Woher kommen die russischen Berliner?

Das Datenjournalismus-Team der Berliner Morgenpost hat mal wieder ordentlich vorgelegt. Die Truppe rund um Julius Tröger entwickelt regelmäßig Projekte, bei denen aus Datensätzen spannender, hintergründiger Lokaljournalismus wird.

Der Flugrouten-Radar, bald zwei Jahre alt und damals richtungweisend für Datenjournalismus in Deutschland. Die beunruhigende Ausbreitung von Masern-Infektionen in der Hauptstadt. Berlin als zweigeteilte Stadt – zwischen den Fans von Hertha BSC und Union Berlin. Viele, immer neue Blicke auf den Berliner Wohnungsmarkt. Und jetzt eben: der Zugezogenen-Atlas.

Zugezogenen-Atlas – Woher die Berliner wirklich kommen

Treffen sich zwei Berliner auf der Straße, dann ist – jedenfalls wenn sie sich an die Statistik halten – einer von ihnen ein Zugezogener. Aus einer anderen Stadt, einem anderen Bundesland, einem anderen Staat, einem anderen Kontinent. Für mich ist natürlich vor allem der Russland-Aspekt interessant, und siehe da: Sortiert man die Städte der Welt danach, wie viele Berliner dort geboren sind, dann taucht auf Platz 25 Moskau auf.

Urban, westlich geprägt, wohlhabender als der Landesdurchschnitt – man kann sich vorstellen, warum Moskoviter den Wechsel nach Berlin attraktiv finden. Aber die russische Zuwanderung nach Berlin ist kein Hauptstadt-zu-Hauptstadt-Phänomen, wie die Rohdaten hinter dem Zugezogenen-Atlas beweist.

Daraus lässt sich leicht eine Karte basteln, die die Heimatorte der russischen Berliner zeigt – per Klick auf den jeweiligen roten Marker lassen sich Stadtname und die Zahl der hierher stammenden Berliner anzeigen.

Ein paar Regionen sind dabei über Moskau hinaus besonders bemerkenswert. Kalinigrad ist der Geburtsort fast 2800 heutiger Berliner, zusammen mit den nahe gelegenen Städten Sowetsk (Tilsit), Tschernjachowsk und Gussew (Gumbinnen) sind es sogar 3751 Berliner, die aus dieser Ecke kommen.

Ein anderes Grüppchen bilden die Städte Krasnodar und Rostow-am-Don: In die Schwarzmeer-Region wanderten unter Katharina der Großen viele Deutsche aus, die später von dort als Spätaussiedler zurück nach Deutschland kamen. Wolgograd, Saratow, Samara – die Nachkommen der Wolgadeutschen? Wobei Angehörige beider Gruppen unter Stalin ja deportiert wurden, etwa nach Sibirien oder ins heutige Kasachstan.

Interessant wäre sicher auch ein Blick darauf, welche Rolle jüdische Kontingentflüchtlinge unter den Menschen spielen, die aus russischen Städten nach Berlin gekommen sind – schließlich ist die Hauptstadt-Gemeinde eine der größten im Land.

Die Zentralwohlfahrtstelle der Juden hat zwar keine Daten dazu vorliegen, aus welchen russischen Städten besonders viele Menschen nach Deutschland gekommen sind, „aber aus unseren Erfahrungen wissen wir, dass vor allem die Menschen aus den Großstädten kommen,“ heißt es aus der Pressestelle. Moskau und Sankt Petersburg, aber auch Nowosibirsk, Samara, Omsk, Tscheljabinsk und Rostow-am-Don gehören zu den zehn russischen Städten mit der höchsten Einwohnerzahl. Insgesamt sind es mehr als 10.000 Menschen aus diesen Städten, die heute Berliner sind.

Warum allerdings Metropolen wie Jekaterinburg, Nischni Nowgorod oder Kasan in der Statistik nicht auftauchen, dafür aber deutlich kleinere Städte wie Kopeisk, Naltschik und Prokopjewsk, das kann ich mir aus dem Stand nicht erklären. Vielleicht kommt einem, wenn man einmal in einer russischen Großstadt gelebt hat, Berlin einfach zu klein vor? Wer einen Erklärungsansatz hat, bei dem das Hauptstadt-Ego weniger ramponiert wird, kann ihn ja in den Kommentaren hinterlassen. Ich bin gespannt.

Sowjetische Kindheit

Neues Theme*, neuer Galerie-Look. Alle Fotos sind aus der Ausstellung „Sowjetische Kindheit“ im Museum für Moskauer Stadtgeschichte, das ansonsten die Architektur und den Unterhaltungswerk eines beliebigen Parkhauses in meiner Heimatstadt Hilden hat**. Aber diese Ausstellung hier lohnt sich dann doch und läuft noch bis zum 15. März.

* Sparkling von ColorLib.

** Der Vergleich ist natürlich polemisch und unangebracht. Im Parkhaus an der Eisengasse zum Beispiel kann man in einen historischen Brunnenschacht blicken, mit Beleuchtung, das ist gar nicht so uninteressant.

40723 Hilden

Jahrgang 1977, aufgewachsen in Hilden – das ist Li-Han Lin. Weil uns beides verbindet, wollte ich gern seine Foto-Ausstellung „40723“ in Berlin sehen, benannt nach der Postleitzahl für den Süden unserer Heimatstadt. Bei den Öffnungszeiten der Galerie „Pavlov’s Dog“ stand „…und nach Vereinbarung“, und tatsächlich ergab kurzes Gemaile: Gar kein Problem, gerne auch am Sonntag kommen, wenn die Austellung gerade vorbei ist. Wir sind eh da. (Danke dafür!)

„Eine ganz normale deutsche Kleinstadt“, heißt es im Erklärtext über Hilden. Li-Han habe dort eine Kindheit erlebt, „so normal und unspektakulär wie die Stadt Hilden selbst.“ Haben wir uns gekannt? Nicht, dass ich wüsste – an asiatischen Altersgenossen erinnere ich mich nur an die Tochter einer japanischen Musikschul-Lehrerin. Aber die Bilder fühlen sich treffend an, vertraut. Und ich merke, wie ich in Verteidigungshaltung gehe beim Weiterlesen im Erklärtext: „Gleichzeitig ist Hilden einer dieser Orte, die man nach einer noch so glücklichen und unbeschwerten Jugend dann doch verlassen muss, wenn man nicht unbedingt Sparkassenfilialdirektor werden will.“

Ey!

Aus der Reihe “40723″ von Li-Han Lin

Wenn schon Frotzeleien, dann doch lieber so wie auf den Bildern. Die machen auch nichts schöner, als es ist. Aber sie lassen gelten, dass Provinz das ist, was man draus macht – also eher eine Kopfsache als ein Ort. Humor findet sich, wo man ihn sucht, unabhängig von der Einwohnerzahl. Li-Hans Mutter glaubt man denn auch anzusehen, dass sie sich was besseres vorstellen könnte, als schon wieder fotografiert zu werden. Ist halt, wenn man ehrlich ist, auch nicht die idyllischste aller Kulissen, in der sie da steht.

Aus der Reihe “40723″ von Li-Han Lin

Aber da muss sie durch, denn die Fotos heute sind eine Antwort auf die Fotos damals, gemacht von der Mutter: Li-Han Lin beim Entenfüttern, Li-Han Lin vor allerlei blühenden Sträuchern, Li-Han Lin beim Wettrennen auf dem Sportplatz (Bezirkssportanlage am Bandsbusch?). Und nun muss eben die Mutter herhalten, vor dem Haus, auf dem Balkon, vorm Bett. Bei Pavlov’s Dog hingen die alten und die neuen Bilder nebeneinander, ziemlich geschickt.

Am besten gefallen hat mir aber dieses Bild. Zum einen, weil Forsythiensträuche in der Tat zu meinen Hildener Erinnerungen gehören. Zum anderen, weil dieses Bild nur eine Deutung zulässt: Dieser Monsterstrauch hat die Mutter von Li-Han Lin verschlungen. Und dann die Schuhe akkurat wieder rausgerülpst. So ist es nämlich, das Leben in der Kleinstadt: wild und voller Abenteuer.

Aus der Reihe „40723“ von Li-Han Lin

Eine größere Auswahl an „40723“-Fotos gibt es bei Zeit Online.