Nikola-Leniwets: Wo in Russland die Aliens landen

Wer etwas über Russland, die Raumfahrtnation, erfahren will, der reist am besten nach Kaluga. Hier hat es angefangen, lange vor Sputnik, Laika und Gagarin. Was nicht heißt, dass sie einem hier nicht begegnen: Sputnik, den Satelliten, trägt die Stadt auf ihrer Flagge. Über Laika, die Hündin, erfährt man mehr im großen Raumfahrtmuseum, das gerade noch einmal erweitert wird. Und Gagarin, naja, der hat natürlich den Grundstein für das Museum gelegt, wer auch sonst.

Schließlich gibt es hier die Gagarin-Straße, das Gagarin-Businesscenter, das Gagarin-Einkaufszentrum und die Kneipe „Gagarin“. Doch Kaluga ist groß genug für mehrere Kneipen, und die können nicht alle „Gagarin“ heißen. Also heißen sie „Rocket“, „Belka“, „Hubble“, „Njebo“ (Himmel) oder sogar „Sedmoje Njebo“ (Siebter Himmel).

Warum all das? Wegen Konstantin Ziolkowski. Ein Mathelehrer, geboren 1857, der nach der Arbeit gerne Jules Verne las und Luftschiffe entwarf. Seine Skizzen und Modelle sieht man heute in Kaluga in dem Museum, zu dessen Baubeginn Gagarin in die Stadt kam. Denn Ziolkowski rechnete, tüftelte und entwarf weiter: einen Aufzug, der bis ins All führen sollte. Raketen mit mehreren Stufen. Raumstationen. Keine systematische Forschung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft, sondern das Hobbyprojekt eines Fricklers in der Provinz.

In der Sowjetunion galt Ziolkowski als der Vater der Raumfahrt und es war Tradition, dass Kosmonauten sein altes Häuschen in Kaluga besuchten. Das Haus ist heute ein Museum, und eine der Wärterinnen hat ganz ausgezeichnetes Timing: Genau in dem Moment, wenn man die Holztreppe zu Ziolkowskis Arbeitszimmer hochsteigt, sagt sie: „Ach ja, auf den Stufen hat vor Ihnen auch schon Gagarin gestanden.“

Wenn Kaluga dafür steht, dass der Mensch hinauf reist ins All, dann ist Nikola-Leniwets der Ort, wo sie runterkommen – die Besucher aus der Weltraum. Das Dorf liegt rund anderthalb Autostunden von Kaluga entfernt. Wer hier durch den Schnee stapft, trifft zwar selten Menschen, steht dafür aber gerne mal vor sowas hier:

nikola leniwets russland skulpturen weißes tor

Oder vor sowas:

nikola leniwets russland skulpturen universeller verstand 5

Oder vor sowas hier – und ja, das da links ist ein Mensch, der einem Hund hinterherrennt, nur so zum Größenvergleich:

nikola leniwets russland skulpturen Beaubourg bobur hund

„Fauler Nikolai“ bedeutet der Name des Dorfes, das in seinen Prachtzeiten mehrere tausend Bewohner hatte. Im Zweiten Weltkrieg wurde es von Wehrmachtstruppen niedergebrannt, später gab es hier noch ein wenig Milchwirtschaft, nach und nach schrumpfte das Dorf zum Dörfchen. Ende der Achtziger sollen es nur noch drei Bewohner gewesen sein, doch dann begann ein Grüppchen von Architekten und Künstlern, sich für Nikola-Leniwets zu interessieren. Heute stehen auf dem Gelände riesige Skulpturen, meist aus Holz. Man läuft schon mal den einen oder anderen Kilometer, wenn man sie alle sehen will – dafür steht jede von ihnen so allein in der Landschaft wie ein frisch gelandetes Raumschiff.

In viele von ihnen kann man hineingehen, wie in den großen Knoten aus verwundenen Holzbahnen. „Universeller Verstand“ heißt das Kunstwerk, anderswo steht das „Weiße Tor“ oder der „Leuchtturm“. Das gigantische Korbgeflecht, das aussieht, als habe sich eine Herde Mammuts mit den Hintern zueinander im Kreis aufgestellt, heißt „Bobur“, eine russifiziert-verballhornte Form von „Beaubourg“.

Im Sommer gibt es in Nikola-Leniwets Festivals, man kann zelten, sich einen Grill mieten – aber gut, das ist dann halt auch voller und wuseliger. Ich bin froh, den faulen Nikolai im Winter besucht zu haben. Denn dieses Gefühl, dass man da einem Ding aus einer anderen Welt gegenübersteht, funktioniert am besten, wenn man ganz alleine ist.

So viel rohe Gewalt steckt in einem Spitzenschuh

Vor einigen Wochen habe ich mir ein paar Ballettschuhe gekauft. Spitzenschuhe. Apricotfarbene.

(An dieser Stelle eine kurze Pause, damit alle persönlichen Bekannten ihr Gelächter loswerden können. Das gilt auch und vor allem für Freunde aus Schulzeiten, die sich an meine naturgegebene Grazie und an meinen Enthusiasmus für sportliche Leistungen erinnern – kollektiv manifestiert in einem akuten Schwindelanfall mit Beinahe-Sturz vom Schwebebalken.)

Fertig? Gut. Es ist nämlich so, dass Russland nicht nur ein Land mit großer, glänzender Balletttradition ist, sondern auch die Heimat von Grishko, einem der Hersteller von Spitzenschuhen. Ich wusste das auch nicht, eh ich hierher gezogen bin, dann Besuch von einer ballettkundigen Freundin bekam und inzwischen mit Ballettänzern und -mitarbeitern befreundet bin. Russland, das bedeutet eine schleichende Ballettifizierung des Lebens. Aber auf die Idee, mir selber so ein paar Schuhe zu kaufen, wäre ich bis zu diesem Tag trotzdem nie gekommen.

Die Grishko-Fabrik, die wir uns hier als kleine Gruppe anschauen dürfen, ist zunächst einmal kleiner als das Bild, das man bei „Fabrik“ im Kopf hat. Eine Manufaktur vielleicht? Eine Werkstatt? Jedenfalls wird hier Stoff in diesem speziellen Farbton, den die Firma sich extra hat schützen lassen, zurechtgeschnitten – immer direkt ein ganzer Stapel aufeinanderliegender Stoffbahnen. Es wird genäht, geformt, geleimt, geklopft, getrocknet. Aber das Interessanteste sind die Kirgisen.

Man muss das vielleicht kurz erklären. Grishko ist, wie gesagt, in Russland ein großer Name. Es gibt ganze Ballettcompagnien, die nichts anderes als Grishko-Schuhe an die Füße ihrer Tänzer lassen. Die Frau, die uns durch die Werkstatt führt, erzählt von einer Star-Ballerina am Bolschoi, die in einem Monat mehr als 30 Paar Grishko-Schuhe durchtanzt, weil sie so viel probt und auftritt.

Als wir vor dem Regal mit den Pappkisten stehen, jede schön mit Namensschild, ist mir also völlig klar: Das sind wohl die Namen berühmter Tänzer, für die hier gerade die paar Dutzend Schuhe für den nächsten Monat entstehen.

Grishko Pappkartons Namensschilder

Komplett falsch. Die Namen auf den Pappkisten gehören den Leuten, die hier die Schuhe herstellen. Manche Tänzer, erzählt unsere Werkstattführerin, finden, wenn ein Spitzenschuh besonders gut sitzt, den Namen des Menschen heraus, der ihn – nach vielen anderen Produktionsschritten – fertigstellt und in Form bringt: „Dann bekommen wir eine Bestellung, auf der steht: Unbedingt nur von Meister Soundso.“ Und diese Meister sind, jedenfalls bei Grishko, oft Kirgisen.

Warum, kann keiner so richtig erklären. Gastarbeiter aus Zentralasien sind in Russland keine Seltenheit, aber warum gerade Kirgisen, und gerade in dieser Werkstatt – niemand weiß es. Was man aber wissen kann, und was ich definitiv nicht wusste, ist, dass die Herstellung von Spitzenschuhen nach all dem glänzenden Satinzuschnitt, all den akkuraten Näharbeiten, den pastellfarbenen Bändelchen und sorgfältig aufeinandergeklebten Stoffschichten am Ende vor allem eines braucht: brutale, brachiale Kraft.

Grishko Spitzenschuh 1

Wir haben Glück und stehen daneben, als ein Schuh mit Gewalt in seine endgültige Form geprügelt wird, von einem schlanken, konzentrierten Kirgisen. Auf der Oberfläche der Arbeitsplatte, an der er sitzt, ist an der Ecke eine Metallplatte angebracht. Er nimmt den Schuh, hält ihn mit der Spitze nach unten, hebt ihn mit beiden Armen hoch – und knallt ihn dann mit maximaler Kraft senkrecht auf die Platte.

Grishko Spitzenschuh 2

Stille. Dann nimmt der Meister die Hände weg, und der Schuh bleibt stehen. So muss das sein – eine absolut gerade Fläche an der Spitze des Spitzenschuhs. Nur wenn der alleine stehen kann, darf er auch an den Fuß einer Tänzerin.

Grishko Spitzenschuh 3

Wir gehen dann noch ein bisschen weiter – in die Küche, wo die Blecheimer mit der ramponierten Emaille-Oberfläche noch ganz warm sind von dem Leim, der gerade erst angerührt wurde. Auf dem Fensterbrett liegt eine Katze. Wären nicht so viele fremde Leute da, könnte sie sich wieder gemütlich auf einem Eimerdeckel zusammenrollen. Wir gehen durch einen Raum, in dem ein halbes Dutzend Männer von Hand Nähnadeln durch die Ledersohlen stechen, um sie am Schuh zu befestigen.

Grishko Werkstatt Moskau Näher

Träfe man einen dieser Männer auf der Straße, man würde vermuten, dass er sein Geld als Rausschmeißer verdient, mit einem Nebenjob als einhändiger Sandsackschlepper. Diese Pranken, riesig, rauh und tätowiert. Um die Knöchel dicke Ledermanschetten, damit die Sohle nicht versehentlich an der eigenen Hand festgenäht wird.

Grishko Lederschutz für Knöchel

Zum Schluss noch ein Schlenker durch die Marketingabteilung. Frauen an Tischen, auf manchen steht neben dem Telefon ein einzelner Schuh als Stifteständer. Wer will, darf jetzt noch schnell selbst ein Paar anprobieren – und ganz ehrlich, wer kann das nicht wollen? Ein pastellseidig glänzendes Stück russischer Tradition, entstanden durch Fingerfertigkeit und Muckis?

Grishko Spitzenschuh als Stiftständer

Mit dem Hintern auf dem Stuhl und den Füßen auf dem Boden schmücken die Schuhe ganz ungemein. Aufstehen? Gar auf die Spitze? Schon der Versuch, im Sitzen die Füße auf die Zehenspitzen zu stellen, schmerzt. Es drückt, überall.

Nicht nur, weil die Schuhe so neu sind (Videos, in denen Ballerinas ihre neuen Spitzenschuhe weichklopfen, sei es mit dem Hammer oder gegen eine Wand, sind in Tänzerkreisen ein populäres Genre). Nichttänzerfüße sind den Ansprüchen, die diese Schuhe an sie stellen, einfach nicht gewachsen.

Grishko Schuhe anprobieren

Trotzdem kaufe ich mein Paar nach dem Anprobieren – 500 Rubel, ein Schnäppchen, im Laden kosten sie mindestens das Vierfache. Diese Schuhe werden niemals tanzen. Aber jetzt, wo ich weiß, wie viel Unverhofftes in ihnen steckt, bin ich mir sicher: Auch ihrem neuen Job neben dem Fernseher werden sie gewachsen sein.

Grishko Spitzenschuh mit Fernbedienung

Putin der Woche (L)

kscheib putin der woche tsereteli pferd
Gesehen: Auf der Datscha des Bildhauers, Malers und Hans-Kunst-in-allen-Gassen, Surab Zereteli.

Begleitung: ein Pferd

Text: keiner

Subtext: Niemand wollte diese Statue haben – dabei hat Zereteli doch so gute Kontakte, dass er in Russland schon ganz anderen Bombast aufstellen durfte. Bloß für den Putin im Judo-Anzug fand sich kein Abnehmer. Nun steht er hier auf der Datscha, mit Dutzenden anderer heimatloser Skulpturen, die – wie das blöde Pferd – nicht mal respektvollen Abstand halten. Und trägt ein ganz allerliebstes, fluffiges Mützchen aus Schnee.

Oben-Ohne-Punkte: 0/10.

Putin der Woche (XLVIII)

kscheib putin der woche crowdfunding

Gesehen: Auf der Crowdfunding-Seite von Wjatscheslaw Nesterow. Der Künstler plant einen Kalender namens „Putin für jeden Tag“, der bis zum Jahr 2120 gelten soll – wenn auch nur mit einem Eintrag pro Jahr.

Begleitung: Ein Dinosaurier im Handtaschenformat. Wobei mir das Bild, wo Putin mit einem Ameisenbär Gassi geht, fast noch besser gefällt.

Text: Ein Eintrag pro Jahr, ein Blick in die russische Zukunft – das klingt dann zum Beispiel so: „2016: Das Problem mit der Korruption ist gelöst. Sie ist nun legal und steuerpflichtig.“ – „2030: Die russische Fußball-Nationalmannschaft gewinnt den Hauptpreis im Sportlotto.“ – „2033: Die Ägäis wird in Nicht-gay-is umbenannt“.

Noch Fragen? Die beantwortet der Künstler selbst: „Keine dieser Illustrationen hat einen politischen Kontext. Wenn Sie hier einen entdecken, dann sind das nur Ihre eigenen Gedanken, aber nicht die Gedanken von Wjatscheslaw Nesterow, der hat keine Gedanken.“

Subtext: Im März wird Putin mal wieder wiedergewählt – richten wir uns also besser darauf ein, dass das noch lange so bleibt.

Oben-Ohne-Punkte: 0/10

Russball, Folge 16: Liverpool, Spartak und sowjetische Kunst

Russball kscheib Suus Agnes 2 signed

Diese Russball-Folge beginnt mit einem „herzlich willkommen“ an alle neuen Leser. Falls ihr wegen des Facebook-Posts von Franziska Bluhm hier seid, freut mich das sehr – ein Lob für ein Digitalprojekt ausgerechnet von Franzi, da geht man schon etwas aufrechter. Wenn da nur nicht dieser Druck wäre, dass diese Ausgabe dann natürlich besonders gut werden muss… Besser nicht weiter drüber nachdenken, sondern loslegen.

⚽⚽⚽

⚽  Sehr schöne Aktion, die sich der FC Liverpool vor seiner Abreise nach Moskau hat einfallen lassen: Unter dem Hashtag #MyLFCMatchdayImage konnten Fans ihre Bilder zum Champions-League-Spiel gegen Spartak Moskau twittern, aus den vier besten wählten die Twitter-Follower dann ihren Favoriten aus. Gleich mehrere Motive bedienen sich bei sowjetischer Plakatkunst, das hier ist mein Lieblingsbild (und was für einen großartigen Namen hat sich denn bitte der Fan hinter diesem Bild ausgedacht: „Jürgeneedabiggerboat“ – das musste ich, Klopp hin oder her, mir auch erst mal laut vorsprechen):

Das eigentliche Spiel war dann eher mittelinteressant, will sagen: Es hat nicht nennenswert dabei gestört, sich mit den anderen Mitguckern zu unterhalten. Immerhin, 1:1, das freut natürlich Spartak mehr als Liverpool. Außerdem habe ich zwei Dinge zum ersten Mal gesehen: 8 (in Worten: acht) Minuten Nachspielzeit und eine Art Golfwägelchen, in dem die verletzten Spieler vom Rasen runter chauffiert werden. Für diesen Zuschauer eine klare Sache: „Ein neuer Service von Uber.“

⚽  Eine Runde Moskauer Stadtnachrichten: Zum einen hat Tatjana Potjajewa, die städtische Ombudsfrau für Menschenrechte, erheben lassen, wie viele rassistische Vorfälle es rund um die Moskauer Fußballstadien seit 2014 gegeben hat: knapp 100, beteiligt waren sowohl Fans als auch Spieler. Nun hat die Ombudsfrau vorgeschlagen, dass bei Fußballspielen in Zukunft spezielle Beobachter eingesetzt werden, die bei Fällen von Rassismus oder anderer Diskriminierung den Schiedsrichter informieren.

Die andere Stadtnachricht ist eine Prognose: Moskaus Tourismusbehörde hat mal durchgerechnet, wie viele Fußballfans im kommenden Jahr wohl zur WM anreisen, und da kommen schon ziemlich stolze Zahlen zusammen: Eine Million Fans erwartet Alexey Tichnenko, der die Behörde leitet – im Schnitt wahrscheinlich für einen Aufenthalt von drei Tagen. Dass die Zahl so hoch ist, liegt auch daran, dass Moskau aufgrund seiner Lage und der guten Flugverbindungen für viele Fans der erste Anlaufpunkt in Russland sein wird, von dem sie dann zum eigentlichen Spielort ihrer Mannschaft weiterreisen.

⚽  Wenn in Russland um den Pokal gespielt wird, machen das in den frühen Runden zunächst einmal die Teams der unteren Ligen untereinander aus. Im September steigen dann auch die Vereine der russischen Premjer Liga ein, und für eine ganze Reihe von ihnen ist die Sache nach nur einem Spiel auch schon wieder durch: Allein von den Top Vier der aktuellen Tabelle – Zenit St. Petersburg, Lokomotive Moskau, dem FK Krasnodar und ZSKA Moskau – hat es kein Verein in die nächste Pokalrunde geschafft, insgesamt flogen mehr Premjer-Liga-Klubs raus als weiterkamen.

Bemerkenswert ist, was Moskowski Komsomolez dazu schreibt. Offenbar hat der Pokal in Russland einen so niedrigen Stellenwert, dass viele Spitzenteams nicht allzu traurig sind, wenn sie früh wieder ausscheiden: „Von Jahr zu Jahr versuchen wir in dieser Turnierphase, die Vereine zu erwischen, die das Turnier sabotieren“, heißt es da. „Wir versuchen zu erkennen, wer gezielt nicht kämpft, nur mit einer Reservemannschaft aufläuft oder absichtlich den Sieg wegschenkt.“ Nach einer ausgiebigen Analyse kommt MK aber zum Ergebnis: Dieses Jahr haben die meisten Spitzenklubs tatsächlich aus Unvermögen verloren, nicht aus Absicht. Muss man vielleicht zweimal lesen, geht aber tatsächlich als gute Nachricht durch.

⚽  Die Kollegen von Championat.ru haben im Kalender geblättert und festgestellt, dass die aktuelle Liga-Saison zu genau einem Drittel vorbei ist. Darum haben sie eine kleine Rangliste der besten Spieler aufgestellt, sortiert nach Position. Gerankt werden allerdings nur diejenigen, die bei mindestens der Hälfte der bisherigen Begegnungen auch im Einsatz waren. Bei den Torhütern hat Alexander Dowbnja es auf Platz eins geschafft, nicht zuletzt wegen der Leistung im Spiel seines SKA-Energija Chabarowsk gegen Spartak vor ein paar Wochen:

⚽  Witali Mutko ist ein vielbeschäftigter Mann: Sein Amt als russischer Sportminister hat er im vergangenen Jahr zwar abgegeben, aber stellvertretender Ministerpräsident und Vorsitzender des russischen Fußballverbandes, das sind immer noch zwei Vollzeit-Jobs auf einmal. Immerhin, seit diesem Frühjahr ist es nur noch eine Doppel- statt einer Dreifachbelastung. Da hatte die FIFA nämlich entschieden, dass Mutko nicht mehr im FIFA-Rat sitzen darf, weil das dann doch eine zu große Verquickung seiner verschiedenen Jobs gewesen wäre. (Wir lernen: Wenn der Filz sich erkennbar in einer einzelnen Person manifestiert, wird es irgendwann selbst der FIFA zu viel.)

Seit der vergangenen Woche nun ist die von Mutko hinterlassene Lücke wieder gefüllt: Nach einigen Monaten ohne russischen Vertreter ist Alexej Sorokin in den FIFA-Rat nachgerückt. Wer nun glaubt, diesen Namen auch schon in Verbindung mit diversen Jobs gehört zu haben, liegt nicht ganz falsch: Modeschöpfer Alexej Sorokin und Admiral Alexej Sorokin sind allerdings dann doch andere Leute – dieser Alexej Sorokin, der nun am großen FIFA-Tisch sitzt, ist „nur“ der Leiter des Organisationskomitees für Russlands Fußball-WM im kommenden Jahr.

⚽ Wenn wir heute schon mit Kunst angefangen haben, dann hören wir jetzt auch mit Kunst auf: Das hier ist eines meiner Lieblingsbilder in der Neuen Tretjakowgalerie, wo in Moskau Gemälde aus der Epoche des Sozialistischen Realismus ausgestellt werden:

#goalkeeper #дейнека #russiaisreadyforworldsoccercup #germangoalkeeper

Ein Beitrag geteilt von Andrea Novelli (@andreanovellinsta) am

Alexander Deineka hat diesen Torwart in den Vierzigern gemalt, der Mann (also Deineka) war den Sowjetmächten genehm, lieferte brav Erbaulich-Patriotisches und wurde dafür oft ausgezeichnet. Sein Torhüter im Hechtsprung, der den Ball links aus dem Bild rausschiebt, ist auch der Ausgangspunkt für einen Artikel der Kulturjournalistin Milena Orlowa über Fußball in der russischen Kunst.

Veröffentlicht wurde der Überblick auf dem offiziellen WM-Portal, leider nur auf Russisch, aber keine Bange: Schon das Durchscrollen liefert einen guten Überblick, wie der Fußball russische Künstler beeinflusst hat. Zückerchen für Berliner: die Erinnerung an Johannes „Hanne“ Sobek auf dem Gemälde „Hertha greift an, Hanne am Ball“ von Nikolaus Sagrekow.

⚽⚽⚽

Das war’s dann auch schon mit dieser Russball-Folge. Es sei denn, es interessiert sich noch jemand für eine wahrhaft schwerwiegende Folge der Fußball-WM: Die Arbeitsgemeinschaft Durlacher Altstadtfest hat sich entschieden, ebendieses Durlacher Altstadtfest zu verschieben, damit es nicht mit der Weltmeisterschaft… das ist euch egal? Ihr wisst nicht mal, wo Durlach liegt? Banausen, allesamt. Bis nächste Woche!



 

Wedding Crashers in Machatschkala

Freitag Ausstellung, Samstag Theater, Sonntag Ballett. Das vergangene Wochenende war so bildungsbürgerlich, das glaubt einem wieder keiner. Eine empirische Anomalie, drei ganz unterschiedliche Abende. Beim Balet Moskva gab es „Equus“, ein Stück, das damit spielt, was eigentlich so einen geschundenen Tänzerkörper von dem eines Arbeitstieres wie dem Pferd unterscheidet. Die Grenzen zwischen Keuchen und Schnauben sind da ebenso fließend wie die zwischen Kostüm und orthopädischer Bandage. Und dazu auch noch Livemusik von drei Streichern und einem Pianisten – runde Sache.

Das Theater am Samstag war – mal wieder – eine Empfehlung der besten aller möglichen Russischlehrerinnen, genau genommen von ihr und ihrer Enkelin: Puschkins Erzählungen am Theater der Nationen, inszeniert von Robert Wilson, mit Musik von Cocorosie.

Prall, lebhaft, verspielt, mit viel musikalischem Schmackes und einem Schuss Pekingoper. Und obendrauf noch der Stolz, erstmals eine Theateraufführung komplett auf Russisch zu sehen, ohne Obertitel, ohne andere Hilfsmittel, und der ganzen Handlung folgen zu können. Jetzt verstehe ich, warum es so schwer ist, dafür Karten zu bekommen.

Eigentlich wollte ich aber – hallo, Überschrift – von der Ausstellung am Freitag erzählen. Die Surab-Zereteli-Galerie hier in Moskau steht und hängt voll mit Dingen, bei denen ich im Hinterkopf meinen Vater höre: „Kunst kommt von Können. Das hier ist Wunst.“ Überlebensgroße Ganzkörperporträts von Charlie Chaplin. Sich von der Wand runterbeulende Keramikblumensträuße. Entwürfe für Skulpturen wie das „Ist-es-nun-Peter-der-Große-oder-doch-Kolumbus“-Denkmal.

Gottseidank hat das Goetheinstitut hier zwei Säle leerräumen lassen und eine eigene Ausstellung veranstaltet, „Die Grenze“. Es geht grob darum, wo Europa endet und wo Asien beginnt, zu diesem Thema haben Künstler Videos, Installationen und Skulpturen beigetragen.

Taus Makhacheva hat von ihren Fotos gleich stapelweise Abzüge machen lassen, die Besucher dürfen sich bedienen. „19 a day“ heißt die Serie, denn im September 2014 hat Taus sich schick gemacht und den ganzen Tag damit verbracht, in der Stadt Machatschkala in Dagestan auf möglichst vielen Hochzeiten zu tanzen. Oder zu essen. Oder mit dem Brautpaar zu posieren. Oder einfach nett mit den anderen Gästen zu plaudern, auch wenn sie sie keinen von ihnen kannte – Taus war auf keiner der Hochzeiten eingeladen.

Dutzende prunkvolle Hochzeitssäle gibt es in Machatschkala; viel Gold, viel Glanz, und im September sind sie quasi durchgängig ausgebucht. Bräute mit Kopftuch, Bräute mit Krönchen, Bräute mit Schleier. Das mag sich nach Asien anfühlen oder nach Europa, der ungeladene Gast auf 19 Hochzeiten zu sein, spielt jedenfalls noch auf einer ganz anderen Ebene mit dem Thema Grenze und Grenzüberschreitung.

19 a Day

Allein schon dieses Motiv hier drüber: Die Brautleute, die wahrscheinlich gerade beide denken „Also von meiner Seite ist die nicht!“. Der Mann links, betont ernsthaft. Die Frau rechts, betont abgelenkt. Und über allem die Künstlerin, die in einer halben Stunde schon wieder mit einem anderen Paar posieren wird. Und keiner hat’s gemerkt.

Freitag Ausstellung, Samstag Theater, Sonntag Ballett. Ein abwechslunsgreiches, unterhaltsames Wochenende mit vielen Denkanstößen.

Nächsten Samstag gehen wir mal wieder zum Fußball.

Remote Moscow startet in die zweite Saison

Remote Moscow tour

Und plötzlich steht man auf einer Metro-Rolltreppe, eine Hand am Geländer, eine in der Luft. Man geht langsam auf die Zehenspitzen, und die Leute vor und hinter einem machen mit. Schließlich haben wir alle dieselben Stöpsel im Ohr. Wir sind unterwegs mit „Remote Moscow“.

Das Projekt kommt von Rimini Protokoll und Feodor Elutine, entwickelt haben sie es vergangenes Jahr zusammen mit dem Goetheinstitut: einen Stadtrundgang mit ferngesteuerten Teilnehmern, die per Funk Kommandos ins Ohr bekommen, Denkanstöße und manchmal auch kleine Manipulationsversuche in Sachen Gruppendynamik.

Sehenswürdigkeiten? Egal. Das hier ist Moskau auf der Metaebene. Und ohne groß zu spoilern kann man sagen: Dieser Rundgang macht was mit seinen Teilnehmern. Noch heute komme ich manchmal an Ecken vorbei und denke, ach, da sind wir doch so gerannt, weil… und da mussten wir durch diesen Innenhof, um…

Schon letztes Jahr war „Remote Moscow“ schnell so populär, dass man Tickets zügig buchen musste und immer wieder weitere Termine ergänzt wurden. Aktuell ist das Projekt im Bereich „Innovation“ für eine Goldene Maske nominiert, immerhin Russlands wichtigster Theaterpreis. Und gerade wurde bekannt, dass es eine zweite Saison „Remote Moscow“ geben wird. Am 14. Mai ist der erste Termin, auf Englisch gibt es die Tour erstmals wieder in der Woche darauf, am 21.

Eier, wir brauchen Eier

Im MAMM, dem Moskauer Multimedia Art Museum, stellen junge Fotografen der Rodtschenko-Schule gerade ihre Werke aus. Aufgefallen ist mir dort ein Video von Polina Kanis, es ist fast 20 Minuten lang.

Man muss dazu keinen Hintergrund wissen oder irgendeinen Subtext ausdeuten. Einfach angucken, und schon ist da – gerade im Herbst, gerade in Moskau – dieses Gefühl von Wiedererkennen: Ja, so einen Tag hatte ich auch schon mal.

Putin des Monats (II)

Gesehen: Beim Kölner Auktionshaus Breker, das sich auf Spielzeug und Musikautomaten spezialisiert hat. Hergestellt wurde die Figur vom Schweizer Christian Bailly, am 14. oder 15. November wird sie versteigert.

Begleitung: Als Begleitmusik hört man Spieluhr-Glöckchen und ein leichtes mechanisches Surren; unterlegt ist das Video außerdem mit Schostakowitschs Suite für Jazzorchester Nr. 2.

Text: Auf dem Schreibtisch der milde lächelnden Figur liegt das Dokument, mit dem die Krim zu einem Teil Russlands erklärt wurde. Datiert ist das Blatt auf März 2014.

Subtext: Kalt lächelnd Zeitgeschichte machen ist Musik in meinen Ohren.

Oben-Ohne-Punkte: 0/10, nackt sind allenfalls die Augenhöhlen.

Bei Flickr wird aus Einkaufszetteln Kleinstkunst

Moleskine_Grillabend_Einkaufszettel_IMG_8200

Nürnberger Bratwürstchen, dicke Rippe, Chicken Wings, Rumpsteak, Schweinesteak. Es war die Einkaufszettel gewordene Fleischeslust, die Kathrin Jebsen-Marwedel im Mai vor einem Supermarkt fand. Alles erledigt, brav durchgestrichen, wie auch Kräuterbaguette und Eisbergsalat. Allerdings: Komplett war die Liste dann doch nicht abgearbeitet: kein Strich durch „Deo, Holger“, keiner durch „Tzaziki“.

Was für viele Einkäufer lästiger Bodensatz im Einkaufswagen ist, hat für die Grafik-Designerin Potential. Zusammen mit Jan Uhing, einem befreundeten Illustrator, hat sie deshalb eine Flickr-Gruppe gegründet. Hier zeichnen Menschen mit Fantasie unter dem Motto „Who lost this shopping list?“ die Geschichten hinter den Zettelfunden.

Who Lost this Receipt or Shopping List -Group.

Geschichten wie die von Hannelore, die für ein Abendessen mit ihrem ersten Online-Date einkauft. Von Traudel und ihrem heimlich für die WM gekauften Fernseher. Von Jonna und ihrem Papa, die hinter dem Rücken der Veggie-Mama sonntags volle Kanone Gulasch futtern. Von Helga, Heinz und den Rosen zum Hochzeitstag. Und eben die von Holger, Gastgeber eines Grillabends, dessen Gäste sich überraschend flott wieder verdrückten, wegen Deo-losem Holgerschweißmief.

Ein Detail, eine ungewöhnliche Kombination – alles kann den Impuls für eine illustrierte Geschichte geben. „Ich habe auch schon Einkaufswagen umgeparkt, weil ich zehn Wagen weiter vorne in der Einkaufswagenstation einen Einkaufszettel entdeckt habe“, bekennt Kathrin Jebsen-Marwedel.

Dass die Auseinandersetzung mit Einkaufslisten nicht nur die Kreativität anregt, sondern auch das Vokabular beeinfluss, merkt man spätestens, wenn man sie nach Tricks fragt, um ergiebige Zettel zu finden: „Ich glaube“, sagt sie dann, „wir in der Gruppe haben einen Scannerblick für Einkaufszettel entwickelt“.

10 07 2014