Fußball rauskommt.

⚽ Rammstein sind gerade auf Tour durch Russland, am Freitagabend sind sie im Stadion von Krasnodar aufgetreten. Ja genau, Rammstein, die mit den spektakulären Bühnenshows. Ja genau, das Stadion, wo am Samstag ein Spiel der Premjer-Liga anstand, Krasnodar gegen Zenit. Sportreporter Goscha Tschernow war bei dem Konzert und hat gefilmt, wie viele Menschen da zehn Minuten nach dem letzten Lied schon mit dem Abbau beschäftigt waren:

Tatsächlich hat es geklappt, kurz nach Samstagmittag waren Bühne, Lautsprecher und andere Aufbauten weg und der Rasen wieder freigelegt. „Ein Rekord“, schrieb der Konzertveranstalter bei Instagram und dankte allen Mitarbeitern für die „heiße Nacht“, nach der das Stadion wieder anpfifftauglich aussah:

⚽ Was macht eigentlich Andrei Arschawin? Vergangenes Jahr hat er seine Spielerkarriere beendet, seitdem hört man von Arschawin, wenn er zum Beispiel aus einem Petersburger Strip-Club rauskommt und auf einem Pferd davonreitet. Aber immerhin, wenn ihn ein Fernsehsender als Fußballexperten bucht, scheint er das ja ernst zu nehmen und sich anständig vorzubereiten. Oder so.

⚽ Die Älteren werden sich erinnern: Franz Beckenbauer war einst nicht Bundestrainer der westdeutschen-Fußball-Nationalmannschaft, er war ihr Teamchef – für alles andere fehlte ihm die Lizenz. Also wurde nominell jemand anderes Bundestrainer, Beckenbauer als Teamchef dessen Vorgesetzter. Das Modell hatte über Jahre Bestand und endete mit einem Weltmeistertitel für die DFB-Mannschaft.

Beim FK Krasnodar haben sie das ganz ähnlich versucht: Murad Mussajew trainiert den Verein seit einem guten Jahr, allerdings fehlt die Lizenz. Offizieller Cheftrainer war also jemand anderes, Mussajew als Obertrainer dessen Vorgesetzter. Ergebnis: Krasnodar qualifizierte sich zum ersten Mal für die Champions League, muss aber wegen der Nummer mit dem Trainer, der eigentlich gar keiner sein darf, 50.000 Euro Strafe zahlen. Außerdem hat die Uefa entschieden: Die Lizenz, die Mussajew braucht, um offiziell den FK Krasnodar trainieren zu dürfen, kann er frühestens in einem Jahr machen.

⚽  Möglicherweise verfolge ich nicht mit der notwendigen Aufmerksamkeit, wie die Begegnungen der einzelnen Champions-League-Runden ausgelost werden. Jedenfalls habe ich erst nachträglich mitbekommen, was da am 22. Juli geschehen ist: Das Los wollte es so, dass da demnächst eine russische und eine ukrainische Mannschaft gegeneinander antreten. Das aber will die UEFA nicht, mit gutem Grund, weshalb eine Sonderregel gegriffen hat:

Ein wenig Nachlesen ergab: Diese Regel gilt bereits seit 2014, dem Jahr, in dem Russland die Krim annektiert hat. Die Fußballverbände der beiden Länder hatten ebenso Sicherheitsbedenken wie die Uefa selber. Nach denselben UEFA-Regeln werden Vereinen aus Armenien keine Gegner aus Aserbaidschan zugelost, Teams aus Spanien müssen nicht gegen Teams aus Gibraltar antreten.

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Der Rausschmeißertext kommt diesmal aus Großbritannien. Über spektakuläre Transfers reden alle, über mittelwichtige Spieler, die sich ein Fußballteam vom anderen ausleiht, eher nicht. Deshalb fand ich so interessant, was die New York Times berichtet: wie sich Vertreter vor allem europäischer Clubs an einem Nachmittag in London zu einer Art Speed-Dating treffen, um dort in Begegnungen à 15 Minuten zu klären: Wen kann ich bei euch leihen? Wen könnt ihr von uns brauchen?

„To be sure, this is not the place where Cristiano Ronaldo or Lionel Messi will move from one club to another, but rather where useful, reasonably priced players change teams“, heißt es taktvoll in dem Artikel. „Reasonably priced“ bedeutet demnach: 20, maximal 25 Millionen Pfund.



 

Blogstatistik 2016 – ihr sucht was?

Trump Putin Pferd

Einmal im Jahr mache ich mir hier den Spaß und gucke, mit welchen Suchbegriffen im vergangenen Jahr Leute auf diesem Blog gelandet sind. Nichts Offensichtliches mit Putin, Moskau, Russland. Kein Chor, China, Twitter. Es geht um die seltenen, obskuren Suchanfragen – die, die in der Statistik nur ein einziges Mal auftauchen.

Wie immer gibt es einige Anfragen, bei denen ich bis heute nicht weiß, warum ich da zuständig sein sollte: „wie sieht paul panzer normal aus“ zum Beispiel: Ich lege Wert auf die Feststellung, zwar über Panzer, aber noch nie über Paul Panzer gebloggt zu haben. Und warum, bitte, googelt jemand ernsthaft „philipp jaroussky unterhemd“, wenn doch „philipp jaroussky paradiso“ ein so viel besseres Ergebnis zeitigt, nicht hier, sondern bei YouTube? Und auch dem Menschen, der sich für „verdienst eisfischer“ interessiert, kann hier leider nicht geholfen werden.

Bei ein paar Begriffen dagegen kann ich mir zumindest grob vorstellen, worum es gehen sollte. Darum also hier ein kleiner Service, damit alle Suchenden, die zu diesem Blog fehlgeleitet wurden, doch noch zu Findenden werden.

wasser test farbe lila – falls das hier nicht gewünscht war, dann bitte direkt zu Alice Walker.

wie schwer ist die kleine ja joghurt150 Gramm (und es gibt also tatsächlich Menschen, für die „Joghurt“ feminin ist!)

alltag in moskau lois fisher-ruge – klasse Buch, sehr lesenswert, aus der Zeit als, wer von Deutschland nach Moskau zog, noch Grundbedarf wie Toilettenpapier einpackte. Das Buch gibt’s gebraucht bei eBay oder Amazon, und zum Weiterlesen lohnt das hier.

simone de beauvoir eine fuchtel? – Jemand anderes sucht, ich lerne was draus: „Fuchtel“ ist offenbar ein österreichisches Wort für eine herrschsüchtige Frau. (Oder für diesen CDU-Abgeordneten.)

trump putin pfert – ein Fall für die Google-Bildersuche. Und für den Duden.

baku aserbaidschan interessante orte – wo anfangen? Mit der Altstadt natürlich, immerhin Weltkulturerbe. Dann die Promenade mit dem ganzen ölfinanzierten Prunk. Die Bibi-Heybat-Moschee und dann, im Umland, die Felsmalereien von Gobustan und die Schlammvulkane und… sagen wir so: Ohne gebrochenen Arm wäre ich gern noch länger dort geblieben.

krokodile haltung – ähm, meist horizontal? Oder geht es um Haltung im Sinne von Haustier? Dann einfach: bitte nicht.

armenian chor hollandaise – nicht die geringste Ahnung, was hier gewünscht ist. Sänger, die ihre Saucenrezepte mit anderen teilen? Oder war vielleicht die „Marseillaise“ gemeint? Hm hm hm. Hier ist jedenfalls ein armenischer Chor bei einem Auftritt in Marseille.

russische flagge Ärmel timati – wieder was gelernt: Timati scheint tatsächlich gelegentlich Klamotten zu entwerfen. Flaggenärmel scheinen aber nicht zur Kollektion zu gehören.

da lacht der hammer – Lachender Hammer? Leider nein. Lachen mit Hammer? Gerne hier.

Weißt Du noch, damals, in Aserbaidschan…

Manchmal, auf Reisen, glaubt man schon zu wissen, was hängenbleiben wird. Welche Eindrücke Bestand haben, welche Anekdoten man immer wieder erzählen wird. Kann sein, dass diese Ahnung sich bestätigt. Oder sie ist schon am nächsten Tag überholt, weil man noch so viel mehr erlebt, das sich einprägt.

Weißt Du noch, damals, in Aserbaidschan, was das für ein Tamtam war mit dem Visum? Seitenweise Formularkram, seltsame Transaktionen per Western Union. Lassen die uns rein, obwohl wir Journalisten sind? Obwohl wir letztes Jahr in Armenien waren? Hast Du auch die Geschichte gesehen von dem Franzosen, den sie am Flughafen einfach wieder zurückgeschickt haben?

Aserbaidschan Bibi-Heybat-Moschee

Im Land dann plötzlich das Gegenteil, das große Willkommen: Wie in der Bibi-Heybat-Moschee die eine Frau mich an der Hand genommen hat, sich mitten unter diese smaragdgrüne Kuppel gekniet hat, mich mit runtergezogen und „Molitwa“ gesagt hat? Wie der Aufpasser meinte, nee, hier keine Fotos, aber ihr könnt gerne mal in den Gebetsraum für Männer gucken, Du gehst rein, Du guckst hier von der Türschwelle aus, ach komm, ich zeig euch auch noch den für Frauen, der wird eh gerade renoviert, da könnt ihr auch Fotos machen. Schön hier? Schön. Da, nehmt noch ein paar Bonbons mit. Frohes Nourouz!

Weißt Du noch, damals, in Aserbaidschan, wie wir zu den Schlammvulkanen wollten, aber unserem Fahrer das nach einem Tag Dauerregen zu riskant war (oder sein Auto einfach zu weiß)? Wie er uns ein Taxi rangeholt hat, roter Lada, die Sitze natürlich mit Häkelüberzug und der Fahrer mit einer Strategie: Wenn die Straße (im weitesten Sinne, Piste oder Suhle trifft es besser) glitschig und aufgeweicht ist, fahren wir halt querfeldein.

Durch die wilde Müllkippe, wo Kühe Plastiktüten im Mund tragen, dann immer an den Strommasten entlang, über Feld, Steine, Gestrüpp. Schräg herunter in die Gräben, um nicht umzukippen. Und gegen die Schlammvariante von Aquaplaning (Lutoplaning?) reißt der Fahrer einfach das Lenkrad alle paar Sekunden von scharf links nach scharf rechts, was nicht funktionieren sollte, aber funktioniert. Respekt dem Manne, der seinen Lada fährt, als hätte er Allradantrieb! Singt ihm Lieder! Und haltet euch fest auf dem Rückweg, wo er dieselbe Heldenleistung noch einmal vollbringt – diesmal aber einhändig, weil die andere Hand eine Zigarette hält.

Aserbaidschan Schlammvulkane Lada

Weißt Du noch, damals, in Aserbaidschan, dieses Bergdorf im Großen Kaukasus? Die schmalen Gassen, die Schneeschmelze – und der verdammt schmerzhafte Moment, wenn beides zusammen einem die Füße unterm Hintern wegschlägt und die Hand danach nicht mehr schön linear eine Verlängerung des Armes bildet, sonder das Ganze eher versetzt aussieht, wie ein Inbusschlüssel? Die Eskorte zur örtlichen Heilerin, die einen Blick drauf wirft und sagt, das fass ich nicht an, geh zum Arzt – aber immerhin ein Taschentuch voll Schnee drumknotet? Wie das Krankenhaus in der nächsten Stadt – frohes Nouruz! – leider zu ist, der Arzt aber zuhause auf seiner Terrasse zwischen Gartenstühlen und Kartoffelsack einen Blick auf die Hand wirft, sie abtastet, das Gelenk – zack – wieder einrenkt, lautes deutsches Fluchen ignoriert und lobt: Tapfer, gar nicht geweint!

Wie wir daraufhin ein paar Häuser weiter zum Tee eingeladen sind, was heißt: Tee, Brot, kleine Oliven, Rosinenreis, duftendes Lamm mit Aprikose, Salat, Ayran mit Kräutern. Dazu Gespräche auf Russisch, Schäkern mit den zwei wuseligen kleinen Kindern und eine Führung durchs Haus: „Mein Vater war Architekt, und zur Sowjetzeit musste alles, was man baute, gleich aussehen.“ Das hat er bei seinem eigenen Haus so entschlossen kompensiert, dass dessen riesiges Wohnzimmer nun also eine Freitreppe hat, blaurotgrün blinkende Lichtinstallationen unter der Decke und einen Springbrunnen.

Aserbaidschan Festessen

Später, abends in Baku, werden wir noch eine ganze Reihe Ärzte kennenlernen, die sich uns Zugereisten auf Englisch als „Doctor + Vorname“ vorstellen. Doctor Ruslan, Doctor Tanya und Doctor Katya werden noch zwei Brüche im Arm finden, dazu einen Orthopäden, der sie richtet, und eine Anästhesistin, die sagt: „Normal dauert das fünf Minuten, bei uns sogar nur drei.“ Es wird, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, Frotzeleien zwischen einem aserbaidschanischen Arzt und seiner armenischen Assistentin geben, eine Gipsschiene, Wartezimmer-Fernsehen, in dem gerade ein Koch Parmesanstücke mit Schokolade überzieht, Blaulicht, Propofol und die Frage, ob das mit den Flüchtlingen in Deutschland wirklich so schlimm ist oder wieder nur russische Fernsehpropaganda. Aber das kommt später. Erst mal gehen wir aus dem Springbrunnenzimmer zurück in die Küche unserer Gastgeber und setzen uns wieder an den Tisch. Baklava kann man auch einhändig essen. Noch einen Tee? Frohes Nourouz!

Putin der Woche (XXVII)

Gesehen: Mal wieder auf dem Flohmarkt in Ismailowo.

Begleitung: Eine Garde an russischem und russlandnahem Führungspersonal (Namen angucken geht per Mouseover auf dem Bild).

Text: „Auf unseren Sieg“ und, handschriftlich: „1500 Rubel – Kalender für das Jahr 2016“.

Subtext: Denkt an die Zukunft, hab ich gesagt. Macht nur die mit aufs Cover, bei denen ihr sicher seid, dass sie bis Ende 2016 an der Macht bleiben. Und wen haben sie mir hier an die Seite gephotoshoppt? Die beiden Castro-Brüder, Alt und Älter. Sersch Sargsjan, Mister 20 Volt. Tsipras, den alten Griechen.Und Sachartschenko, ausgerechnet. Aber immerhin, der Lukaschenka macht’s noch ein paar Jahre. Woher ich das weiß? Im Oktober sind Wahlen in Weißrussland, mehr muss man dazu nicht wissen. Also: Prost, Kameraden. So jung kommen wir nicht mehr zusammen.

Oben-Ohne-Punkte: 0/10

Danke an Anja für das Foto und an Birgit, Silvia und Tatev für Hilfe beim Identifizieren der Calendar Boys.

Eine Email aus #ElectricYerevan

Tatev

Dass Tatev Vardapetyan und ich uns kennengelernt haben, ist erst ein paar Monate her. In einer Kneipe in Jerewan saßen wir auf dem Boden und redeten zwischen Bier und Pizza über die politische Lage in Armenien, über Deutschland, Russland und die Türkei. Ich rede gerne schnell. Tatev redet schneller.

Sie ist 23, hat als Journalistin über Menschenrechtsfragen berichtet und koordiniert außerdem das Projekt „Radio Without Borders South Caucasus„. Und seit einigen Tagen besteht ihre Facebookseite aus immer neuen Posts zur Protestbewegung #ElectricYerevan, aus Fotos von Demonstranten und von Polizisten.

Letzte Nacht haben wir hin- und hergemailt.

Tatev, wo bist Du gerade? Wie antwortest Du auf meine Fragen?

Gerade bin ich auf der Baghramjan-Allee, die immer noch von Demonstranten besetzt ist – schon seit neun Tagen, aber die Menschen sind immer noch hier, wenn auch nicht mehr so viele wie zuvor. Aber die, die noch hier sind, sind motiviert und entschlossen, so lange wie nötig zu bleiben. Mithilfe von Freunden habe ich ein Laptop mit WLAN-Verbindung gefunden.

Wie ist die Atmosphäre um Dich herum?

Im Moment sehe ich zwei Hauptgruppen vor mir: Leute, die patriotische Lieder singen, tanzen und die Slogans der Protestbewegung rufen („Wir sind die Besitzer dieses Landes“, „Wir werden siegen“, „Schließt euch an“ und „Nicht plündern“) und, ein Stück weiter weg, Leute, die im Kreis auf dem Boden sitzen und eine öffentliche Diskussion begonnen haben. Hauptsächlich geht es um die Frage, was wir als nächstes tun sollen. Die Diskussionen sind basisdemokratisch, wir haben keine Führung, kein Richtig oder Falsch. Und wir achten darauf, dass jeder mitmachen kann – bei uns findest Du LGBT-Gruppen und Nationalisten nebeneinander.

Die öffentlichen Diskussionen laufen seit gestern, wir wollen sie jeden Tag zur selben Zeit fortsetzen. Es gibt auch schon Arbeitsgruppen mit festen Agendas – eine von ihnen hat zum Beispiel die Facebook-Gruppe „Electric Yerevan Media Hub“ gegründet. Sie sammeln verlässliche Informationen, Artikel und Neuigkeiten zu den Protesten, um Falschmeldungen und Propaganda in den Medien zu bekämpfen. Das ist wichtig, um Leuten zu zeigen, wie bürgerschaftliches Engagement funktioniert.

Seit wann beteiligst Du Dich an den Protesten?

Ich habe mich den Protesten am 23. Juni angeschlossen, nachdem die Polizei mit Gewalt eine Demonstration aufgelöst und viele Menschen verhaftet hat. Die ganze Gesellschaft war empört über die Brutalität der Polizei, denn die Demonstranten waren und sind friedlich. Tatsächlich war die Härte des Polizeieinsatzes der Hauptgrund, warum sich an dem Tag Tausende Menschen auf der Baghramjan-Allee versammelt haben. Wir verlangen auch, dass die Polizisten sich für ihr Vorgehen rechtfertigen müssen und diejenigen bestraft werden, die Gewalt gegen friedliche Demonstranten eingesetzt haben.

Wer sind Deine Mitdemonstranten?

Nationalisten, Leute von Bürgerinitiativen und NGOs, Menschenrechtler, Leute aus der LGBT-Community, Feministen – alles Mitglieder der armenischen Gesellschaft, und irgendwie haben wir es geschafft, die letzten neun Tage friedlich miteinander zusammenzuarbeiten. Am Anfang gab es noch Anführer, inzwischen organisiert sich die Basis selber.

Man muss auch sagen, dass solche Bürgerbewegungen in Armenien noch sehr neu sind, wir müssen noch viel lernen. Zum Beispiel hatten wir eine Woche lang keine Agenda – wir haben nur getanzt, gesungen, zusammen gegessen, Sprechchöre gemacht und versucht zu verhindern, dass die Polizei unser 24-Stunden-Sit-in auflöst. Das war unsere Schwäche.

Als Präsident Sersch Sargsjan angeboten hat, die Regierung könne die Kosten für die Strompreiserhöhung übernehmen, während unsere Notfallfinanzierung überprüft wird, haben wir „nein danke“ gesagt – das deckt sich nicht mit unseren Forderungen. Denn das würde ja bedeuten, dass sie Mittel aus dem Staatshaushalt nehmen, mit anderen Worten: unser Geld. Daraufhin wurde die Situation hier auf der Baghramjan-Allee sehr unübersichtlich, vor allem als die Polizei drohte, die Straße zu räumen. Einige Demonstranten sind auf den Freiheitsplatz gezogen, um die Situation auf der Allee zu entschärfen, die Leute hier hat das verunsichert: keine Anführer, keine Agenda, keine Pläne, wie es weitergeht. Da haben wir gemerkt, dass wir die öffentlichen Diskussionen brauchen, um die Zukunft zu planen.

Interessiert #ElectricYerevan irgendwen abseits der Hauptstadt?

Unser Hashtag ist zwar #ElectricYerevan, aber Proteste gab es auch anderswo, darum hieß es auch schon #ElectricArmenia. In Gjumri und Wanadsor wird jeden Tag demonstriert. In einigen Dörfern haben Leute ihre Autobahn blockiert. Und wir haben viel Unterstützung aus dem Ausland – Menschen aus der armenischen Diaspora haben in den USA und in Europa Demos organisiert. Es gab Solidaritätsaktionen von Mitgliedern der Gezi-Park-Protestbewegung in der Türkei, von Linken und Sozialisten in Russland, der Ukraine, Georgien und selbst in Aserbaidschan.

Siehst Du Parallelen zwischen eurer Protestbewegung und denen in anderen Ländern?

Ich glaube, #ElectricYerevan ähnelt allen Bewegungen, die von jungen Leuten angestoßen wurden – parteifern und ohne klare Anführer. Und ich hoffe, dass das dazu führt, dass linke Gruppen in Armenien sichtbarer werden und sich besser organisieren.

Was soll euer Protest erreichen?

Im Moment fordern wir, das die Pläne für eine Strompreiserhöhung gestoppt werden und wir eine Diskussion führen über den Preis. Außerdem wollen wir eine Untersuchung der Polizeigewalt am 23. Juni. Bis das passiert, werden wir weiter demonstrieren – auf der Baghramjan-Allee oder anderswo.

Fürsorgliche Umschreibung

Texte, die mit „Was ich nicht verstehe“ beginnen, sind ja gerne mal Rants. Der hier nicht, denn ich bin ernsthaft perplex und hoffe auf Erklärungen.

Was ich nicht verstehe: Wenn ich hier im Supermarkt mit Karte bezahle, schickt mir die Bank eine SMS mit Infos über den abgebuchten Betrag, eh ich auch nur den Kassenbon in der Hand halte. Bei der Einrichtung des Kontos muss bei der Bank allerdings jemand ein Häkchen bei „zweifelhafte Russischkenntnisse“ oder zumindest bei „Ausländerin“ gemacht haben, denn die SMS sehen so aus:

SMS transliteriert

Kartennummer, Ort des Einkaufs, bezahlter Betrag, Datum, neuer Kontostand. Aber warum sind das lateinische Buchstaben? Das kyrillische Alphabet ist so ziemlich das Leichteste am Russischen – dann erst kommt das Vokabellernen. Trotzdem glaubt die Bank, mir wäre mit einer Nachdichtung in den gewohnten Buchstaben geholfen. Als würde man als Spracheinsteiger das russische Wort für „Kontostand“ kennen, wenn man es nur bloß endlich lesen könnte.

Dass sich die Raiffeisenbank die Mühe macht, für Ausländer russische Infos in lateinische Buchstaben zu transliterieren, ist nicht nur fehlgeleitet, sondern sogar kontraproduktiv: Wäre die SMS in kyrillischer Schrift, könnte man sie mit zwei Handgriffen rauskopieren, zu Google Translate rüberdengeln und dort wenn nicht in gutes Deutsch, dann doch zumindest in ziemlich solides Englisch übersetzen lassen.

Wer die Nachdichtung au lateinischen Buchstaben nicht versteht, hat dagegen nur zwei Möglichkeiten: die russische Originalversion grob daraus rekonstruieren und hoffen, dass Google Translate sie versteht. Oder die Nachricht jemandem vorlesen, der besser Russisch kann.

Das Problem ist nicht meins allein – Kolleginnen, die ebenfalls keine Russisch-Muttersprachlerinnen sind, bekommen solche SMS auch, ungefragt. Selbst diejenigen, die die Sprache jahrelang studiert haben. In Russland ist mir bisher nur die Bank mit dieser Methode aufgefallen. Der Telefonanbieter, der Online-Supermarkt, das Anticafé – alle verwenden das normale, kyrillische Alphabet.

Auf Reisen dagegen begegnet einem das Prinzip immer wieder: armenische SIM-Karte gekauft, mit der Verkäuferin auf Englisch gesprochen – schon kommen alle SMS vom Anbieter auf Armenisch-in-lateinischen-Buchstaben. Doppelt unnütz, denn ohne Armenisch-Kenntnisse ist Rekonstruieren ja keine Option mehr, und auf der Straße wen ansprechen, der es sich durchliest und übersetzt… nun ja. Alles könnte so einfach sein, mit der normalen armenischen Schrift und Google Translate, aber nein. Und, natürlich: in Georgien genau dasselbe.

sms beeline georgien armenien

Warum also ist das so? Hat sich jemand gedacht, naja, unsere Schrift ist schwer, da kommen wir den Ausländern mal einen Schritt entgegen? Oder glauben die Absender, dass es unter ihren Kunden mehr Leute gibt, die Russisch (Armenisch, Georgisch) verstünden, wenn sie nur in der Lage wären, es sich selbst laut vorzulesen? Ich hab, ehrlich gesagt, keine Ahnung. Aber vielleicht ja jemand, der das hier liest.

Ceci n’est pas un U

armenisches alphabet-monument

„Das armenische Alphabet schaffst Du Dir in einer Woche drauf“, sagt F. Hat sie neulich erst selbst gemacht, aber gut, F. lernt auch gerade drei Fremdsprache gleichzeitig, aus Spaß, als Experiment. Jedenfalls: Dank Memrise hab ich bis zum Abflug nach Eriwan tatsächlich ein Drittel des ABC im Kopf. Das A nämlich, also: das kleine a – oder auf Armenisch: ա.

Im Gegensatz zum Georgischen, das aussieht wie eine ausgeschüttete Tüte Erdnussflips, besteht das Armenische in großen Teilen aus Us, Us mit kleinen Schwänzchen und U-Bögen, die jemand gekippt, gedreht oder vervielfacht hat. Was kein U ist, erinnert gerne mal an lateinische Schrift oder auch ans Kyrillische, aber das heißt nichts.

Die Erfinder der Schrift waren zu kreativ, als dass es große Überlappungen gäbe. (Dass wirklich mal ein Buchstabe übereinstimmt, ist – siehe unten – extrem selten.) Darum hat man ihnen auch auf einer Brache vor den Toren der Hauptstadt Jerewan ein Denkmal gestiftet: alle 39 armenischen Schriftzeichen, in Tuff gemeißelt.

Busseweise kommen Schulkinder her für ein Selfie mit dem eigenen Anfangsbuchstaben, als Ausländer kann man nur mutmaßen, welche Namen da wohl gerade posieren. Das U mit dem Haken unten rechts jedenfalls ist besonders populär – schließlich ist es das armenische A. Das große.

(Danke an die äußerst frankophone Anke für ihre Hilfe bei der Überschrift. Das mit dem Geschlecht der Buchstaben ist im Französischen ganz wunderbar komplex.)