Russland-WM ist, wenn Journalisten übers Zugfahren schreiben

russland bahnhof tula

Hat man auch nicht so oft, dass eine Fußball-WM ihr eigenes journalistisches Genre hervorbringt. Klar, der Livekommentar eines Spiels, sei es im Fernsehen oder im Radio, gehört zur Weltmeisterschaft – aber genau so eben zur Bundesliga oder zur Champions League. Das Interview mit dem Bundestrainer plus anschließender Exegese, es ist hier täglich Brot – aber das war in Brasilien nicht anders und wird auch in Katar nicht anders sein.

Eine Art von Text allerdings gehört wie keine andere nur zu dieser WM in Russland. Exemplare dieser Spezies fangen zum Beispiel so an: „Russland ist groß.“„Als wir am frühen Nachmittag ins Zugrestaurant kommen, ist Sergej schon blau.“„Mittags um zwölf hält der Zug im Niemandsland.“ Es ist, genau, die Große Russische Zugreportage. Täglich begegnen einem im Moment solche Texte, quer durchs journalistische Angebot, von der Neuen Zürcher Zeitung bis zur Neuen Osnabrücker Zeitung.

Es sind Geschichten, in denen Menschen Irina, Olga, Sweta und Mischa heißen, in denen mit Fremden gemeinsam gegessen, getrunken, geschlafen und über Fußball gesprochen wird. Manchmal geht das nur mit Händen und Füßen, manchmal helfen Geduld und Google Translate. Manchmal braucht es viele Anläufe, um eine einzige Sache auszudrücken, aber alle wollen sich unbedingt verständigen. Manchmal gelingt es, 8000 Zeichen zu schreiben, ohne dass auch nur ein einziger russischer Mitreisender zu Wort kommt. So erzählt jeder und jede Reisende auch etwas über sich selbst, absichtlich oder nicht.

Überhaupt finde ich es beim Lesen interessant, mir die Kollegen hinter den Geschichten vorzustellen. Wow, der mag tatsächlich Pastila, diesen extrem zuckrigen russischen Nachtisch. Oh, die hat aber ein gutes Händchen dafür, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Ach guck, die vielen kleinen Details, wie schön beobachtet.

Dass die Zugfahrtreportage rund um die WM so populär ist, hat wohl mehrere Gründe. Zum einen verbinden viele Ausländer mit Russland eben Zugfahrten, was wahrscheinlich am Mythos Transsib liegt. Zum anderen ist so eine Reportage die Chance, nah dran zu sein an den Fans. Die können nämlich, wenn sie eine Fan-ID haben und ein Ticket bekommen, kostenlos mit dem Zug vom einen Austragungsort zum anderen gondeln. Das dauert, denn – siehe oben – Russland ist groß.

Und so fahren sie nun also Zug und schreiben darüber, natürlich nicht nur auf Deutsch. „Extra time in Russia: by train to three World Cup cities“, titelt der Guardian, „Vodka, pine nuts and politics: World Cup fans meet Russians on the world’s longest train line“, schreibt die Washington Post. Irgendwo am Rande des WM-Textgenres 2018 bewegen sich Geschichten, in denen Menschen über ihre Erfahrungen mit dem Zugfahren in Russland interviewt werden („Thurgauer Kantonsrat Didi Feuerle reist mit Bus und Bahn zur WM“) oder Artikel, die schon vor der WM geschrieben wurden, aber mit einem WM-Bezug veröffentlicht.

Wenn es am Ende dieses Turnier noch irgendeinen Journalisten gibt, der nicht über eine Zugfahrt in Russland berichtet hat, kann man wohl davon ausgehen, dass die Kollegen bereits hinter dem Rücken über ihn tuscheln und er beim nächsten großen Turnier zuhause bleiben muss. Da kann er dann aus der Ferne zuschauen, wie alle Kollegen ihr „Wie ich mal auf einem Kamel durch die Wüste ritt“-Stück liefern. Aber bis dahin sind ja noch ein paar Jahre.

Im Jetzt und Hier möchte ich zum Schluss noch zwei Dinge empfehlen. Kunden, die sich für „Journalist schreibt Ich-Reportage aus einem russischen Zug“ interessierten, interessieren sich doch bitte auch für „Luzia in Rossija“, eine Serie kurzer Filme zur WM, Folge 3 spielt im Zug. Und für
Diagnosis, ein Fotoessay über einen russischen Krankenhauszug – ohne WM-Bezug, einfach so interessant.

Baikalsee – die große Ruhe (und ein paar Chinesen)

Baikalsee Uferbogen

Deutsche kommen an den Baikalsee wegen der Natur. Chinesen kommen wegen dieses einen Lieds aus dieser einen Fernsehshow. Ein Lied über Liebe, über Sehnsucht und über Gefühle, die so stark sind, dass sie Schnee schmelzen lassen. Ein Lied, das schon mehr als eine Million mal bei Youtube angesehen wurde, mit Zeilen wie „Du bist kristallklar und geheimnisvoll, wie das Ufer des Baikalsee.“ Die Melodie klebt nicht nur wie Zuckerguss im Gehörgang, sie sorgt auch dafür, dass beim Naturgucken am Baikal die nächste chinesische Reisegruppe nie weit entfernt ist. Ein Running Gag zwischen all der Schönheit und Stille.

Um 6 Uhr in Irkutsk aufstehen, zum Bus laufen, mit dem Bus zur Fähre, mit der Fähre zum Bahnhof und von da an sieben Stunden mit dem Zug am Ufer entlangzuckeln, bei 20 km/h: eine ganz wunderbare Art, an- und runterzukommen zum Start in den Urlaub. Auf Wasser zu gucken entspannt ja ohnehin, und wenn sich dann auch noch die Perspektive permanent, aber behutsam wandelt, erst recht: Felsen, Wald, Wasser, Tunnel. Blumenwiese, Wald, Wasser, Tunnel.

Die Gelassenheit macht sich so breit, dass es schon beim dritten Halt unseres Zuges fast vollkommen egal ist, dass die chinesische Mitreisegruppe mit großer Hingabe „Komm, ich bin dein Vordergrund“ spielt. Einmal mache ich den Test und gehe einfach mal nicht zur Seite, weiche dem Fotografierenden nicht aus, sage aber auch nichts. Er stellt sich so nah wie andere nicht mal im Fahrstuhl. Auf meinem Foto sehe ich später: Chinese, Wald, Wasser, Tunnel.

Noch langsamer als auf der Zuckelzugtour ist das Leben auf Olchon, der größten Insel im Baikalsee. Straßen gibt es hier keine, jedenfalls nicht in der Definition, dass sich irgendwas mit Asphaltoberfläche durch die Landschaft zöge. Stattdessen hat Olchon Pisten aus Schotter oder einfach aus von Reifen festgedrückter Erde. Es ist eine Welt, an der das Wichtigste an einem Auto seine Stoßdämpfer sind und das wichtigste an den Touristenfüßen feste Schuhe.

Ja, auch hier sind die Gruppenchinesen da, und nein, das allmorgendliche Konzert aus Schleimhochziehen und Aufdenbodenrotzen vor der Tür der Reihenholzhütte müsste nicht sein. Aber den restlichen Tag hört man bloß mal eine Möwe, eine Kuh, den Regen auf dem Dach oder eventuell die Brandung. Beim Weg durchs Gelände stieben alle paar Schritte Grashüpfer weg. Der Kiefernwald steht licht und schweiget. Man kann im Baikalsee schwimmen (und Gott, ist das kalt, bis der Kreislauf anspringt und aus dem kalten Wasser rote Wangen macht), man kann aber auch einfach nur vor sich hin schauen. Und was hast du heute so gemacht? Ich habe geguckt.

An einem Tag ist in der Nähe Jahreshauptversammlung der Schamanen, die in einer Prozession zu Gesängen und Trommelschlägen mehrere geschmückte Birkenbäume um einen Platz tragen und sie anschließend zum Lagerfeuer schichten. Obendrauf kommen große Teile eines Schafskadavers, wir Zuschauer ziehen mit den Gläubigen im Kreis ums Feuer und lassen uns von dem Rauch umwabern. Später bespritzen die Schamanen ihre Anhänger mit heißem Wasser und wir sollen uns abwenden. Nicht, um die Privatsphäre der hemdlosen Täuflinge zu schützen, erklärt eine Frau mit Megafon. Sondern weil, wenn das Wasser die Menschen trifft, alles Unreine aus ihnen flieht – und wir Gefahr laufen, dass es sich stattdessen auf uns Besuchern niederlässt.

Abends dann eine Bootstour, die mit Verwirrung beginnt: Hier soll das losgehen? Aber hier ist doch nicht mal ein Anleger. Doch dem Boot, auch wenn es groß ist, ist das egal – es schiebt sich einfach halb auf den Strand und die Passagiere klettern an Bord. Zwei Deutsche und (war ja klar) 30 Chinesen, im Abendrot vereint unterwegs zu einer hohen Felseninsel, auf der Möwen darauf warten, mit Brot zu malerischen Sturzflügen veranlasst zu werden.

Der chinesische Reiseleiter hat ordentlich Toast mitgebracht und verteilt ihn, auch an die beiden Nichtchinesen. Wir werfen mit Brot um uns, fotografieren Möwendetails und Möwentotalen. Das Wasser ist rot. Das Wasser ist violett. Das Wasser ist blaugrau. Das Wasser ist kristallklar und geheimnisvoll.

Schicksalsjahre einer Bahnreisenden

Maschinengewehrsalven zum Start. Noch bevor der Zug in Shanghai losfährt, läuft auf den Bildschirmen an der Decke ein Ballerfilm. Der Ton steht auf laut, soll ja keiner was verpassen. Man kann diese Strecke prima fliegen. Aber über 1200 Kilometer mit dem Zug zurücklegen und dafür nicht mal fünf Stunden brauchen? Einfache Entscheidung.

Stehplätze gibt es keine, jeder hat hier seinen festen Sitz, vermerkt auf der Fahrkarte, wie auch die Nummer aus dem Pass. Ohne Ausweis keine Zugfahrt. Ein Hauch von Klarnamenpflicht in der Bahn.

Rechts von mir ein Laptoparbeiter, links Wasserbüffel. Keine Schaf-, dafür kleine Ziegenherden. Erst Reisfelder, dann Maisernte. Viele kleine Felder, auf manche passen gerade zehn Reihen Mais. Später dann große, frisch gepflügte Äcker, trockene dunkle Erde. Zwischen dem großen Braun immer mal wieder ein paar Quadratmeter Salat oder Gemüse, wie ein einsamer Schrebergarten mittig auf dem Platz des Himmlischen Friedens.

Sissi geht ja immer. Auch im Schnellzug von Shanghai nach Peking.

Und dann ist es plötzlich kurz vor Mittag und auf den Bildschirmen läuft Sissi. Graf Andrássy gesteht der Kaiserin seine Liebe. Sissi ist krank und kuriert sich auf Korfu (Betonung auf dem Fu) aus. Sissi und Franz fahren mit dem Boot durch Venedig und keiner jubelt. Dazwischen erscheint eine Chinesin im weißen Blazer, die vermutlich die langweiligen Dialog-Passagen zusammenfasst.

Sissi-Destillat für Reisende, das Opulenteste vom Opulenten. Ausstattungsschlachten bei Bällen. Schwenks übers knatschblaue Mittelmeer. Und eben die Schiffsfahrt durch Venedig, wo die Bürger das Kaiserpaar anschweigen. „Ich wollte, ich könnte es Dir ersparen“, sagt Franzl zu Sissi. Wären sie mal mit dem Zug gefahren.

Die dritte China-Woche in Links

China’s ‚New Left‘ Grows Louder – Brian Spegele über die Unruhe unter den Anhängern von Bo Xilai und warum es für die Parteispitze schwierig ist, gegen die Neue Linke vorzugehen. „The new leftists act as defenders of the vision Mao once laid out for China: Rejecting them outright would risk exposing party leaders to sensitive questions around the very foundation the party is built on.“

Daddy Dearest: Disgraced Chinese Politician Bo Xilai’s Son Defends Him – Hannah Beech über Bo Guagua, der für seinen Vater in die Bresche springt – und die Frage, warum er das für seine Mutter nicht getan hat. „Does the son’s defense of his father (…) provide hints that Bo père will be fighting the allegations in a way that his wife did not when she admitted to her crimes at her sentencing? “

Foxconn workers on iPhone 5 line strike in China, rights group says – Adam Gabbatt über die drei- bis viertausend Arbeiter, die nach Angaben von China Labor Watch im Foxconn-Werk in Zhengzhou streiken. „The majority of Foxconn employees taking part in the strike worked on the „onsite quality control line“, according to China Labor Watch. It said the strike meant iPhone 5 production lines were „in a state of paralysis for the entire day“.“

Line Dancer aus Zeulenroda in China ausgezeichnet – Heidi Henze schreibt über die Tanzgruppe, mit denen wir in München auf unseren Flug nach Peking gewartet haben. Dort haben sie zwischen den Stuhlreihen am Gate getanzt, später in Luoyang dann einen Preis mitgenommen.

On investment, China politics aren’t black and white – Joseph J. Schatz über China als Thema in der Debatte der US-Präsidentschaftskandidaten. „Black-and-white campaign slogans don’t easily translate into economic policy, including the exquisitely complex U.S.-China economic relationship.“

Tencent
Yujia Lee, Medienbotschafter-Alumna, arbeitet bei Tencent.

Skypes Konkurrenz aus China: Der Chatdienst Weixin – Felix Lee über den Erfolg des Internet-Unternehmens Tencent (bei unserem Besuch dort letzte Woche hatten unsere Gastgeber viel Spaß mit der im Text erwähnten „Schüttelfunktion“). „Auslandschinesen sind (…) nicht nur kräftige Kapitalgeber. Zuweilen verhelfen sie auch chinesischen Online-Unternehmen zum Welterfolg.“

Volunteer Coders Team Up to Fix China’s Horrid Online Train Ticketing Site – David Wertime über Pläne, unter  12306NG.org eine besser funktionierende Alternative zur chinesischen Bahn-Buchungsseite 12306.cn zu programmieren. „Among the site’s most vexing new features is the ability (read: requirement) that users wait in a “virtual line.” “

Why China Lacks Gangnam Style – Evan Osnos kommt zu dem Schluss, dass es Chinesen schwer fällt, ihrer eigenen Kultur mit Humor zu begegnen. „In Chinese cultural circles there is a name for this: the “ ‘Kung Fu Panda’ problem,” named for the 2008 DreamWorks movie.“

Vielleicht doch lieber fliegen

 

Ein Witz, angeblich von Johannes Rau:

Ein Mann möchte gerne von Wuppertal nach Peking reisen, hat aber Flugangst. Also fragt er am Bahnhof nach einer Fahrkarte nach Peking. Geht nicht, heißt es da – von hier können Sie nur eine Karte nach Berlin buchen. In Berlin dasselbe, es gibt nur ein Ticket bis nach Moskau. So bucht er nach und nach weiter und kommt irgendwann in Peking an.

Nach zwei Woche in der Stadt packt ihn das Heimweh und er will zurück. Geht also in Peking an den Fahrkartenschalter: „Guten Tag, ich hätte gerne ein Ticket nach Wuppertal.“ Sagt der Verkäufer: „Balmen oder Elbelfeld?“

Was da an Stereotypen über umständliche Deutsche und effiziente Chinesen mitschwingt. Dortmund – Peking sind mit dem Zug jedenfalls 170 Stunden. Bestimmt eine schöne Reportage. Die aber bitte jemand anders schreiben soll.