Russball, Folge 3: Ticketpreise und „Dream Timo“ Werner

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Man vergisst ja leicht, dass es beim Fußball nicht nur um den Sport geht, sondern auch um die Gemeinschaft. Fußball schafft unverhoffte Kontakte, Fußball bringt Menschen ins Gespräch miteinander. So schön! Entsprechend begeistert war eine Moskauer Freundin von folgender Begebenheit am Flughafen:

Am Abend vorher hatten wir im Spartak-Stadion gemeinsam Russland gegen Portugal verlieren sehen, trotz unserer lautstarken Anfeuerei. Nun stand sie früh morgens an der Passkontrolle, unterwegs nach Deutschland zu einem Seminar. Auf der anderen Seite der Glasscheibe die übliche uniformierte Frau mit den üblichen Stempeln – und einer unüblichen Frage: „Na, wie war’s denn gestern Abend im Stadion? Gute Stimmung soweit?“ Nachfrage ergab: Tatsächlich bekommen die Grenzbeamten bei jedem, der Karten für den Confed Cup gekauft hat, angezeigt, wann und wo er bei welchem Spiel war. Zauberhaft, wie sich die Staatsmacht interessiert bis ins kleinste Detail. Da hat man die ganzen Daten für die Fan-ID wenigstens nicht umsonst weggeschenkt!

In Sotschi hatte ich unterdessen Gelegenheit, ebenfalls mit ein paar Leuten ins Gespräch zu kommen. Nicht nur beim mehrstündigen Selbstversuch „Fußballtickets kaufen ohne Russischkenntnisse“, sondern auch und immer wieder mit Taxifahrern. „Sie sind aus Deutschland? Hach, Oliver Kahn! Michael Ballack! Philipp Lahm!“ – „Sie sind aus Deutschland? Da war ich schon mal, in Lüdenscheid!“ – „Wie viele Einwohner hat Deutschland? 80 Millionen, und unter denen haben sie diese elf Männer für Ihre Mannschaft gefunden. Wir sind 145 Millionen – warum finden wir darunter nur solche elf Nieten für unsere Mannschaft?“

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⚽ Wir müssen mal übers Geld reden. Genau genommen darüber, wie man von einem russischen Einkommen (im Schnitt 558 Dollar, also knapp 500 Euro) Karten für ein internationales Fußballturnier bezahlen soll. Sowjetski Sport rechnet anhand des Confed Cups vor: Selbst wenn man die für Russen reservierten Tickets der Billigklasse kauft (960 Rubel/14,40 Euro), ist es damit ja nicht getan: 200 Rubel (3 Euro) für ein Bier, 250 (3,75 Euro) für einen Hot Dog. Dann vielleicht als Andenken noch ein Käppi mit Logo? Noch mal 1000 Rubel, also 15 Euro. „Und glauben Sie uns, das ist preiswert – bei der Formel 1 zahlt man 3000 Rubel für eine Kappe.“

Wladimir Leonow, Sportminister der russischen Republik Tatarstan, zu der der Austragungsort Kasan gehört, wird deshalb deutlich. Klar sei die Preisgestaltung Sache der FIFA, aber: „Wir müssen einen Blick werfen auf das durchschnittliche Einkommen der Bevölkerung an dem eigentlichen Ort, wo das Turnier stattfindet.“ Das will er der FIFA vorschlagen und so für die Fußball-WM 2018 Ticketpreise erreichen, die auch für Russen erschwinglich sind. (Dann erledigen sich vielleicht auch die Bilder leerer oder halbleerer Stadien.)

⚽ Was mit dem Videobeweis alles schief gehen kann, das haben die Spiele der vergangenen Tage gezeigt. Verwirrung im Stadion, weil anfangs auf den großen Bildschirmen keine oder nur verspätete Infos für die Fans angezeigt wurden. Eine gerade noch korrigierte Rote Karte für den falschen Kameruner. Der FatRef,  gleichzeitig Journalist bei AP und Unterliga-Schiedsrichter, hat weitere Pannen gesammelt. In Russland kursieren unterdessen Pläne, den Videoschiedsrichter auch bei Liga-Spielen einzusetzen.  Und ich bin immer noch fasziniert von der Second-Screen-Variante dieses Fans in der Reihe vor mir: Während bei Deutschland – Kamerun die anderen Zuschauer auf eine Entscheidung per Videobeweis warteten, rief er auf seinem Handy den Livestream auf und sprang ein paar Minuten zurück, um sich selbst ein Bild zu machen.

kscheib russball second screen sotschi

⚽ Russland hat es beim Confed Cup also nicht über die Gruppenphase hinaus geschafft, trotz aufmunternder Worte von Kevin Kuranyi. Was für die berichtenden Sportjournalisten heißt: Vorerst keine Pressekonferenzen mehr mit Stanislaw Tschertschessow, dem Trainer der russischen Nationalmannschaft. Ist das nun ein Verlust an Unterhaltungswert oder ein Gewinn an Höflichkeit? Die einen legen Tschertschessows, sagen wir mal, konfrontatives Verhältnis zur Presse unter „trockener Humor“ ab, die anderen werden deutlicher: „Nach dem Spiel gegen Portugal sprach Stanislaw Tschertschessow mal wieder mit den Journalisten wie mit Staubsaugervertretern, die ihn am Sonntagmittag aus dem warmen Bett herausgeklingelt haben.“

⚽ Apropos Confed-Cup-Aus für Russland: Da würde doch ganz gut dieses eine Meme passen, das aus diesem einen Reuters-Foto entstanden ist, wo Putin und Medwedjew im Regen stehen… Ach ja, und da ist auch schon die passende Variante unter dem Motto: „Wenn du Russland gegen Mexiko guckst“. Respekt, das ging flott! (Meine Lieblingsvariante bleibt aber die hier.)

 

Sotschi mag eines der schönsten Fußballstadien Russlands haben, dennoch droht den Menschen dort nach dem Confed Cup eine fußballerische Durststrecke bis zur WM: Gerade hat der FC Sochi bekannt gegeben, dass er sich ein Jahr Pause vom Ligafußball gönnen wird. „Die Erfolge der Mannschaft sind eher bescheiden,“ schreibt der Verein auf seiner Homepage, „wir sehen Fehler beim Management und bei den Spielern, also brauchen wir ein besseres Team.“ Zuletzt hatte der FC Sochi in der untersten Profiliga Russlands gespielt. Witali Mutko, russischer Vize-Ministerpräsident und Chef des Fußballverbandes, ist von der Entscheidung not amused – verspricht aber, die Lücke mit Länderspielen, einem Frauenfußball-Turnier und dem Granatkin-Jugendturnier im Fischt-Stadion zu füllen.

„Warum ist der russische Fußball so, wie er ist“, fragt die Website „Bombardir“ und zeigt dazu das Bild eines Spielers, der mit den Händen vorm Gesicht auf dem Rasen liegt. Es folgt „eine ultrakurze Analyse unserer Trauer“ in zehn Punkten, darunter: „Weil die Philosophie des russischen Fußballs Menschen schafft, die glauben, dass sie schon lange alles wissen und nichts mehr hinzulernen müssen“ – das gelte für Trainer wie für Spieler. „Weil bei der Mannschaftsaufstellung Freundschaft, Verwandtschaft oder gemeinsame Geschäftsinteressen wichtiger sind als Talent und Fähigkeiten.“ Dünkel, Klüngel und mehr – die ganze Liste gibt es hier.

⚽ Nach ihrem Draxler-Porträt vergangene Woche stellt die Rossijskaja Gaseta ihren Lesern diese Woche Timo Werner vor. „Dream Timo“ heißt die wortspielige Überschrift, und auch sonst ist die Begeisterung groß: „Am internationalen Fußballhimmel leuchtet ein neuer Stern“, auch wenn in Werners Karriere nicht immer alles glatt gegangen sei – die Schwalbe, die Pfiffe. Dennoch: „Es bleibt das Gefühl, dass Werner sicherlich zu denjenigen gehören wird, die in einem Jahr zurück nach Russland kommen zur Fußball-Weltmeisterschaft.“

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Ganz schön lang ist sie geworden, diese Russball-Folge. War das jetzt zu lang? Dann sagt gerne Bescheid, in den Kommentaren oder bei Twitter. Die bisherigen Folgen findet ihr hier, und dank ein paar Stunden Rumgefrickel mit Mailchimp könnt ihr Russball  auch abonnieren. Danke fürs Lesen und bis nächste Woche!



Russball, Folge 2: Draxler, Ronaldo und Jürgen Klopp

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Die zweite Russball-Ausgabe muss mit einem Dank an alle beginnen, die die erste gelesen, bei Twitter und Facebook geteilt oder sonstwie weiterempfohlen haben. Danke euch – das hat großen Spaß gemacht, zu sehen, wen das Thema alles interessiert!

Noch ein Dank: Die Grafik zu meinen Russball-Blogposts kommt von der Illustratorin Suus Agnes. Im Moment lebt sie in Sankt Petersburg und arbeitet an einer Graphic Novel, für die sie in abgelegenen Regionen Russlands Menschen zu den Umweltproblemen vor ihrer Haustür befragt. Ihre Arbeit an dem Projekt könnt ihr hier verfolgen, ich bin gespannt auf das Resultat.

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⚽ Inzwischen läuft der Confed-Cup – die Welt zu Gast bei Russen. Da werden Sportreporter zu Lyrikern, unterbeschäftigte Volunteers stehen vor dem Bolschoi-Theater in Moskau rum und hoffen, dass sie endlich mal wer was fragt, und ich merke, wie lange ich schon im Instagrammwunderland Russland lebe. Denn mein erster Gedanke bei diesem Trainings-Foto hier oben links war: „Ach guck, Benjamin Henrichs macht ein Selfie.“ (Sieht man besser, wenn man es anklickt)

Okay, ehrlich gesagt war der Gedanke eher „Ach guck, der macht ein Selfie, wer ist denn das noch mal?“ Schließlich hat Henrichs vor dem Confed-Cup erst ein Spiel für die deutsche Nationalmannschaft absolviert. Immerhin geht es ihm aber nicht wie seinen Mitspielern Marvin Plattenhardt, Kerem Demirbay, Lars Stindl, Amin Younes und Sandro Wagner: Von denen haben sie beim DFB kein einziges passendes Foto für diese schicke Ganzkörpergrafik hier gefunden.

(*Update: Der DFB hat inzwischen nachgelegt und den Spielern ein Gesicht bzw einen ganzen Körper gegeben. Vorher sah es dort nämlich so aus:)

⚽ „Er wird geschätzt für sein brillantes Dribbling und seine Fähigkeit, hohe Ablösesummen zu erzielen.“ Mit dieser Bildunterschrift stellt die Rossijskaja Gaseta ihren Lesern Julian Draxler vor, den Kapitän des deutschen Confed-Cup-Kaders.
kscheib Russball Draxler

Es folgt ein Abriss von Draxlers Karriere (jüngster Kapitän der deutschen Nationalmannschaft!), und selbst Lothar Matthäus darf sich hier noch mal äußern. Das „Königsblau“ von Draxlers erstem Club Schalke 04 übersetzt die Rossijskaja Gaseta übrigens sehr hübsch mit „Kobaltblau“. Also, liebe Mit-Schalker: Auf Russisch sind wir die „Кобальтовые“ (Kobaltowieje).

Leonid Sluzki, früherer Trainer der russischen Nationalmannschaft, trainiert in Zukunft das Team von Hull City. Die New York Times nimmt das zum Anlass für eine Analyse: Warum gibt es eigentlich so wenige Russen, die im Ausland spielen? Liegt’s am Geld, an der Konkurrenz? „Russland ist seine eigene Welt, ein Ort, wo Spieler und Trainer hingehen, aber selten herkommen.“ (Hübscher Nebenaspekt: Slutsky erzählt von seinem Vorsatz, in Sachen Englischkenntnisse möglichst bald Jürgen Klopp einzuholen.)

⚽ Letzte Woche ging es hier ja schon mal um die Behauptung, in der russischen Liga habe es vergangene Saison keinerlei rassistische Vorfälle mehr gegeben. Etwas realitätsnäher sind wohl die Zahlen, die Football Against Racism in Europe gesammelt und nun veröffentlicht hat: Ein leichter Rückgang im Vergleich zur Vorsaison, aber unterm Strich immer noch 89 Fälle von Rassismuss und Rechtsextremismus. Dazu gehörten auch antisemitische Aktionen gegen jüdische Trainer oder Vereinsoffizielle.

⚽ Das Fischt-Stadion in Sotschi ist architektonisch ein echter Hingucker. Am Montagabend war es trotzdem eher zum Weggucken: leere Plätze überall, obwohl Australien gegen Deutschland spielte. Es gibt zwar für jedes Spiel einige Billigtickets nur für russische Staatsangehörige, die anderen Kategorien sind aber deutlich teurer. Wenn ich Durchschnittsrussin wäre und im Monat umgerechnet 499 Euro verdienen würde – ich glaube nicht, dass ich davon 72, 87 oder gar 138 Euro für 90 Minuten Fußball ausgeben würde. In Sotschi sollen darum jetzt Freikarten an Schulkinder verteilt werden, damit nicht so viele Plätze frei bleiben.

⚽ Kasan hat ein neues Graffiti: ein bunter, flächiger Christiano Ronaldo. Der, nebenbei bemerkt, auf Russisch „Криштиану Роналду“ (Krischtianu Ronaldu) heißt und damit deutlich näher an der portugiesischen Originalaussprache ist als das, was wir so in Deutschland aus dem Namen machen.

https://www.instagram.com/p/BVUFt5EB_l0/

Ruptly, der Bildagentur-Ableger von RT, hat mit einem der Sprayer gesprochen, der sich weder für Fußball noch für Ronaldo groß interessiert: Die Idee für das Kunstwerk habe der Bürgermeister von Kasan gehabt, „ich selber bin kein Fußballfan, aber ich weiß, dass (Ronaldo) eine sehr berühmte Person ist. Ich habe neulich noch in den Nachrichten von ihm gehört.“ Laut AP kann das Graffiti übrigens nur sehen, wer im portugiesischen Mannschaftshotel wohnt oder arbeitet.

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Das war’s für diese Russball-Folge. Und nachdem ihr letzte Woche so freundlich dafür abgestimmt habt, hier zum Schluss noch ein kleines Formular – falls ihr Russball gerne direkt zugemailt bekommen wollt. So oder so gibt es die nächste Folge am kommenden Mittwoch – bis dann!



Es steht ein Kasan im Rheinland

Man muss dieser Geschichte vielleicht vorausschicken, dass ich einen großartigen Bruder habe. Vage kann ich mich noch an Haareziehen und Schwitzkasten im Kinderzimmer erinnern, aber schon mit der Pubertät ist das gekippt. Da war er das plötzlich, der abends extra zu der jeweiligen Freundin kam, bei der ich gerade war, damit ich nicht alleine nach Hause radeln musste. Zusammen haben wir Strategien entwickelt, die bis heute funktionieren: Was besser Mama sagen, damit sie es Papa beibringt? Was besser Papa sagen, damit er es Mama unterbreitet? Und was einfach für uns behalten?

Als ich neu in der ersten großen Stadt war, der Geburtstag anrückte und ich dachte: Naja, bist ja ein rationaler Mensch, Dienstplan ist Dienstplan, dann feierst du halt nächstes Wochenende, wenn du zuhause bist – und dann am Tag vorher merkte, dass Rationalität weder Heimweh noch Sehnsucht verhindert, ist er stundenlang angereist, für ein bisschen Feiern, wenig Schlaf und eine ebenso stundenlange Rückreise. Als ein paar Berufsjahre später ein Projekt anstand, bei dem ich über Wochen einem cholerischen, fiesen Möpp ausgesetzt war, hat mein Bruder sich zunehmend alberne Namen für den Möpp und seine Visionen ausgedacht: „Na, was macht Projekt ‚Häschen in der Grube‘?“ Es waren seltene, dringend nötige Lacher in diesen Tagen.

Ich hab das immer für normal gehalten, Geschwister halt, klar verstehen wir uns. Bis eine Freundin hier in Moskau nach einigem Erzählen irgendwann sagte: „So you’re close, you and your brother.“ Seitdem denke ich da öfter drüber nach, dass das vielleicht doch besonders ist.

Dass wir nicht nur um drei Uhr morgens über die Zukunft der Sozialdemokratie philosophieren können, sondern uns auch über ein paar tausend Kilometer Abstand über den Alltagskram auf dem Laufenden halten. Welche Nichte diese Woche nicht in der Kita war wegen Ohrenschmerzen. Wann der Moskauer Balkonsalat geerntet werden kann. Wir schreiben, wir telefonieren, wir skypen. Wir sagen „Du fehlst mir“ und „Pass auf dich auf“. Wir tun bekloppte Dinge füreinander. Womit die Geschichte vom Kasan dann auch schon anfangen kann.

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Kasan ist nicht nur der Name einer russischen Stadt, sondern auch eines Kessels. Ein großes, gusseisernes Ding, mit einem Metallzylinder drunter, in den Holzscheite kommen. So kann man draußen nicht nur grillen, sondern auch kochen. Anfang des Sommers habe ich das bei Freunden auf der Datscha zum ersten Mal gesehen, daraus Plow gegessen und gewusst: Mein Bruder, der so gerne kocht und grillt, hätte da einen Mordsspaß dran.

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Wo kauft man einen Kasan? Im Supermarkt schon mal nicht, auch nicht im Haushaltswarenladen, wie sich rausstellt, und selbst Utkonos, der Onlineladen für alles Denkbare, hat im Sortiment eine kasanförmige Lücke. Aber dann, auf dem großen Markt an der Dorogomilowskaja: Einer der vielen freundlichen Zentralasiaten versteht mich nicht nur, sondern spielt auch gleich Eskorte zum Stand ein paar Reihen weiter: Samoware, Grillspieße, riesige Messer – und Kasane.

„Haben Sie auch eine Waage?“, frage ich vorsichtig, und so finden wir heraus: sieben Kilo die gusseiserne Schüssel mit Deckel, noch mal fünf Kilo der Untersatz – also, im Prinzip, fluggepäcktauglich. Okay, kein Karton zum Transportieren, aber ein riesiger, fester Plastiksack. Wäre der linke Arm ein bisschen weniger gebrochen, die Schlepperei zur Straße wäre erträglicher, aber immerhin ist so für die kurze Fahrt heimwärts ein Taxi gerechtfertigt.

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Deutlich weniger hilfreich als die Markthändler ist die Telefonauskunft von Aeroflot. Die Schüssel, also der eigentliche Kasan, passt problemlos in den Koffer und landet wenige Wochen später in Düsseldorf. Der Untersatz dagegen ist aus einem Stück geschweißt, die drei Beine lassen sich also nicht abmontieren oder auch nur anwinkeln. Überhaupt passt er nur in die größte Reisetasche, an Koffer ist nicht zu denken. Und selbst dann sieht es aus, als hätte man ein Oktopusbaby in die Tasche genötigt, das nun alle Arme von sich streckt.

Einerseits sind die Maße der Tasche über dem, was laut Kleingedrucktem erlaubt ist. Andererseits sind Gepäckvorgaben in Russland in etwa so bindend, wie wenn man im Sommer zu einem Eis „schmilz nicht“ sagt. Handgepäck? Gerne drei bis vier Teile. Riesenkoffer? Aber hallo! Darf der Kasan also mitfliegen? Die Aeroflotfrau erzählt was von Kilos und Zentimetern, will sich aber nicht festlegen. Dann also ein Versuch mit Sicherheitsnetz.

Als das nächste Mal ein freundlicher Mit-Moskauer auf Stippvisite nach Deutschland fliegt, hat er alles Nötige im Handgepäck. Das Unnötige, also der Kasan und einige Schichten Bläschenfolie und Handtücher, soll in der Reisetasche aufgegeben werden. Für den Fall, dass das nicht klappt, fahre ich morgens um halb sechs mit zum Flughafen und könnte so im Prinzip die Tasche wieder mit nach Hause nehmen. Vorerst aber wird sie russifiziert, sprich: in Plastikfolie eingeschweißt. Das ist für russische Flugreisende absolutes Pflichtprogramm, und wenn es verhindert, dass ein Oktopusbein die Reisetasche durchdringt: um so besser. Wobei, Oktopus? Eingeschweißt sieht das Ding eher wie ein Schwein aus. Ein Schwein mit Henkel.

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Am Check-in-Schalter versuche ich es mit einem verschlafen-apathischen Gesicht. Alles total Routine hier, nur bitte fangen Sie kein Gespräch an, weder mit dem eigentlichen Passagier noch mit mir. Aber warum sollte sie auch. Ein Schwein mit Henkel, ordnungsgemäß eingeschweißt und keine zehn Kilo schwer? Klar fliegt das mit. Kleiner Freudentanz außer Sichtweite und dann ab zurück nach Hause, ins Bett. Zum Frühstück gibt es dann die Nachricht: Das Ding hat den Flug unbeschadet überstanden, alle Beine noch dran am Oktopusschwein. Es steht auch schon im Bruderhaus.

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Ein paar Wochen später hat der Kasan seinen ersten Einsatz. Gulasch für ein Dutzend Leute, gekocht mit russischem Equipment unter rheinischem Himmel. „Und, bist Du zufrieden,“ schreibe ich, kurz darauf kommt die Antwort: „Wenn ich einen zweiten hätte, könnte ich auch die Nudeln zum Gulasch im Kasan machen.“

Friedrich Engels und der Eisfischer von Kasan

Mit Moskauer Erwartungen nach Kasan zu kommen, bringt viele Überraschungen. Lächelnde Menschen auf der Straße. Blickkontakt im Restaurant. Autos, die an Zebrastreifen halten. Die Museumswärterin, die merkt, dass wir den Anfang der Ausstellung zur tatarischen Geschichte nicht finden und sagt, „na, kommen Sie, ich zeig es Ihnen“, dann mit Blick aufs Ziel mir freundlich den Arm tätschelt und die Richtung weist.

Okay, das Familienzentrum, das aussieht wie eine gusseiserne Schale auf einem langsam in die Grätsche gehenden Stövchen, ignoriert sein eigenes Öffnungszeitenschild und hat geschlossen. Aber wären wir nicht durch den Schneematsch hierher gestapft, hätten wir sie nicht gesehen, die Handvoll Kapuzengestalten, denen der Sonntagmorgen zwei Dinge bringt: einen kalten Hintern und einen guten Fang. 

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Breit ist die Kasanka hier, wo sie sich mit der Wolga trifft. Und selbst so nah am Stadtzentrum ist es, Winterwetter sei dank, so still, dass man am Ufer hört, wie die Eisfischer ihren Bohrer ansetzen. Ein Riesentrumm, fast so groß wie die Angler selbst, und so schlicht wie eine schnell hingezeichnete Skizze. Schraube unten, Griff oben, dazwischen was zum Drehen. 

Kasan Russland Eisfischer 1

Später laufen wir uns über den Weg, zwei der Männer sind auf dem Weg runter vom Eis, zum Auto, ins Warme. „Entschuldigung, aber darf ich ein Bild von Ihnen machen mit…“ – ich weiß das Wort für Ausrüstung nicht. „Mit den Fischen?“, souffliert der eine und grinst. „Nein, mit… dem Instrument da.“ – „Ah, eine Foto-Session? Aber sicher!“ Und schon wirft er sich in Pose. Ein Mann, ein Bohrer. 

Kasan Russland Eisfischer 5

Ein paar Fragen hat er dann auch noch: Wie gefällt Ihnen Kasan (gut), was genau (Architektur, Geschichte), woher kommen Sie (aus der Nähe von Düsseldorf). „Kenn‘ ich nicht, ich kenne nur Trier, da haben Freunde von mir mal gearbeitet.“ – „Ah, ja, schöne alte Stadt, waren Sie da auch mal?“ – „Nein, aber ich weiß, dass es die Stadt von Karl Marx ist.“ – „Und ich komme aus der Nähe von Wuppertal, der Stadt von Friedrich Engels.“ – „Dann kommen Sie doch am 5. August wieder und wir feiern zusammen!“ Gelächter, großes Hallo, Verständigung findet statt. 

Er zeigt noch seinen Fang, „Sudak“, mit feinem Muster auf der Haut und ordentlichen Zähnen. Ein Zander. Dann fahren die beiden nach Hause, wir gehen einen Tee trinken, und die restlichen Fischer sitzen weiter tapfer auf dem Eis.

Kasan Russland Eisfischer 3

Kasan Russland Eisfischer 4