Russland-WM ist, wenn Journalisten übers Zugfahren schreiben

russland bahnhof tula

Hat man auch nicht so oft, dass eine Fußball-WM ihr eigenes journalistisches Genre hervorbringt. Klar, der Livekommentar eines Spiels, sei es im Fernsehen oder im Radio, gehört zur Weltmeisterschaft – aber genau so eben zur Bundesliga oder zur Champions League. Das Interview mit dem Bundestrainer plus anschließender Exegese, es ist hier täglich Brot – aber das war in Brasilien nicht anders und wird auch in Katar nicht anders sein.

Eine Art von Text allerdings gehört wie keine andere nur zu dieser WM in Russland. Exemplare dieser Spezies fangen zum Beispiel so an: „Russland ist groß.“„Als wir am frühen Nachmittag ins Zugrestaurant kommen, ist Sergej schon blau.“„Mittags um zwölf hält der Zug im Niemandsland.“ Es ist, genau, die Große Russische Zugreportage. Täglich begegnen einem im Moment solche Texte, quer durchs journalistische Angebot, von der Neuen Zürcher Zeitung bis zur Neuen Osnabrücker Zeitung.

Es sind Geschichten, in denen Menschen Irina, Olga, Sweta und Mischa heißen, in denen mit Fremden gemeinsam gegessen, getrunken, geschlafen und über Fußball gesprochen wird. Manchmal geht das nur mit Händen und Füßen, manchmal helfen Geduld und Google Translate. Manchmal braucht es viele Anläufe, um eine einzige Sache auszudrücken, aber alle wollen sich unbedingt verständigen. Manchmal gelingt es, 8000 Zeichen zu schreiben, ohne dass auch nur ein einziger russischer Mitreisender zu Wort kommt. So erzählt jeder und jede Reisende auch etwas über sich selbst, absichtlich oder nicht.

Überhaupt finde ich es beim Lesen interessant, mir die Kollegen hinter den Geschichten vorzustellen. Wow, der mag tatsächlich Pastila, diesen extrem zuckrigen russischen Nachtisch. Oh, die hat aber ein gutes Händchen dafür, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Ach guck, die vielen kleinen Details, wie schön beobachtet.

Dass die Zugfahrtreportage rund um die WM so populär ist, hat wohl mehrere Gründe. Zum einen verbinden viele Ausländer mit Russland eben Zugfahrten, was wahrscheinlich am Mythos Transsib liegt. Zum anderen ist so eine Reportage die Chance, nah dran zu sein an den Fans. Die können nämlich, wenn sie eine Fan-ID haben und ein Ticket bekommen, kostenlos mit dem Zug vom einen Austragungsort zum anderen gondeln. Das dauert, denn – siehe oben – Russland ist groß.

Und so fahren sie nun also Zug und schreiben darüber, natürlich nicht nur auf Deutsch. „Extra time in Russia: by train to three World Cup cities“, titelt der Guardian, „Vodka, pine nuts and politics: World Cup fans meet Russians on the world’s longest train line“, schreibt die Washington Post. Irgendwo am Rande des WM-Textgenres 2018 bewegen sich Geschichten, in denen Menschen über ihre Erfahrungen mit dem Zugfahren in Russland interviewt werden („Thurgauer Kantonsrat Didi Feuerle reist mit Bus und Bahn zur WM“) oder Artikel, die schon vor der WM geschrieben wurden, aber mit einem WM-Bezug veröffentlicht.

Wenn es am Ende dieses Turnier noch irgendeinen Journalisten gibt, der nicht über eine Zugfahrt in Russland berichtet hat, kann man wohl davon ausgehen, dass die Kollegen bereits hinter dem Rücken über ihn tuscheln und er beim nächsten großen Turnier zuhause bleiben muss. Da kann er dann aus der Ferne zuschauen, wie alle Kollegen ihr „Wie ich mal auf einem Kamel durch die Wüste ritt“-Stück liefern. Aber bis dahin sind ja noch ein paar Jahre.

Im Jetzt und Hier möchte ich zum Schluss noch zwei Dinge empfehlen. Kunden, die sich für „Journalist schreibt Ich-Reportage aus einem russischen Zug“ interessierten, interessieren sich doch bitte auch für „Luzia in Rossija“, eine Serie kurzer Filme zur WM, Folge 3 spielt im Zug. Und für
Diagnosis, ein Fotoessay über einen russischen Krankenhauszug – ohne WM-Bezug, einfach so interessant.

Und täglich grüßt der @pleasecaption-Bot

Ein Screenshot des @pleasecaption-Accounts

Seit ein paar Wochen lasse ich mich regelmäßig ermahnen. Die Hinweise kommen immer dann, wenn ich sie am wenigsten brauchen kann – viel um die Ohren, kurz vorm Einschlafen, gerade kommt die Metro. Die Nachrichten klingen dann so: „Dein Tweet ist ziemlich cool, aber weißt du, was noch cooler ist? Alt-Text.“ – „Hilf mit, Twitter barrierefrei zu machen, indem du Bildbeschreibungen hinzufügst.“ – „Menschen mit Sehbehinderungen könnten Probleme haben, diesen Tweet zu sehen, bitte füge Bildbeschreibungen hinzu!“

An den Ermahnungen bin ich selbst schuld, ich bin dem Twitteraccount @pleasecaption schließlich freiwillig gefolgt. Vor allem aber ist Liz Frost schuld, denn sie hat den Bot hinter dem Account gebaut. Liz beim Bot-Bauen, ich beim Bot-Folgen, beide wollten wir dasselbe: uns antrainieren, immer den Alt-Text auszufüllen, wenn wir ein Bild twittern – damit Menschen, die das Bild nicht oder schlecht sehen können, trotzdem erfahren, was es zeigt. Wer will, kann sich dann z.B. von seinem Screenreader den Alt-Text laut vorlesen lassen.

Dass man bei Twitter überhaupt Alt-Text für ein Foto oder eine Grafik vergeben kann, war mir lange nicht klar. Dabei ist das kein bisschen kompliziert, in der offiziellen Twitter-App geht es zum Beispiel so: Bild zum Tweet hinzufügen, darunter auf „Add description“ klicken, Textfeld ausfüllen, fertig.

Der Twitter-Menüpunkt, um Alt-text auszufüllen

Ein Fototweet mit ausgefülltem Alt-Text

Alles sehr schön, aber man muss halt auch dran denken, und das hat bei mir halt nur dann geklappt, wenn ich gerade konzentriert war und Zeit hatte. In anderen Situationen – siehe oben – fehlte dann doch wieder der Alt-Text. Seitdem lasse ich mich von @pleasecaption daran erinnern. Wenn man dem Account folgt, folgt er dir zurück, guckt sich ab dann jeden deiner Tweets an und schickt bei fehlenden Alt-Texten sofort einen seiner Hinweise. Das nervt, natürlich, aber das soll es ja auch. Und falls ihr nun ebenfalls erwägt, euch für eine sinnvolle Sache regelmäßig nerven zu lassen: Liz Frost war so nett, ein paar Fragen zu ihrem Bot zu beantworten.

Was war für dich der Impuls, den @pleasecaption-Bot zu bauen?

Twitter hatte damals gerade recht neu den Alt-Text eingeführt, und mir fiel auf, dass ich ständig vergaß, ihn zu meinen Tweets hinzuzufügen. Ich bin immer auf der Suche nach kleinen Nebenprojekten, die mir Spaß machen. Also dachte ich, das wäre doch nützlich, so etwas zu bauen. Das hat vielleicht so ein, zwei Wochenenden gedauert, bis alles lief.

Wenn dein Bot mich nun also gut erzieht und ich Alt-Text hinzufüge, wie ist das dann für den Leser? Wie verbessert es die Timeline von jemandem mit einer Sehbehinderung?

Leider kenne ich nicht viele Leute mit Sehbehinderung, darum kann ich deren Erfahrung nicht beschreiben. Aber ich habe den Eindruck, dass es deshalb hilft, weil Bilder sonst einfach komplett nutzlos sind.

Was macht denn einen guten Alt-Text aus? Soll man besser beschreiben („ein Gemälde, das eine Gruppe Männer rund um einen Tisch zeigt“) oder erklären („ein Foto von Leonardo da Vinci’s ‚Das letzte Abendmahl'“)?

Jemand, der beruflich mit Bildunterschriften zu tun hat, hat hier einen großartigen Thread darüber geschrieben, was man tun und lassen sollte. Ich glaube, es kommt immer auf die Situation an: Wenn es in deinem Tweet um Da Vinci geht, solltest du erwähnen, dass das Bild ein Gemälde zeigt.

Wie viele verschiedene Nachrichten schickt @pleasecaption so? Ich hab das Gefühl, ein halbes Dutzend hab ich schon gesehen.

Im Moment sind es neun. Wer will, kann mir gerne weitere schicken, aber bisher hat das noch niemand getan.

Hast du eine Vorstellung davon, wie viele Leute deinen Bot nutzen, um sich an den Alt-Text erinnern zu lassen?

Der Bot schickt Erinnerungen an alle Accounts, denen er folgt. Im Moment sind es etwa 3700 Twitterer. Darunter sind sicherlich ein paar Spam-Bots oder Fake-Accounts, aber auch ohne die sind es noch ziemlich viele Menschen!

Hast du mal überlegt, das auch in anderen Sprachen außer Englisch anzubieten?

Leider spreche ich selber nur Englisch, für andere Sprachen bräuchte ich also Leute, die mir helfen. Aber wenn da jemand Lust drauf hätte, mache ich gerne mit!

Und was für Rückmeldungen bekommst du von den Followern und von Leuten, die von den Alt-Texten profitieren?

Viele Leute haben sich bei mir bedankt und gesagt, dass der Account ihnen hilft, an Alt-Texte zu denken. Bei dem Bot ist es halt so: Wenn du es dir erst mal richtig angewöhnt hast, ist er fast völlig unsichtbar für dich. Ich vermute also, die meisten Nutzer bemerken ihn kaum. Aber ich freue mich immer über Rückmeldungen.

So viel rohe Gewalt steckt in einem Spitzenschuh

Vor einigen Wochen habe ich mir ein paar Ballettschuhe gekauft. Spitzenschuhe. Apricotfarbene.

(An dieser Stelle eine kurze Pause, damit alle persönlichen Bekannten ihr Gelächter loswerden können. Das gilt auch und vor allem für Freunde aus Schulzeiten, die sich an meine naturgegebene Grazie und an meinen Enthusiasmus für sportliche Leistungen erinnern – kollektiv manifestiert in einem akuten Schwindelanfall mit Beinahe-Sturz vom Schwebebalken.)

Fertig? Gut. Es ist nämlich so, dass Russland nicht nur ein Land mit großer, glänzender Balletttradition ist, sondern auch die Heimat von Grishko, einem der Hersteller von Spitzenschuhen. Ich wusste das auch nicht, eh ich hierher gezogen bin, dann Besuch von einer ballettkundigen Freundin bekam und inzwischen mit Ballettänzern und -mitarbeitern befreundet bin. Russland, das bedeutet eine schleichende Ballettifizierung des Lebens. Aber auf die Idee, mir selber so ein paar Schuhe zu kaufen, wäre ich bis zu diesem Tag trotzdem nie gekommen.

Die Grishko-Fabrik, die wir uns hier als kleine Gruppe anschauen dürfen, ist zunächst einmal kleiner als das Bild, das man bei „Fabrik“ im Kopf hat. Eine Manufaktur vielleicht? Eine Werkstatt? Jedenfalls wird hier Stoff in diesem speziellen Farbton, den die Firma sich extra hat schützen lassen, zurechtgeschnitten – immer direkt ein ganzer Stapel aufeinanderliegender Stoffbahnen. Es wird genäht, geformt, geleimt, geklopft, getrocknet. Aber das Interessanteste sind die Kirgisen.

Man muss das vielleicht kurz erklären. Grishko ist, wie gesagt, in Russland ein großer Name. Es gibt ganze Ballettcompagnien, die nichts anderes als Grishko-Schuhe an die Füße ihrer Tänzer lassen. Die Frau, die uns durch die Werkstatt führt, erzählt von einer Star-Ballerina am Bolschoi, die in einem Monat mehr als 30 Paar Grishko-Schuhe durchtanzt, weil sie so viel probt und auftritt.

Als wir vor dem Regal mit den Pappkisten stehen, jede schön mit Namensschild, ist mir also völlig klar: Das sind wohl die Namen berühmter Tänzer, für die hier gerade die paar Dutzend Schuhe für den nächsten Monat entstehen.

Grishko Pappkartons Namensschilder

Komplett falsch. Die Namen auf den Pappkisten gehören den Leuten, die hier die Schuhe herstellen. Manche Tänzer, erzählt unsere Werkstattführerin, finden, wenn ein Spitzenschuh besonders gut sitzt, den Namen des Menschen heraus, der ihn – nach vielen anderen Produktionsschritten – fertigstellt und in Form bringt: „Dann bekommen wir eine Bestellung, auf der steht: Unbedingt nur von Meister Soundso.“ Und diese Meister sind, jedenfalls bei Grishko, oft Kirgisen.

Warum, kann keiner so richtig erklären. Gastarbeiter aus Zentralasien sind in Russland keine Seltenheit, aber warum gerade Kirgisen, und gerade in dieser Werkstatt – niemand weiß es. Was man aber wissen kann, und was ich definitiv nicht wusste, ist, dass die Herstellung von Spitzenschuhen nach all dem glänzenden Satinzuschnitt, all den akkuraten Näharbeiten, den pastellfarbenen Bändelchen und sorgfältig aufeinandergeklebten Stoffschichten am Ende vor allem eines braucht: brutale, brachiale Kraft.

Grishko Spitzenschuh 1

Wir haben Glück und stehen daneben, als ein Schuh mit Gewalt in seine endgültige Form geprügelt wird, von einem schlanken, konzentrierten Kirgisen. Auf der Oberfläche der Arbeitsplatte, an der er sitzt, ist an der Ecke eine Metallplatte angebracht. Er nimmt den Schuh, hält ihn mit der Spitze nach unten, hebt ihn mit beiden Armen hoch – und knallt ihn dann mit maximaler Kraft senkrecht auf die Platte.

Grishko Spitzenschuh 2

Stille. Dann nimmt der Meister die Hände weg, und der Schuh bleibt stehen. So muss das sein – eine absolut gerade Fläche an der Spitze des Spitzenschuhs. Nur wenn der alleine stehen kann, darf er auch an den Fuß einer Tänzerin.

Grishko Spitzenschuh 3

Wir gehen dann noch ein bisschen weiter – in die Küche, wo die Blecheimer mit der ramponierten Emaille-Oberfläche noch ganz warm sind von dem Leim, der gerade erst angerührt wurde. Auf dem Fensterbrett liegt eine Katze. Wären nicht so viele fremde Leute da, könnte sie sich wieder gemütlich auf einem Eimerdeckel zusammenrollen. Wir gehen durch einen Raum, in dem ein halbes Dutzend Männer von Hand Nähnadeln durch die Ledersohlen stechen, um sie am Schuh zu befestigen.

Grishko Werkstatt Moskau Näher

Träfe man einen dieser Männer auf der Straße, man würde vermuten, dass er sein Geld als Rausschmeißer verdient, mit einem Nebenjob als einhändiger Sandsackschlepper. Diese Pranken, riesig, rauh und tätowiert. Um die Knöchel dicke Ledermanschetten, damit die Sohle nicht versehentlich an der eigenen Hand festgenäht wird.

Grishko Lederschutz für Knöchel

Zum Schluss noch ein Schlenker durch die Marketingabteilung. Frauen an Tischen, auf manchen steht neben dem Telefon ein einzelner Schuh als Stifteständer. Wer will, darf jetzt noch schnell selbst ein Paar anprobieren – und ganz ehrlich, wer kann das nicht wollen? Ein pastellseidig glänzendes Stück russischer Tradition, entstanden durch Fingerfertigkeit und Muckis?

Grishko Spitzenschuh als Stiftständer

Mit dem Hintern auf dem Stuhl und den Füßen auf dem Boden schmücken die Schuhe ganz ungemein. Aufstehen? Gar auf die Spitze? Schon der Versuch, im Sitzen die Füße auf die Zehenspitzen zu stellen, schmerzt. Es drückt, überall.

Nicht nur, weil die Schuhe so neu sind (Videos, in denen Ballerinas ihre neuen Spitzenschuhe weichklopfen, sei es mit dem Hammer oder gegen eine Wand, sind in Tänzerkreisen ein populäres Genre). Nichttänzerfüße sind den Ansprüchen, die diese Schuhe an sie stellen, einfach nicht gewachsen.

Grishko Schuhe anprobieren

Trotzdem kaufe ich mein Paar nach dem Anprobieren – 500 Rubel, ein Schnäppchen, im Laden kosten sie mindestens das Vierfache. Diese Schuhe werden niemals tanzen. Aber jetzt, wo ich weiß, wie viel Unverhofftes in ihnen steckt, bin ich mir sicher: Auch ihrem neuen Job neben dem Fernseher werden sie gewachsen sein.

Grishko Spitzenschuh mit Fernbedienung

Sowjetische Design-Objekte aller Arten, vereinigt euch!

kscheib sowjetunion mode

Bis vor einer Woche habe ich mir eingebildet, mich mit Moskaus Museen auszukennen.

Das Puschkin-Museum, das Garage-Museum, das Museum der Stadt Moskau, die alte Tretjakow-Galerie, die neue Tretjakow-Galerie, das Spielautomatenmuseum, das Multimedia Art Museum, das Museum für Moderne Kunst, das Fotomuseum „Brüder Lumiere“, das Museum für fernöstliche Kunst, das Zoologische Museum, das Darwin-Museum, das Kosmonautenmuseum, das Zentralmuseum der russischen Streitkräfte, das Architekturmuseum, das Museum des Großen Vaterländischen Krieges, das Paschkow-Haus – ich hab sie, so viel Prahlerei muss erlaubt sein, alle gehabt. Einige von ihnen auch mehrfach. Ins Museum gehen ist einfach, auch wenn man die Sprache noch lernt. Museen funktionieren immer gleich – Karte kaufen, rumlaufen, gucken.

Wie mir dabei fast vier Jahre lang das Moskauer Designmuseum durchgegangen ist – keine Ahnung. Mich grämt daran nicht so sehr, einfach ein Museum in Moskau nicht zu kennen – da wird es nicht das einzige sein. Aber so ein tolles, das noch dazu genau mein Ding ist! Wenn ihr mal bitte hier schauen wollt, was zunächst Russland und dann die Sowjetunion so hervorgebracht haben:

kscheib russland becherhalter

Ein Metallhalter, in den man sein Teeglas stellt. So um 1880 entstanden, unglaublich fein ausgearbeitet. Aber wir fangen ja erst an. Zwei Räume weiter, und es geht um russische Handarbeit. Zum Beispiel sowas hier:

kscheib russland design eichhörnchenkleid

So, damit kann ich dann auch endlich den Bergiff „Eichhörnchenkleid“ als Schlagwort für einen Blogpost vergeben – wieder einen Eintrag kürzer, die Bucket-List. Dazu noch die Holzbank im Hintergrund, eines von vielen ausgestellten Möbelstücken, natürlich Handarbeit, natürlich alt. Und wie immer die Frage im Hinterkopf: Gibt es irgendwas, das du mit deinen Händen so gut könntest?

Pappschatullen, schwarz lackiert und dann bemalt, sind russisches Traditionshandwerk – und eine der Kunstformen, die auch nach der Revolution populär blieb. Diese Dose hier ehrt Walentina Tereschkowa, die erste Frau im All und in der Sowjetunion fast so berühmt wie Juri Gagarin.

kscheib sowjetunion Walentina Tereschkowa

Dann, ein Museumszimmer weiter: Porzellan! Weil Hammer und Sichel aus Blumen einfach so viel schöner sind. Und weil doch bestimmt jeder beim Abendbrot vor einem Teller mit Lenins Gesicht und dem Slogan „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ sitzen möchte.

Mein Lieblingsstück ist aber der eckige Teller mit der Baustelle drauf. Dieser Optimismus, dass hier etwas völlig Neues entsteht, wenn alle mit anpacken – das muss man erst mal auf Geschirr unterbringen. Falls es einer auf dem Flohmarkt sieht: Ich nehme dann auch gerne direkt das ganze Service.

kscheib sowjetunion design mischa

Im Seitenflügel des Gebäudes wird es dann bunter, wir sind jetzt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Mischa, der Bär, 1980 das Maskottchen der Olympischen Spiele in Moskau, bewacht eine Vitrine mit Spielzeug – und ja, da ist nun wirklich alles an Farbe am Start, was man sich so denken kann.

Was halt damals plötzlich ging, dank Plastik. Hinten links das Krokodil Gena mit seinem großohrigen Freund Tscheburaschka, das vorne in der Mitte könnte die sowjetische Version von Karlsson vom Dach sein. Und natürlich ein Astronaut, Verzeihung: Kosmonaut.

kscheib sowjetunion design spielzeug

Weitere Erkenntnis: Wenn das Design stimmt, können sogar Haushaltsgeräte gut aussehen. Das türkise Ding in der Mitte mag ein Staubsauger sein, aber zur entfernten Verwandschaft gehört ganz klar ein großes altes Auto, so richtig schön mit Haifischflossen.

kscheib sowjetunion design haushalt

Was noch? Modekataloge, aus denen man sich allerlei bestellen konnte. In den Zeiten vor Layoutprogrammen und Photoshop bedeutete kreatives Marketing offenbar auch schon mal, dass römische Statuen für die neue Winterkollektion ihren Kopf hinhalten mussten.

kscheib sowjetunion design wäsche

kscheib sowjetunion design mode

kscheib sowjetunion design mäntel

kscheib sowjetunion design jacken

Zum Schluss noch ein Design-Exponat mit Deutschlandbezug. Die Zeitschrift heißt, nerdiger geht es kaum, „Technische Ästhetik“ und befasst sich in dieser Ausgabe mit „Der Rolle des industriellen Designs bei der erfolgreichen Ausführung der komplexen, sozial relevanten Aufgaben bei der Gestaltung der materiellen Umgebung“ – und all das dann im Zusammenspiel zwischen UdSSR und DDR, wie das Cover ja zeigt.

kscheib sowjetunion design ddr

Das Moskauer Design-Museum hat seltsamerweise keine Adresse oder Wegbeschreibung auf seiner Website, aber es liegt an der Ulitsa Delegatskaja 3. Der Б-Bus hält fast unmittelbar vor der Tür.

Sunday Times goes taz

Fundstück aus dem Urlaub in einem Land, in dem sprachspielerische Überschriften zum guten Ton gehören. In Deutschland denkt man dabei vor allem an die taz und vielleicht noch an so Perlen wie „Dalai sein ist alles“ in der FAZ und „Tabatabai sein ist alles“ in der SZ (meine ich jedenfalls, dass es dort war).

In Großbritannien spielen alle dieses Spiel, von der Times bis zur Sun, vom Scotsman bis zum Guardian. Die berühmte Sport-Überschrift „SUPER CALEY GO BALLISTIC, CELTIC ARE ATROCIOUS“ hat sogar ein Blog über britische Zeitungsüberschriften inspiriert.

Beim Beispiel oben zum Thema „Camp“ zeigt die Sunday Times jedenfalls, was wir dank der taz schon länger wissen: Schräg und geschmackvoll, das geht halt nicht immer zusammen.

Schreiben für Print

Wie man eine Print-Kolumne von 1400 Zeichen schreibt.

Variante A: Kolumne schreiben. 600 Zeichen. Alles ist gesagt. Tee kochen. Kolumne mit Beispielen anfüttern. Den Rest mit Absätzen und Wörtern, die möglichst raumgreifend umbrechen, füllen. Kolumne mailen.

Variante B: Kolumne schreiben. 1800 Zeichen. Zwei zwingend notwendige Aspekte sind noch nicht erwähnt. Unter Schmerzen einkürzen. 1600 Zeichen. Einer strengen Kollegin geben. 1500 Zeichen. Nach kürzeren Wörtern für „ist“ und „und“ suchen. Kolumne schließlich mit Überlänge mailen und um Layoutanpassung winseln. Schokolade versprechen.

Variante C: Kolumne schreiben. 1350 bis 1450 Zeichen. Kernargumente sind drin, Beispiele passen. Musik aufdrehen. Letzte 50 Zeichen nachjustieren. Kolumne mailen.

Statistische Verteilung:
Variante A – 30 Prozent.
Variante B – 70 Prozent.
Variante C – Rest.

Die zehnte China-Woche in Links

Beim letzten brennt noch das Licht – ob man „Letzten“ vielleicht lieber groß schreiben sollte? Petra Kolonko berichtet jedenfalls von einem älteren Ehepaar, das sein Haus für eine geplante Schnellstraße nicht verlassen will. Ergebnis: „Luo Baogen und seine Frau leben in einem halb abgerissenen Gebäude, das inmitten einer neuen Straße steht.“

Chen Guangcheng: Rebel of the Year 2012 – die Männerzeitschrift GQ hat ihre Männer des Jahres gewählt. Der Sieger in der Kategorie Rebell berichtet von seinem neuen Leben als „a humanitarian cause célèbre in the United States“: „At one point, an old friend who had planned to meet me on the plane came up and shook my hand. Of course, he asked, ‚Aren’t you happy to be leaving China?‘ ‚No, not really,‘ I said.“

China denies removing man over deaths of five homeless children – ohne Li Yuanlong wüsste die Öffentlichkeit nichts vom Tod fünf obdachloser Kinder in Guizhou. Nun ist der Reporter verschwunden, offenbar um weitere Berichte zu verhindern: „Soon after the revelations the authorities forced Li to take a ‚vacation‘, a method often used to deal with activists and dissidents.“

China erklärt seinen Nachbarn den Reisepass-Krieg – auf den neuen chinesischen Pässen sind Karten abgebildet, auf denen umstrittene Gebiete munter China zugeschlagen werden. Johnny Erling berichtet, wie Nachbarstaaten reagieren: „Chinesische Reisende mussten in Vietnam Extragebühren für Einreisestempel auf Extra-Einlegeseiten zahlen.“

Insurer’s Regulatory Win Benefits a Chinese Leader’s Family – einen runden Monat ist es her, dass die New York Times über das Vermögen der Familie von Wen Jiabao berichtete. Seitdem ist ihre Seite in China gesperrt. Wer weiß, wie man diese Sperre umgeht, liest heute eine Fortsetzung der Geschichte von NYT-Journalist David Barboza: „Long before most investors could buy Ping An stock, Taihong, a company that would soon be controlled by Mr. Wen’s relatives, acquired a large stake in Ping An from state-owned entities that held shares in the insurer, regulatory and corporate records show. “

Making it all work in the real world – einer von zwei Texten, in denen China Daily berichtet, wie chinesische Handwerker das Duale Ausbildungssystem in Deutschland kennenlernen. „The project reflects the challenge foreign companies, especially high-end manufacturers, face in finding sufficient numbers of skilled workers in China – despite the country saying it has the world’s largest vocational education system.“ Den zweiten Text, ein Fallbeispiel, gibt’s hier.

Journalistenhumor und Zeitungsapokalypse

„Andeutungen, Witze, Symbole, Ironie. Das bringe ich jungen Journalisten bei. Nicht nur die Recherche, nicht nur das Schreiben.“ Normalerweise kommen nach einem Zitat Name und Funktion des Menschen, der es gesagt hat, vielleicht noch das Alter. Hier nicht, um den Mann zu schützen, der da spricht.

Überrascht hat mich bisher an China, wie offen Menschen hier über kontroverse Themen reden. Wenig überraschend ist, dass man sie damit nicht zitieren sollte.

Tsinghua University School of Journalism and Communication
Rund 500 chinesische Nachwuchs-Journalisten werden derzeit an der Tsinghua University School of Journalism and Communication in Peking ausgebildet.

Andeutungen, Witze, Symbole, Ironie. Um sagen zu können, was gesagt werden muss, aber nicht darf. In der journalistischen Berichterstattung, aber auch im Gespräch unter Kollegen. Gewöhnungsbedürftig, mit Experten zu reden und sich plötzlich in Parabel-Land wiederzufinden. Aber auch einprägsam.

„In Russland funktioniert Wandel so: Da ist ein altes Haus. Das sprengen wir. Dann bauen wir ein neues. In China funktioniert Wandel so: Da ist ein altes Haus, aber da leben ja Leute drin. Also können wir es nicht sprengen. Stattdessen renovieren wir es, Raum für Raum. Manche Leute leben dann schon in neuen, schicken Zimmern, andere in alten, heruntergekommenen. Denen sagen wir: Haltet durch, bald kommen die Handwerker auch zu euch.“

Oder auch:

„Reagan, Gorbatschow und Deng Xiaopin gehen zusammen spazieren und kommen an eine Gabelung. An jedem der beiden Wege steht ein Schild, links „Kapitalisten“, rechts „Kommunisten“. Reagan läuft als erster weiter, ohne zu zögern, den linken Weg entlang. Gorbatschow guckt sich um, ob auch keiner schaut, zieht den Hut tief ins Gesicht und läuft auch links entlang. Auch Deng Xiaopin sieht sich um, ob jemand herguckt. Als die Luft rein ist, tauscht er die Schilder – und geht dann auch links lang.“

Mit der Zukunft der diversen Mediengattungen ist es hier übrigens wie in Deutschland: Viele steile Thesen, keine einheitliche Richtung. Der Kollegenhumor allerdings ist fatalistisch: „Wäre doch jetzt ein guter Zeitpunkt für die Regierung, die Auflagen zur Gründung von Zeitungen abzuschaffen. In zehn Jahren sind sie dann eh alle eingegangen.“