Russball, Folge 52: Jetzt geht’s los, jetzt geht’s los

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„Wollen Sie jetzt mit Ihrem normalen Visum einreisen oder mit der Fan-ID“, fragt die Frau an der Passkontrolle. Zuvor hab ich schon zwei Volunteers, die garantiert ein Lächeltraining durchlaufen hatten, erklären müssen, dass ich mich in der Schlange für FIFA-akkreditierte Journalisten anstellen darf. Sehr lustig, weil natürlich mal wieder russische Anarchie herrscht und sich das Ömchen vor mir, deutlich im Rentenalter und erkennbar keine ausländische Journalistin, stillschweigend in genau diese Schlange gestellt hat und nun „ich geh hier nicht weg, da müsst ihr mich schon tragen“ ausstrahlt. Es ist also alles wie immer, nur halt anders.

In der Halle neben dem Gepäckband steht ein eigener WM-Desk mit, theoretisch, vier Schaltern. Keiner von ihnen ist besetzt, stattdessen können die neu Gelandeten einen wichtigen russischen Begriff lernen: „technitscheski pererif“, technische Pause. Klingt wichtig und deckt alle Gründe ab, warum da gerade niemand sitzt. An der Straße ins Zentrum sind großflächig Werbeflächen mit allerlei FIFA-Kram belegt, auf den Brücken im Zentrum wehen Fahnen und ja, im Supermarkt bei uns in der Nähe wurden auf der Zielgeraden noch ein paar Fan-Artikel ins Sortiment genommen.

Wer immer in diesen Tagen behauptet, hier in Moskau herrsche nun endlich „WM-Fieber“, der ist wahrscheinlich Hypochonder. Schön lakonisch haben das die Kollegen von der Moscow Times in einem Facebook-Post festgehalten. Immerhin: Die ausländischen Fans sorgen hier und da für Stimmung auf der Straße, gestern saß ich in einem Café und vor der Tür lieferten sich Anhänger von Peru und Kolumbien einen Sprechchor-Wettbewerb. Sehr schön, das darf gern so bleiben.

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⚽ Schon klar, ihr wollt hier jetzt alle was über die WM lesen. Und ja, da kommen wir auch gleich noch zu, keine Bange. Aber zum Hintergrund gehört ja auch die Frage, wie es dem Fußball in Russland geht. Die Antwort ist einfach, sie hat mal wieder mit Geldmangel zu tun, und Sports.ru bringt es mit größtmöglichem Sarkasmus auf den Punkt. „Der russische Fußballsommer in einem Bild“ heißt die Überschrift, darunter drei Vereinslogos:

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„Tosno – hat dicht gemacht. Kuban – wird dicht machen. Amkar – wird dicht machen.“ Drei russische Fußballvereine, die es in der nächsten Saison nicht mehr geben wird, und ehe einer fragt: Nein, das sind nicht irgendwelche Clubs. Tosno ist der diesjährige Pokalsieger, dürfte eigentlich demnächst international spielen, aber nein: Der Verein hat sich aufgelöst, weil das Geld fehlt. Bei Amkar Perm sieht es ähnlich düster aus, Kuban schließlich soll allen Berichten nach durch einen neuen Verein namens „Uroschai“ ersetzt werden, weil der alte Club keine Lizenz mehr bekommen hat. Und mit all dem Frust, den ein Fußballfan fühlt, wenn es seine Mannschaft plötzlich nicht mehr existiert, bildet die Redaktion dazu ein Feuerwerk über der Basiliuskathedrale ab und schreibt: „Am 14. Juni beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland.“

⚽ Gute Nachrichten für Dmitry Petelin: Der Student, der wie viele seiner Komilitonen gegen die Fan-Zone unmittelbar neben dem Universitätsgebäude in den Sperlingsbergen protestiert hat, muss kein Verfahren wegen Vandalismus mehr fürchten. Petelin soll auf eine Hinweistafel zur WM die Worte „Keine Fanzone“ gesprayt haben und war daraufhin festgenommen worden, ihm drohten 65.000 Rubel Geldstrafe oder gar Haft.

Nach einer Unterschriftenaktion und nachdem sich sowohl der Uni-Rektor als auch der Menschenrechtsrat der russischen Regierung für ihn eingesetzt hatten, wurde das Verfahren nun eingestellt. Dass eine Verurteilung wegen einer solchen Bagatelle kurz vor der WM denkbar schlechte PR gewesen wäre, hat sicher auch zu dieser Entscheidung beigetragen.

Klappt allerdings auch nicht immer: Selbst alleine ein Schild hochzuhalten ist nach russischem Recht eine unangemeldete Demonstration. Ein Mann, der das zur Unterstützung Petelins getan hat, muss dafür nun 20.000 Rubel Strafe zahlen, das sind rund 280 Euro – mit dem Verweis auf einen Erlass aus dem Jahr 2017, durch den die Versammlungsfreiheit während der WM noch weiter eingeschränkt wurde, als sie es hier ohnehin schon ist.

⚽  Was man nicht so alles lernt, wenn man Berichte ausländischer Medien liest. War mir zum Beispiel neu, dass Joachim Löw mal im Nebenjob Krawatten verkauft hat. Eines von vielen Details in einem Porträt des Trainers bei Wedomosti: dass er „Adrenalin im Blut liebt und deshalb den Kilimandscharo besteigt, Fallschirm springt oder ins Casino geht.“

Dass sein Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war und zurückkam mit der Überzeugung, Russen könnten alles schaffen, wegen ihrer großen Leidensfähigkeit. Und dann, natürlich, die Anekdote, dass Löw ja mal Trainer und somit Chef von Stanislaw Tschertschessow war, Russlands heutigem Nationaltrainer. Wie oft wir diese Tatsache bis Mitte Juli wohl noch erzählt bekommen?

⚽  Ach schön, Moskaus Bürgermeister meldet sich zu Wort, von dem hört man ja sonst total selten. Hüstel. Jedefalls wendet sich Sergej Sobjanin via VKontakte an die Moskauer, oder noch genauer: an die Chefs der Moskauer.

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Erst ein paar warme Worte über die Ehre, Gastgeber sein zu dürfen, dann der Hinweis auf die vielen Staatsoberhäupter, die zur Eröffnung kommen, und dass das natürlich Straßensperrungen bedeutet. (Wie gefühlt jede Woche hier in Moskau.) Dann die Pointe: „Deshalb bitte ich die Leiter von Unternehmen und Organisationen, in diesen Tagen ihre Mitarbeiter mit maximaler Großzügigkeit zu behandeln und ihnen, wenn möglich, einen freien Tag zu geben.“ Mit der Tatsache, dass der Mann nächstes Jahr wieder zur Wahl steht, hat das natürlich nichts zu tun.

⚽ Eh das Turnier auch nur begonnen hat, wird schon mal die Schuldfrage geklärt fürs mutmaßlich schlechte Abschneiden der russischen Nationalelf. „Die russische Mannschaft ist sehr schwach, wer ist schuld?“, fragt Sports.ru und bietetzur Auswahl die Spieler, den Trainer und die staatliche Führung an. Die meisten Leser entscheiden sich aber für Option vier, „alle zusammen“, was die Macher der Website sehr schlicht mit einer russischen Fahne illustrieren. Wenn Russland schlecht Fußball spielt, ist daran Russland schuld. Haben wir das auch geklärt.

⚽  Was ist das eigentlich zwischen Ronaldo und Messi? Eine Rivalität? Eine Freundschaft? Irgendwas dazwischen? Oder sind sie einander einfach herzlich egal? Man kann dazu ja allerlei lesen, Spekulationen oder auch mal einen Interviewfetzen. Aber nun hat eine russische Twitternutzerin die Frage beantwortet: Das zwischen Messi und Ronaldo (die Russen sagen Ronaldu) ist Freundschaft.

„Druschba“, Freundschaft, heißt nämlich der Ort, durch den man kommt, wenn man vom Trainingslager der Argentinier zu dem der Portugiesen fährt oder andersrum. Respekt, das muss einem erst mal auffallen! (Übrigens haben die Argentinier drei Tonnen Essen mitgebracht zur WM. Da kann Messi seinen Freund Ronaldo ja mal zum Steak einladen.)

⚽ Darüber hatte ich bisher noch gar nicht nachgedacht: Stimmt, alle Teams, die sich ihr Mannschaftsquartier rund um St. Petersburg gesucht haben, geraten da ja voll in die Weißen Nächte. Die Zeit im Sommer also, wenn es in Russlands „nördlicher Hauptstadt“ nachts nicht mehr dunkel wird. Den Effekt kenne ich hier aus Moskau, auch wenn wir im Hochsommer immerhin noch ein paar dunkle Stunden haben. Trotzdem sitzt du manchmal aufrecht im Bett, es ist taghell – Mist, verschlafen! Du stehtst auf, schlurfst ins Bad – und stellst dort auf der Uhr fest, dass es kurz vor 3 Uhr morgens ist.

Was macht das mit Hochleistungsfußballern, die fit und ausgeschlafen sein müssen für ihr nächstes Spiel? Tragen die jetzt alle Schlafmasken? Warum hab ich das noch nirgends gelesen, das bewegt doch die Welt! Ah, schau, eine Stellungnahme aus der kroatischen Mannschaft, die im Kurhotel „Waldrhapsodie“ untergebracht ist, eine halbe Stunde außerhalb von Petersburg: „Wir haben gute Vorhänge. Das wird kein Problem sein.“ Na gut – aber wenn ihr nun nicht Weltmeister werdet, liebe Kroaten, dann sagt nicht, euch habe keiner gewarnt.

⚽ Wo eine Großveranstaltung stattfindet, gibt es immer auch Abzocker. Bei Airbnb ist mir da neulich Nikolai aufgefallen, und ich muss schon sagen: Es gibt dreist, und es gibt Nikolai-dreist. Oder wollt ihr gerne mehr als 300 Euro pro Nacht ausgeben, um in einem zugemüllten Schuppen auf einem Garagendach zu wohnen? Nein? Seltsam.

⚽ Ach, schön, eine Runde Journalistenbashing. Artjom Dsjuba, russsischer Nationalspieler, hat sich bei den Journalisten von Gasjeta.ru beschwert, sie seien immer so kritisch, mal solle doch erst mal die Mannschaft ihr Turnier abschließen lassen, sie unterstützen und sich dann eine Meinung bilden. Eventuell hat der Mann kein allzu gutes Verständnis, wie das mit der Fußball-Berichterstattung bei großen Turnieren funktioniert, und dass die Hauptaufgabe von Journalisten nicht das Anfeuern ist. Andererseits, die russische Nationalmannschaft steht so tief im FIFA-Ranking wie noch nie, da kann man schon mal nervös werden.

⚽ Große Teile meines Montagabends habe ich auf einer Moskauer Polizeiwache verbracht, zusammen mit einem jungen Ägpter, der hier in Russland studiert. Es war einer der absurdesten Abende, die ich in Russland erlebt habe. Und wir haben so viel Smalltalk über Mo Salah gemacht, dass selbst mich jetzt Tweets wie dieser hier interessieren und ich nickend vor dem Rechner sitze:

Die Fotos von Salah mit Ramsan Kadyrow allerdings, dem tschetschenischen Machthaber, unter dem dort Schwule verfolgt und Menschenrechte komplett ignoriert werden – da kann ich nur den Kopf schütteln. Mehrfach.

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Was bleibt noch, eh sie beginnt, diese Weltmeisterschaft? Ein Dank an alle, die seit einem Jahr hier mitlesen über Russlands WM-Vorbereitungen und den Fußball hier im Lande. An die, die von Anfang an dabei sind und an die, die nach und nach dazugekommen sind. Und nein, das ist kein Abschied, natürlich gibt es auch während der WM jede Woche eine Russball-Folge. Aber eh es morgen trubelig wird, wollte ich halt einmal danke sagen. Ich hab mich in diesem Jahr über jeden Leser und jeden Kommentar gefreut.

Und jetzt wären wir dann soweit, wertes DFB-Team. Here’s looking at you. Kann losgehen!



 

Russball, Folge 51: Ein russischer Verein lockt Ronaldo

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Zum Start muss ich kurz etwas richtigstellen: In der letzten Russball-Folge sind mir bei einem verlinkten Text Spartak und ZSKA durcheinandergeraten – das kommt davon, wenn man parallel mit zu vielen offenen Tabs hantiert. Netterweise hat sich Witali Leonow, der den Artikel über ZSKA geschrieben hat, gemeldet und auf meinen Fehler hingewiesen. In der Blog-Version ist er bereits korrigiert, ich wollte aber heute auch noch alle Newsletter-Leser darauf hinweisen – sorry!

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⚽ Nun steht also auch der russische WM-Kader, weder Konstantin Rausch noch Roman Neustädter haben es reingeschafft. Die 23 Namen, die man bis zum Turnierbeginn kennen sollte, hier also im Überblick. Und nein, natürlich gibt es solch eine Entscheidung nicht ohne Kritik – die Mehrheit der Leser von Bombardir.ru zum Beispiel ist unzufrieden, wie die Umfrage unter diesem Artikel hier zeigt. Ähnlich klingen die Kommentare, die Championat.com gesammelt hat. Tenor: „Die Titanic ist auf Kurs.“

⚽ Wie teuer ist die russische Nationalmannschaft, und wieviel Geld bringt sie ein? Sport Express beantwortet diese Fragen in zwei separaten Artikeln und geht dort jeweils die großen Turniere der vergangenen Jahre durch. Aussagekräftiger wäre das ja, wenn man Ausgaben und Einnahmen pro Jahr jeweils auf einen Blick sähe, ohne von einem Text zum anderen springen zu müssen.

Darum hier zum Vergleich: Für die WM 2014 in Brasilien kommt Sport Express auf Kosten von rund 17 Millionen Euro, wovon das Gehalt von Trainer Fabio Capello allein 7 Millionen ausmachte. Eingenommen habe die Mannschaft im Gegenzug etwas über 8 Millionen Euro, der Artikel nennt die Zahlen in Dollar: 1,5 Millionen für die geschaffte WM-Quali, weitere 8 Millionen für die Teilnahme an der Gruppenphase. Wer sich noch weiter in das Thema reinlesen will: Hier gibt es die Ausgaben seit 2011, hier die Einnahmen ab 2002.

⚽ Christiano Ronaldo will ja wechseln, hört man, weg von Real Madrid. Der FK Jenissei Krasnojarsk ist jetzt kein russischer Spitzenclub im klassischen Sinne, hebt aber schon mal die Hand und macht mit einem Tweet auf sich aufmerksam, in dem er sich als Alternative zu Madrid und Manchester positioniert:

Die Botschaft der Bilder kann man vielleicht so zusammenfassen: Ja, okay, bei den Top-Vereinen gibt es große Stadien, du gewinnst Trophäen, kannst dir schicke Autos und ne Villa leisten. Bei uns fährt man Lada (man beachte das Nummernschild), wohnt in einfachen Häuschen – aber dafür zahlt du hier auch weniger Steuern! Tatsächlich liegt der Steuersatz in Russland bei gerade mal 13 Prozent, und wir wissen ja alle, wie wichtig das Thema für Christiano Ronaldo ist.

⚽ Langweilige Überblicke über die WM-Stadien haben wir inzwischen ja alle genug gesehen und gelesen. Bei diesem hier hat der Autor hingegen mal so richtig auf die Sahne gehauen. Schon der Einstiegssatz gibt die Richtung vor: „Es ist eine wenig bekannte Tatsache, dass Fußballfans zu den intelligentensten Menschen auf dem Planeten gehören.“

Im selben Stil dann auch die Einzelkritik, so blumig, dass man sie im englischen Original wiedergeben muss: „a bit of a stinker“ ist das Stadion in Jekaterinburg, „your classic Allianz Arena knock-off“ das in Saransk und die Arena in Rostow ganz einfach „booooooooring“. Okay, beim Fischt-Stadion liegt er mit seiner Einschätzung komplett falsch – das sage ich mal so als Fußballfan, also als einer der intelligentesten Menschen auf diesem Planeten.

⚽ Die Stuttgarter Kinderzeitung wollte ihren Lesern kurz vor der WM mal erzählen, wie ein Tag eines russischen Schülers aussieht. Also war ich an der Moskauer Schule Nummer 1955 und habe dort Dmitrij durch seinen Schultag begleitet. Er ist Spartak-Fan, lernt Deutsch, diskutiert gerne – wir mussten also nicht lange nach Gesprächsthemen suchen.

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Wenn es gut klappt, entstehen beim Schreiben für Kinder manchmal Texte, die klarer sind als die für Erwachsene. Ich bin bestimmt nicht die einzige, die schon mal in einer Redaktionskonferenz gesessen hat, wo vorgetragen wird, was welche Agentur zu einem Thema berichtet – und am Ende jemand sagt: „Also, die beste Meldung ist eigentlich die vom dpa-Kinderdienst.“) Wenn’s schief geht allerdings, dann sind Journalistentexte für Kinder albern, betulich, von oben herab und irgendwie dutzidutzidutzi.

Ich hab also an Patenkind 1 und 2 gedacht, was die wohl gerne lesen würden und auch gut selber lesen können. In kurzen Sätzen, anschaulich, das war der Anspruch. Ob’s geklappt hat, könnt ihr hier nachlesen. Ich freu mich über Feedback, von euch oder von euren Kindern.

⚽ Was man nicht unterschätzen darf, ist übrigens, wie sehr sich die Moskauer Metro in die WM-Vorbereitungen stürzt. Durchsagen, Schilder, Personal, alles wird da auf Englisch getrimmt, die Mitarbeiter sollen außerdem lernen, höflich zu sein und auch mal zu lächeln. Englisch, höflich, wer fällt einem dazu ein? Genau, Kanada. Journalisten von CBC waren es also, die sich mal genauer angesehen haben, wie dieses Training für Metromitarbeiter funktioniert.

Ergebnis: eine Reportage und ein Foto vom Lehrmaterial, zum Genießen. Denn da werden die englischen Floskeln kyrillisch verlautschriftlicht. (Danke an Pascal Dumont, dass ich das Bild hier verwenden darf.) Wenn euch in der Moskauer U-Bahn demnächst also jemand ein fröhliches „Ju a welkem“ entgegenschleudert, ein leises „Ekskju mi“ oder ein hellwaches „Gud moning“, wisst ihr, woher das kommt!

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⚽ Anderes Verkehrsmittel, gleicher Ansatz: Moskaus Taxifahrer werden auch geschult in Sachen Englisch. Jedenfalls diejenigen, die eine besondere Lizenz bekommen wollen, mit der sie nah ans Stadion heranfahren dürfen, um dort Passagiere abzusetzen oder aufzusammeln. Knapp 5000 Fahrer sollen sich darum beworben haben.

Hübsch in der Reportage aus diesem Kurs: Die These eines Fahrers, dass man eigentlich nur eine Floskel beherrschen müsse: „One thousand“, Rubel nämlich, das sind 14 Euro. Für Fahrten in der Innenstadt ein ziemlich hoch angesetzter Preis, die Reporterin fragt also nach, ob das keine Abzocke sei und somit schlecht für das Image der Stadt. Einer der Fahrer hält dagegen: „Wenn ein Mensch zur Arbeit geht, worum geht es ihm dann – um Moskaus Image oder ums Geldverdienen?“

⚽ Fragen, von denen ich auch nicht dachte, dass sie hier mal gestellt werden: Wie sieht eigentlich ein Fallrückzieher in der Schwerelosigkeit aus? Die Antwort kommt von der russischen Raumfahrtbehörde Roscosmos. Der Ball, mit dem in dem Video auf der ISS gespielt wird, ist inzwischen wieder auf der Erde, rechtzeitig zum WM-Beginn. Er soll nämlich beim Eröffnungsspiel zwischen Russland und Saudi-Arabien verwendet werden.

⚽ Panama ist dieses Jahr zum ersten Mal für die WM qualifiziert. Der Präsident hat daraufhin den Trainingsanzug der Nationalmannschaft angezogen und ein Gesetz unterschrieben, wobei dieses Ereignis ab sofort mit einem eigenen Feiertag gewürdigt wird. Ich stell mir das jetzt mal kurz mit Angela Merkel vor – die hätte in ihrer Amtszeit schon so einiges zu unterschreiben gehabt, und wir ein paar Feiertage mehr. Die Panama-Anekdote stammt aus einem Projekt von 120 Minuten, das zu jedem WM-Teilnehmerland eine Geschichte gesammelt hat.

Wie Schweizer Fußballer gegen Chiracs Atomtests protestiert haben, wie italienischstämmige Austalier zu ihrer Fußball-Nationalmannschaft stehen, dass der Iran seinen bisher einzigen Sieg bei einer WM ausgerechnet gegen die USA holte – hab ich alles vorher nicht gewusst und mir bei 120 Minuten mit viel Spaß erlesen. Egal, welches Team ihr bei der WM unterstützt – hier gibt es eine hintergründige Geschichte zu ihm.

⚽ Vom schwarzen Humor, mit dem russische Fußballfans ihrer Nationalmannschaft gegenüberstehen, war hier ja schon öfter die Rede, wir erinnern uns an die Sache mit dem Slogan für den Bus. Daraus kann man ableiten, dass es kein ganz einfacher Job ist, Social-Media-Mensch der Sbornaja zu sein. Ab und zu gelingt es einem vielleicht, zu vermeiden, dass man eine ungewollte Vorlage liefert. Aber dann gibt es halt doch immer wieder mal ein Bild, wo es unvermeidbar ist.

„Die Puppen spielen sicher auch nicht schlechter“ – „Gesprächspartner gefunden“ – „Was? Gegen die habt ihr auch verloren?“ – „Da ist die Verstärkung.“ Es war eine Vorlage, und die Fans haben sie verwandelt.

⚽ Thielko Grieß war für den Deutschlandfunk draußen in Watutinki, sich das WM-Quartier der deutschen Nationalmannschaft ansehen. Geht natürlich nicht, alles abgesperrt, oder Baustelle, oder abgesperrte Baustelle. Trotzdem ist es ein anschauliches Stimmungsbild geworden über Moskau, ganz kurz vor der WM: „Bauunternehmen verdienen viel an dieser WM. Und für viele andere ist Fußball nicht die größte Leidenschaft, aber wenn das Turnier schon mal im eigenen Land stattfindet, kann man es sich ja auch anschauen. Wer weiß, vielleicht wird es ja doch ganz interessant, diese Sache mit dem Ball und den Stadien und den Spielern und Fans von überall her.“

⚽ Ihr erinnert euch an die Studenten der Lomonossow-Universität, die gegen die Fanzone direkt vor ihrer Haustür protestieren? Sie haben Angst, vor vollgepinkelten Grünflächen, vor betrunkenen Fans, vor allem aber vor dem Lärm an allen Spieltagen, mitten in der Prüfungsphase. Wie nah an der Uni das Party-Areal hochgezogen wird, zeigt diese Fotostrecke hier ganz gut.

Drei Studierenden droht nun ein Prozess. Sie sollen auf eine Litfaßsäule nahe der Uni den Slogan „Keine Fanzone!“ geschrieben haben. Das fällt unter Vandalismus, das Strafmaß reicht laut Vedomosti von einer Geldstrafe bis hin zu drei Jahren Haft. Aktuell sind die drei nach ihrer Festnahme vorläufig wieder auf freiem Fuß.

⚽ Das hier hat die eine oder der andere von euch vielleicht schon gesehen, ein paar deutsche Websites hatten das Video ja auch. Aber es ist so cool und mit seinen simplen physikalischen Gesetzen so Sendung-mit-der-Maus-würdig, dass es auch hier noch mal mit rein darf. Frage: Was passiert, wenn man einen fußballrunden Wasserkanister entwirft? Antwort: das hier.

Wasser, das ein Feuer entfacht. Vielleicht sollten wir uns bei WM-Gimmicks doch auf die fußballrunde Fleischwurst beschränken.

⚽ Wer die Fußball-WM im Fernsehen verfolgen will, kann sich schon mal auf ziemlich viel Bandenwerbung chinesischer Sponsoren einstellen. Klingt jetzt erst mal unspektakulär, wenn da plötzlich „Wanda“, „Mengniu“ oder „Yadea“ steht, aber dahinter steckt eine spannende Geschichte. Über einen Weltfußballverband, der so korrupt ist, dass viele westliche Marken nicht mehr mit ihm in Verbindung gebracht werden wollen. Über Chinas Hoffnung, eine Fußball-Supermacht zu werden und dann bitte auch gerne direkt Weltmeister. Und über die Kalkulation chinesischer Firmen, sich auf dem Weltmarkt zu etablieren: China Won’t Play in This World Cup. It Still Hopes to Profit.

⚽ Steve Rosenberg ist BBC-Korrespondent in Moskau, der ein oder andere kennt ihn vielleicht, weil er rund um den Eurovision Song Contest bei Social Media immer ziemlich aufdreht. 2016 hat er mal ganz groß aufgedreht und bei einem Facebook-Live auf Zuruf alle Eurovision-Titel am Klavier gespielt, die die Zuschauer sich gewünscht haben. „Peter wünscht sich den Siegertitel von Dänemark aus dem Jahr 1964. Peter, du meinst sicherlich 1963.“ Sprachs und spielt los. Ganz großes Tennis.

Zur WM hat Rosenberg nun einen kleinen Clip bei Twitter veröffentlicht, in dem er typisch russisches Essen empfiehlt. Das ist nicht nur super, weil er die langweiligen Klassiker von Borscht bis Kaviar ignoriert, sondern weil wir offenbar beide große Fans von Syrok sind, einem zuckersüßen Quarkriegel. Die Liebe zu Buchweizen hingegen – Steve, Steve, Steve. Ich weiß ja nicht.

⚽ Seit Wochen warte ich darauf, dass das Calvert Journal endlich mal mit seinem WM-Guide in die Pötte kommt. Weil das eben eine Redaktion ist, die anders auf Russland und die Region blickt: Mit einem speziellen Fokus auf Kultur, Architektur, Zeitgeschichte und Alternatives. Nun ist das Ding online, am besten stöbert ihr mal selbst darin rum.

Was mir beim ersten Durchgucken aufgefallen ist: Ein Stadtrundgang durch die Moskauer Fußballgeschichte (der allerdings deutlich leichter zu lesen wäre, wenn man anstelle der ganzen ausformulierten Wegbeschreibungen einfach eine Karte integriert hätte), und ein Rückblick in die Geschichte des Stadions von Jekaterinburg, einschließlich Baueinsätzen deutscher Zwangsarbeiter. Für einige WM-Städte sind die Texte schon online, die restlichen folgen im Laufe der Woche nach und nach.

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Zum Schluss noch was in eigener Sache: Im März habe ich angefangen, für n-tv.de einen täglichen WM-Countdown zu bloggen. Nun sind nur noch wenige Tage über, aber es gibt immer noch viele Fragen rund um den Alltag hier in Russland und die WM. Wenn ihr also Lust habt: Morgen, am Donnerstag, übernehme ich ab 15 Uhr den Twitter-Account der Sportredaktion.

Wenn ihr wissen wollt, ob man für Russland einen Adapter braucht, warum in der Bahn Aufkleber mit Hasen an der Wand kleben oder ob ihr es riskieren könnt, für russische Freunde trotz Sanktionen ein bisschen Parmesan ins Land zu bringen – dann twittert das doch. Der Hashtag heißt #WMFragen und ich werde morgen versuchen, so viele wie möglich davon zu beantworten. Bis dann!



 

Russball, Folge 46: Dieser Bär steht jetzt für den russischen Fußball

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Fasst man’s denn? Das WM-Stadion in Samara ist nach unendlich vielen Verzögerungen eröffnet worden, nur sechs Wochen vor Turnierbeginn. Ab sofort rechne ich also täglich mit der Fertigstellung des Flughafens in Berlin! Ansonsten habe ich neulich den möglicherweise absurdesten Text meiner jüngeren journalistischen Karriere verfasst, über ein Festival, das hier in Russland parallel zur Weltmeisterschaft stattfindet und bei dem der gemeinen Gurke in all ihren Inkarnationen gehuldigt wird. Was sonst noch los war:

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⚽ Zeit, mit der Hand durch die Sofaritze zu fahren und zu gucken, ob man noch ein bisschen Kleingeld findet. Mal zählen…ach guck, das sind ja genau 1656 Euro und 6 Cent. Wie praktisch, denn dafür kann man rund um die Spielübertragungen der Fußball-Weltmeisterschaft eine Werbesekunde im russischen Fernsehen kaufen. Gemeint sind damit natürlich nur Werbeplätze bei den Sendern Perwy Kanal, Rossija 1 und Match, die die Spiele übertragen. Die Sekunde für rund 1700 Euro, das entspricht einem Minutenpreis von 7,5 Millionen Rubel.

Ist das nun viel oder wenig? Die Redaktion von RBK zählt auf: Im Vergleich zur WM vor vier Jahren in Brasilien ist der Werbepreis konstant, damals verlangten die russischen Sender mit den Übertragungsrechten 7,538 Millionen pro Minute. Womit ich nicht gerechnet hätte, ist, dass dagegen bei der Europameisterschaft 2012 die Werbepreise der russischen Sender deutlich höher lagen. Warum, erklärt ebenfalls RBK: Damals „galt Russland als der Favorit in seiner Gruppe, die Zuschauer (…) erwarteten mindestens ein Überstehen der Gruppenphase, doch dazu kam es nicht.“

⚽ Wie sagte der zehnjährige Besuch aus dem Rheinland diese Woche: „Ihr habt hier echt überall Springbrunnen!“ Und ja, der Anlass war einer mitten im Einkaufszentrum, direkt neben dem Starbucks, aber die Beobachtung stimmt auch für Freiluftmoskau. Sachen abends schön beleuchten und im Sommer Springbrunnen sprudeln lassen, das sind zwei große Stärken der Stadtplaner hier.

Im vergangenen Sommer waren es 594 Brunnen in Moskau, diesmal kommt mindestens noch einer hinzu: Auf dem Gelände rund ums Luschniki-Stadion soll ein sogenannter „trockener Brunnen“ entstehen, also einer, zu dem kein mit Wasser gefülltes Becken gehört. Nur Wasser, das aus dem Boden schießt, in vielen kleinen Strahlen. Hinter der neuen Tretjakowgalerie gibt es sowas hier schon, und wenn im Sommer 30 Grad und mehr sind, ist das einer der kühlsten, angenehmsten Plätze in der Stadt: Einfach ein paar Schritte durch den Brunnen gehen, von den Fontänen links und rechts nassgemacht werden und sich dann zum Trocknen schön in die Sonne setzen. Das können Fußballfans demnächst also auch tun, wenn sie sich vor dem Stadionbesuch ein wenig abkühlen wollen – oder danach ihre Tränen verbergen. Was, ich, am heulen? Alter, das ist bloß Springbrunnenwasser!

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⚽ Interessante Reihe, da bei Sports.ru: Im Blog „Futbol auf Deutsch“ porträtiert Konstantin Andrejew seit einem guten Jahr Nachwuchsfußballer, die außerhalb Russlands leben, aber russischer Abstammung sind und somit möglicherweise mal für die russische Nationalmannschaft spielen könnten. (Der Subtext wird ironisch angedeutet: Wir sind doch hier so großzügig mit russischen Pässen, wenn wir einen ausländischen Spieler sehen, der den Fußball bei uns im Land voranbringen könnte. Und jetzt schaut mal, bei dem Jung hier wäre es so einfach!)

Das sind keine Namen, die ich jemals zuvor gehört hatte, aber die Porträts lesen sich interessant. Maximilan Lebedev zum Beispiel aus dem U17-Kader von Bayern München. Die Brüder Konstantin und Andreas Schiler, die aktuell für den SV Sandhausen in der U19 spielen. Und ganz abgesehen davon, ob es nun für eine Profikarriere reicht, ob die bis zur Nationalelf führt und welche Nationalelf es dann ist – interessant sind auch die Fragen zum Alltag der jungen Männer, von Russisch-Sprachkenntnissen über Familie bis hin zum Lieblingsessen. Lesen lohnt sich!

⚽ Das ist mir letzte Woche komplett durchgegangen: Russlands Premjer-Liga hat ein neues Logo – ein Bärenkopf in den Russlandfarben, mit Augen, die entfernt an den Terminator erinnern. Entworfen vom Studio Art.Lebedev, das hier in Russland schon so einige Großaufträge wegdesignt hat: Der aktuelle Metroplan ist dort entstanden, die Sitzpolster im Bus, selbst Moskaus Gullydeckel. Wer bei der Fußball-WM im Sommer auf dem alten Moskauer Olympiagelände unterwegs ist, orientiert sich an Schildern von Art.Lebedev. Und nun also dieses Logo.

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Wie kommt es an? So mittel. Natürlich kursieren allerlei Photoshop-Witzchen – mit der russischen Version von „Pu der Bär“, mit Elch, mit Mutko. Manchen Leuten ist der Bär zu nah am Russlandklischee, sie frotzeln, da fehlten doch noch Balalaika und Wodkaflasche. Nationalspieler Denis Gluschakow wurde nach seiner Meinung gefragt und rettete sich in ein höfliches „interessant“. Und dann war da noch ein Hinweis auf einen hippen Barbershop in Moskau, und ja: Dessen Logo sieht tatsächlich aus, als könnte es das Vorbild fürs Ligalogo gewesen sein. Trotzdem verstehe ich den Backlash nicht so richtig. Im Vergleich zu dem kleinteiligen, unaufgeräumten bisherigen Logo ist der Bär mit den roten Laseraugen ein echter Fortschritt:

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⚽  „Westi“, die Nachrichtensendung des russischen Staatssenders „Rossija 1“, hat durchgerechnet, was russische Fußballfans so investieren müssen, wenn sie alle drei Vorrundenspiele ihrer Mannschaft sehen wollen, also in Moskau, St. Petersburg und Samara. Das Ganze ist nicht immer akkurat gerechnet und ein wenig schief konzipiert (einerseits fehlen die Kosten für die Anreise nach Moskau, als lebe der typische Fan dort, andererseits werden aber auch in Moskau Hotelkosten mit eingepreist), dennoch ist die Liste im Kern ganz anschaulich: Wenn man davon ausgeht, dass Iwan Musterfan jeweils die billigste Ticketkategorie nimmt, dann kommt er für einen WM-Aufenthalt in Moskau auf 29.000 Rubel, in Petersburg auf auf 19.000 und in Samara auf 17.000 Rubel, dazu kommen noch Fahrtkosten.

Zusammen sind das mehr als zwei Durchschnittsgehälter, und man könnte an dieser Stelle des Berichts einen Schlussstrich ziehen. Aber als Staatsmedium ist man nun mal in der Pflicht, man hat für WM-Begeisterung und Hurrapatriotismus zu sorgen. Weshalb der Bericht von „Westi“ nicht mit dem Fazit endet, das sei ja nun recht viel Geld, selbst wenn man sparsam lebe. Nein, hinten wurden schön noch zwei Sätze drangedengelt: „Aber wenn unsere Mannschaft sich gegen alle Gegener gut schlägt und es über die Gruppenphase hinaus schafft, werden unsere positiven Emotionen diese Kosten ganz klar ausgleichen. Wir sind für unser Team!“

⚽  Über den Jahreswechsel 2017/2018 waren wir oben in Murmansk, es war knackig kalt und eine ganz großartige Reise. Nordlicht gesehen, den Eisbrecher Lenin besichtig, Markus hat für den Weltspiegel einen kleinen Film drüber gemacht. Daran musste ich diese Woche wieder denken, als Zenit St. Petersburg diese Bilder twitterte: Die Arbeiter, die gerade an einem neuen Eisbrecher für die russische Flotte bauen, scheinen allesamt Zenit-Fans zu sein:

⚽  Angeklickt und erst mal enttäuscht gewesen: „Das Tschertschessow-Kreuzworträtsel“ hieß es in der Überschrift und ich freute mich schon, allerlei Fragen zu Russlands Nationaltrainer zu beantworten: „Sieben Buchstaben, beginnt mit D: deutsche Stadt, in der Tschertschessow von 1993 bis 1995 als Spieler aktiv war.“ Aber nein, leider kein Rätsel, aber doch ein langes, tiefgehendes Porträt des Glatzenmanns, der die Russen so aufstellen soll, dass sie es vor heimischem Publikum über die Gruppenphase hinaus schaffen.

Ein bisschen sehr chronologisch ist der Artikel, das bremst ihn manchmal. Aber sonst liest er sich gut und anekdotenreich – einschließlich der Begebenheit, wie Tschertschessow 2001 Torwart beim FC Tirol Insbruck war und der Verein einen neuen Trainer bekam, der den gesundheitlich angeschlagenen Tschertschessow erst mal für ein paar Spiele auf die Bank setzte, bis er auskuriert war und sich vor dem Neuen beweisen konnte. Der hieß übrigens Joachim Löw.

⚽ Kennt ihr eigentlich den „Soviet Art Bot“ bei Twitter? Nein? Solltet ihr aber – nicht nur für Fußballbilder wie dieses hier:

⚽ Das ist mal ne Ansage: „Ohne die Fußball-Weltmeisterschaft gäbe es in Russland derzeit kein Wirtschaftswachstum.“ Gesagt hat das Arkadi Dworkowitsch, und der muss es wissen: Dworkowitsch ist Wirtschaftswissenschaftler und seit 2012 einer von Russlands stellvertretenden Premierministern. Mehr zu seiner außergewöhnlichen Rechnung hier.

⚽ Ein paar Woche ist es her, dass ich mich mit Mascha getroffen habe. Sie schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit, liebt das Rumstöbern in Archiven und kann sich für alte Dokumente begeistern. Wir sind rund um die Lomonossow-Universität spazierengegangen und sie hat mir gezeigt: Hier in dem Turm ist mein Wohnheimzimmer, da vorne ist der Haupteingang zum Unigebäude – und da, nicht weit weg, soll die Fanzone gebaut werden. Der zentrale Ort, wo in Moskau all die Fußballfans zusammen feiern können, die keine Karten fürs Stadion bekommen haben.

Mascha und ihre Kommilitonen haben Angst, nicht vor den Fans, sondern vor dem Krach bis spät in die Nacht, mitten in der Prüfungszeit. Wie sie ihren Protest dagegen sichtbar machen, und wie die FIFA, der Uni-Rektor und die Stadt Moskau mit diesem Protest umgehen, habe ich für die Berliner Zeitung aufgeschrieben. Am Tag, nachdem der Artikel im Blatt war, war ich abends mit dem Moskau-Besuch noch mal oben in den Sperlingsbergen, und siehe da: Baustellenlärm, Kipplaster, Bagger, Staubschwaden wehen hoch und verschleiern den Blick aufs Unigebäude. Es sieht nicht gut aus mit den Erfolgschancen für den Studentenprotest.

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⚽ Dass Niko Kovac neuer Bayern-Trainer wird, inspiriert nicht nur deutsche Dichter, es beschäftigt auch die russische Fachpresse. Sowetski Sport kritisiert zum Beispiel, Kovac habe keine Champions-League-Erfahrungen und als Trainer noch keinen einzigen Titel geholt, was er wohl auch im DFB-Pokalfinale am 19. Mai nicht schaffen werde.

Bei Sports.ru gbt es sogar eine umfangreiche Analyse all der Gründe, warum der neue Trainer scheitern muss, unter der Überschrift: „Niko Kovac wird neuer Bayern-Trainer – es scheint, als ob das nicht die beste Idee ist.“ Begründung hier: Kovac sei es gewohnt, seinen Kopf duchsetzen zu können – das werde ihm bei Hoeneß und Rumenigge nicht gelingen. Seine Lieblingsaufstellung bei der Eintracht lasse sich nicht auf die Bayern übertragen, und überhaupt habe Kovac den Job ja nur bekommen, weil Tuchel ihn nicht wollte.

⚽ Die tunesische Nationalmannschaft wird während der WM im Moskauer Vorort Seljatino untergebracht, gerade war der Moskauer Sportminister auf Inspektionstour dort. Ein Reporter von Championat.com ist mitgelaufen und berichtet: ein paar schiefe Kacheln und seltsam verlegte Rohre, Rasen im schlechten Zustand, an der Hotelrezeption gibt’s noch keine tunesische Fahne. Alles Sachen, die sich bis Turnierbeginn noch regeln lassen. Besonders hübsch fand ich die Bemerkung des Reporters, eine „Motivation nach deutscher Art“ sei für die Tunesier leider nicht möglich: Die örtliche Bierbar ist derzeit leider geschlossen.

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Zum Abschluss noch ein Text, der nichts mit Russland zu tun hat, dafür aber mit Fußball, mit Familie, mit einem Fan – und einem der noch sucht, ob es eine Mannschaft gibt, deren Fan er sein möchte. Auf die Gefahr hin, dass euch in den letzten Tagen auch andere Leute diesen Text nahegelegt haben – er verdient es auch, mehrfach empfohlen zu werden: „Papsi, ich bin doch gar kein Fan“. Bis nächste Woche!



 

Russball, Folge 30: WM-Flugtickets für 5 Rubel (aber nicht für euch)

Russball kscheib Suus Agnes 2 signedFaule Journalisten fangen ihre Reportagen ja gerne damit an, dass sie an irgendeinem Ort ankommen und dann erst mal ausgiebig ihren Taxifahrer zitieren. Der erste Russe, mit dem ich mich 2018 unterhalten habe, war ebenfalls ein Taxifahrer – er hat uns auf einen Hügel am Rand von Murmansk gefahren, von wo aus man das Nordlicht sehen konnte. Viel Warten, viel Hochgucken, und dann plötzlich: ein grünes Leuchten am Himmel, das langsam intensiver wird. Einatmen. Ausatmen. Staunen.

Als wir genug nach oben geguckt hatten, gönnte uns der Taxifahrer auf dem Heimweg noch einen Blick in die Zukunft: „Natürlich bin ich mir nicht komplett sicher – aber zu 99,9 Prozent werdet ihr dieses Jahr wieder Weltmeister.“ Für so einen schmeichelhaften WM-Orakelspruch ist hoffentlich auch der „Journalist zitiert Taxifahrer“-Einstieg ausnahmsweise okay.

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⚽  So kann’s gehen: Letzten Mittwoch die neue Russball-Folge veröffentlicht, in der Witali Mutko ankündigt, sein Amt als Chef des russischen Fußballverbandes ruhen zu lassen. Und dann kommt ein paar Stunden später die Meldung, dass Mutko auch als Leiter des WM-Organisationskomitees abtritt. Habt ihr sicherlich alle mitbekommen, darum eher der Vollständigkeit halber hier noch ein Link mit den Details.

⚽ Russischer Fußballfan müsste man sein, dann könnte man zu den WM-Spielen der eigenen Mannschaft für nur 5 Rubel – also 7 Cent – anreisen. Mit dem Flugzeug, wohlgemerkt, und auch nicht mit irgendeinem dubiosen Billigflieger, sondern mit Aeroflot. 70.000 solcher Tickets will der Staatskonzern zur Verfügung stellen – oder auch mehr, je nachdem, wie weit Russland im Turnier kommt. Eh einer fragt: Nein, das ist keines dieser Angebote nach dem Ryanair-Prinzip, wo zum Ticketpreis dann noch Gebühren für Gepäck, Kreditkartennutzung, Sitzplatzwahl und Essen an Bord anfallen. In den 5 Rubeln sind bereits alle Gebühren drin, verspricht Aeroflot. Wie das neue Angebot publik gemacht wurde? Bei einem öffentlichkeitswirksamen Gespräch zwischen Vorstandschef Witali Saweljew und Russlands Präsident Wladimir Putin. Der möchte schließlich im März wiedergewählt werden – da gibt es vorher Geschenke an die Wähler, bis hin zu Ticket-Schnäppchen. Den ganzen Wortlaut des Gesprächs („Können die Fans nicht einfach umsonst fliegen?“ – „Nein, aber…“ – „Ich weiß! Für einen Rubel“ – „Nein, aber…“) kann man hier nachlesen.

Aeroflot-Chef Saweljew im Gespräch mit Wladimir Putin (Foto: Kremlin.ru)
Aeroflot-Chef Saweljew im Gespräch mit Wladimir Putin (Foto: Kremlin.ru)

⚽ Preisfrage: Welche Heimatstadt eines deutschen Bundesligisten wird hier beschrieben? „In XY leben mehr als 500.000 Menschen. Für junge Leute gibt es hier nichts zu tun, also ziehen sie zum Studieren und Arbeiten in respektablere, lebendigere Städte wie Düsseldorf, Berlin oder Frankfurt.“ Liebe Dortmunder, ihr seid gemeint! So stuft euch jedenfalls Witali Subzow ein, der für Sports.ru recherchiert hat, wie man auch bei fast ausverkauftem Stadion noch an Karten für ein BVB-Spiel kommt.

Das Touristen-Paket – mit Ticket, Unterkunft, Begrüßungsmappe, Eintritt ins BVB-Museum und weiterer Bespaßung – scheint Subzow sehr beeindruckt zu haben. Selbst die Stadionwurst („exzellente Qualität“) wird lobend erwähnt. Alles in allem liegt ein Hauch des Staunens über Subzows Erlebnisbericht. Selbst Russlands Top-Mannschaften spielen nur selten vor ausverkauften Stadien. Und hier, in dieser wenig respektablen, wenig lebendigen Stadt, gehen die Eintrittskarten „schneller weg als das neue iPhone oder Turnschuhe von Kanye West.“ Entsprechend bringt der Autor seinen Lesern dann auch noch ein deutsches Wort bei: „ausverkauft“.

⚽ In Russland ist ja nicht Weihnachten, sondern Neujahr das Fest, wo man mit der Familie um einen festlich geschmückten Baum sitzt und Geschenke auspackt. Das nur für den Hinterkopf, damit klar ist, warum diese Neujahrs-Videos von ZSKA Moskau für unseren Geschmack so weihnachtlich aussehen. Inhaltlich sind sie jedenfalls eine Übung in Selbstironie. An einer Pinnwand sollen die Spieler Zettel mit ihren Plänen und guten Vorsätzen für 2018 anbringen. Pontus Wernbloom, bekannt für sein Temperament, will seine Selbstbeherrschung verbessern – hat ja auch direkt super geklappt:

Der Brasilianer Vitinho möchte gerne für die Nationalmannschaft spielen – schon erscheint ein Mitspieler und winkt mit einem russischen Pass. Auf dem Zettel von Trainer Wiktar Hantscharenka steht „Stürmer kaufen“ – ZSKA-Präsident Jewgeni Giner nimmt den Zettel grinsend wieder ab. Und was passiert, wenn dein Plan fürs neue Jahr „Kapitän werden“ heißt – und dann kommt der aktuelle Kapitän vorbei, während du gerade den Zettel an die Wand pinnst? Auftritt Alexander Golowin und Igor Akinfejew:

⚽ Auch Jewgeni Sirjankin, Fußballexperte von Sport Express, hat seine Neujahrswünsche aufgeschrieben. Ganz oben auf der Liste steht selbstverständlich das Thema Fußball-WM. Der Wunsch, der sich da in Großbuchstaben manifestiert, ist so realistisch, dass es schon fast Satire ist: „RUSSLANDS NATIONALMANNSCHAFT ERREICHT DAS VIERTELFINALE DER WELTMEISTERSCHAFT“ – “!!!111!!!!einself!!”, möchte man hinzufügen.

„Wenn dieses Wunder geschieht“, schreibt Sirjankin weiter, „kann sich die Nationalmannschaft schon zu den Siegern des Turniers zählen. Denn darüber hinaus gibt es nur noch die unerreichbaren Sterne.“ Glücklich der Fan, der seine Wünsche so auswählt, dass sein Team sie auch erreichen kann.

⚽  Wer Moskau von seiner besten Seite sehen will, muss rauf auf die Sperlingsberge. Zur einen Seite die Moskauer Lomonossow-Universität (MGU), ein Prunk- und Prachtstück im stalinistischen Zuckerbäckerstil. Zur anderen Seite die Aussicht runter auf die Stadt, mit so gut wie allen Sehenswürdigkeiten auf einen Blick. Wenn wir Besuch in Moskau haben, fahren wir oft abends dort hoch, weil das Panorama im Dunkeln besonders schön ist.

Der perfekte Ort also, um dort während der WM eine Fan-Zone einzurichten, oder? Kommt drauf an, wen man fragt. Viele Studierende der MGU sind alles andere als begeistert von der Idee, einen Monat lang jeden Tag Remmidemmi direkt vor der Haustür zu haben – zumal das Unigebäude nicht nur aus Hörsälen, Seminarräumen und Büros besteht, sondern zu einem großen Teil auch Studentenwohnheim ist. Krach, Verkehrskollaps, Störungen beim Vorlesungsbetrieb, betrunkene Fans – auf einem Flyer haben die Gegner der Fan-Zone ihre Sorgen aufgelistet.

kscheib russball studenten protest MGU fanzoneMehr als 10.000 Nutzer informieren sich bei VKontakte über den Protest. „Ich weiß gar nicht, was mich mehr nervt – die eigentlichen Beeinträchtigungen selbst, oder die Achtlosigkeit und der Mangel an Dialog. Wahrscheinlich eher letzteres,“ sagt Michail Schirjajew, der Fußballfan ist, an der MGU Materialwissenschaften studiert und den Protest mit organisiert. Nur die Universitätsleitung sei in die Pläne von WM-Organisatoren, Stadt und FIFA eingebunden gewesen. Wie andere Studierende zu der Fan-Zone vor ihrer Haustür stehen, und wie die Planer ihr Projekt verteidigen, hat Sports.ru gegenübergestellt.

⚽ Endlich steht fest, welche russischen Fernsehsender die WM übertragen werden: Das Konsortium „2 Sport 2“ hat die Rechte gekauft, es vertritt drei Sender, darunter den erst vor ein paar Jahren gegründeten Sport-Kanal „Match TV“. 32 Millionen Dollar sollen die Rechte gekostet haben – ziemlich wenig, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die FIFA dafür ursprünglich 120 Millionen haben wollte. Der Hollywood Reporter verspricht eine Erklärung unter der Überschrift: „Why Russian Networks Got Soccer World Cup Rights for a Fraction of the Asking Price“. Im Text dann: keine Erklärung, nur der Hinweis, dass die russischen Geschäftspartner nun mal nicht mehr bezahlen wollten. Soso. Aha.

⚽ Amkar Perm kämpft ums Überleben. Dem Erstliga-Club fehlt das Geld, so einfach ist es, aber dann auch wieder nicht. Denn hinter den Sorgen des Vereins steckt auch ein strukturelles Problem im russischen Vereinsfußball: Viele Mannschaften gehören bis heute dem Staat – sei es direkt, oder durch einen Staatskonzern. In Perm ist es die Regionalregierung, die wiederum hat seit Jahresbeginn einen neuen Sportminister, und der will lieber in den Breitensport investieren als in einen Verein, der irgendwo unten in der Erstligatabelle rumdümpelt.

Bricht einem Verein, der in Privatbesitz ist, ein Investor weg, dann macht er sich auf die Suche nach einem neuen. Amkar Perm hat diese Option nicht, es gibt schließlich keine zweite Regionalregierung mit zweitem Haushalt und zweitem Sportminister. Bis zum 11. Januar, so die Vereinsführung, müsse die Finanzierung für die Rückrunde stehen. Sonst werde der für den Tag geplante Abflug des Teams ins Trainingslager abgesagt. Stand Ende Dezember gab es immerhin noch Verhandlungen zwischen Verein und Regierung.⚽ Zum Schluss noch was Historisches. Es geht um einen Putschversuch, nicht allzu lange nach dem Ende der Sowjetunion. Ein sportpolitischer Staatsstreich, quasi: Kurz vor der Weltmeisterschaft in den USA forderten 14 Spieler der russischen Nationalmannschaft einen neuen Trainer – auf ganz großer Bühne, per offenem Brief an Boris Jelzin.

Die Geschichte war mir komplett neu, und sie ist so interessant, dass man sogar den ziemlich krautigen Stil verzeihen kann, in der Russian Football News sie erzählt. Einfach beim dritten Absatz einsteigen, wo es um den Begriff „Refusenik“ geht, und ein Stück postsowjetischer Sportgeschichte nacherleben.

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Ach so, mein Neujahrswunsch ist übrigens: Falls ihr dass Gefühl habt, das Russball euch gut informiert, unterhält oder gar beides, dann sagt das doch gerne weiter – dem Kollegen am Nebentisch, der Freundin auf dem Bolzplatz oder einfach den Followern bei Twitter. Ich mach das hier gerne und freue mich über jeden, der mitliest. Bis dann!



Russball, Folge 7: Warum liegt hier überhaupt Stroh?

Russball kscheib Suus Agnes 2 signed

Diese Folge Russball entsteht, während die Frauenfußballteams von Russland und Deutschland bei der Europameisterschaft gegeneinander spielen. Kurz vor der Halbzeit, Deutschland führt 1:0, da kann man gut nebenher ein bisschen bloggen. Zum Beispiel diese Übersicht von Sky Sport zum Thema Legionärinnen. Sie zeigt: Selbst wenn man das deutsche Team rausrechnet, bleiben immer noch 41 Teilnehmerinnen des Turniers übrig, die ihr Geld in der Bundesliga verdienen.

Nur zwei der teilnehmenden Nationen haben dem Bericht zufolge keine einzige Bundesliga-Spielerin im Kader: England und Russland. (Dass das mit den Legionären für Russlands Fußball-Männer eine große Baustelle ist, davon war ja letzte Woche hier schon mal die Rede.)

 

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⚽ Wir befinden uns im Jahre 2017 nach Christus. Ganz Russland hat sich mit der Korruption beim Bau der WM-Stadien abgefunden. Ganz Russland? Nein! Ein von unbeugsamen Bauern bevölkertes Dorf im Süden des Landes hat aus Protest sein eigenes Stadion gebaut – komplett aus Stroh.

 

Уровень! Ставрополье, креативно и с юмором:-) #россия #russia #arena #stadium

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41.000 Rubel Budget, 4500 Strohballen als Material, Bauzeit unter einer Woche. Dazu ein Schild am Eingang: „Beim Bau wurde kein einziger Rubel gestohlen oder abgezweigt.“ Getauft haben die Erbauer ihr Strohprojekt übrigens „Zenit-Arena“, in Anspielung an das Petersburger Krestowski-Stadion, bekannt wie kein anderes für Mauscheleien und explodierende Baukosten. (Eine gute Zusammenfassung dazu hat der Economist gerade veröffentlicht.)

⚽ Offiziell hat Wladimir Putin noch nicht gesagt, ob er im kommenden Jahr noch einmal bei der Präsidentschaftswahl antritt. Ein offizieller Wahlkampfauftritt war es also nicht, als er am vergangenen Freitag im Staatsfernsehen fast drei Stunden lang Fragen von Schülern beantwortete. Ist ja auch ein dankbarer Termin: keine allzu kritischen Fragen, nur talentierte, fotogene Kinder und ein volksnaher Präsident.

Nur bei einem Thema wollte Putin sich lieber nicht aus der Deckung wagen. Fragen zur Opposition, zum Feminismus, zum Bevölkerungswachstum, alles kein Problem. Aber eine Prognose zum Abschneiden der russischen Nationalmannschaft bei der WM im eigenen Land? Auf keinen Fall. Also entstand folgendes Gespräch zwischen Putin und Pascha (kurz für Pawel), einem Jungen, dessen Team laut Moderator bei der „WM der Waisenhaus-Mannschaften“ gewonnen hatte.

Pascha: Wladimir Wladimirowitsch, bitte sagen Sie: Wird unsere Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft gewinnen?
Putin: Pascha, wer von uns beiden ist Weltmeister, du oder ich?
Pascha: Ich.
Putin: Dann sag mir bitte, als Spezialist: Wird unsere Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft gewinnen?

Einen kurzen Moment lang sah man Pascha die Sorge an, darauf nun ernsthaft antworten zu müssen, dann retteten ihn Applaus und Gelächter. Durch die Geräuschkulisse hörte man nur noch, wie Putin „Setz dich“ sagte. Und Pascha, ganz diplomatisch: „Alles ist möglich.“


 

⚽ Geldbuße für zwei Moskauer Vereine: Spartak Moskau und Dynamo Moskau müssen beide rund 3600 Euro Strafe zahlen, in beiden Fällen geht es um Rassismus von Fans. Die Details hat Reuters hier – wie auch eine Warnung des Fußballverbands: Wenn sich solche Vorfälle wiederholten, heißt es da, seien auch strengere Strafen denkbar. 

⚽  Was ich auch noch nicht wusste: Es gibt in Russland einen Bayer-Leverkusen-Fanclub, der sich den (deutschen) Namen „Russische Pillendreher“ gegeben hat. Gerade mal 29 Mitglieder hat der Club, dafür aber eine ziemlich professionelle Website, wo man nachsehen kann, wo sie denn so sitzen, die russischen Bayer-Fans.

Russische Städte von Moskau bis Barnaul sind da vertreten, andere Mitglieder leben in WeißrusslandKasachstan oder der Ukraine. Gelernt habe ich das alles bei Twitter, von Anna. Wer sich für einen russischen Blick auf deutschen Fußball interessiert, sollte ihr folgen. 

⚽  Nach dem Eiffelturm, dem Empire State Building und der Elbphilharmonie hat nun endlich auch das Petersburger Stadion einen Twitter-Account. Genauer gesagt: Das Stadiondach. Der Account ist erst ein paar Tage alt, hat also bisher erst wenige Tweets zu bieten: „Heute bin ich geschlossen“steht dann da, oder „Hallo alle, noch eine halbe Stunde bis zum Spiel.“  

Seltsamerweise fehlt die Nachricht „Heute bin ich geschlossen, aber ihr werdet trotzdem nass.“ So geschehen beim Spiel von Zenit gegen Rubin Kasan, das Video von Lifenews zeigt fallende Tropfen und einen Fan, der im Sitzen den Regenschirm aufgespannt hat. So ein teures Stadion, und trotzdem nicht ganz dicht. Vielleicht sollte man vorsorglich für die WM schon mal Kontakt zu Moskaus Schönwetterpiloten knüpfen.

⚽ Für viele Fußballfans wird die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr sicherlich ihr erster Russlandbesuch sein – und damit eine Gelegenheit, sich mit den schwerfälligen Namen vertraut zu machen, die öffentliche Einrichtungen hier oft haben. MOSTRANSAWTO zum Beispiel ist zuständig, wenn man sich in und um MOS(kau) TRANSportieren lassen möchte mit dem Gefährt, zu dem der Russe AWTObus sagt.

Der neue Mostransawto-Chef Wladislaw Muraschow überlegt sich gerade, wie man das Busfahren für zugereiste Fans einfacher machen kann: WIFI in den Bussen wird demnächst getestet und soll bis kommenden Sommer weit verbeitet sein. 1700 neue Busse werden angeschafft. Vor allem aber soll man künftig beim Einsteigen einfach die Kredit- oder EC-Karte vors Lesegerät halten können und so bezahlen – kein Kleingeld, keine aufladbare Buskarte. Schließlich, so Muraschow, würden im Moskauer Umland ja auch einige der Mannschaften untergebracht.

⚽  Die Sport-Website Championat.ru hat eine neue Reihe gestartet. Unter dem Motto „Как это работает“ („Wie es funktioniert“) stellen sie unterschiedliche Aufgabenfelder rund um den Fußball vor. Schiedsrichter zum Beispiel, PressesprecherKonditionstrainer, aber auch Spezielleres wie die Arbeit eines Kameramanns beim Vereinsfernsehen. Die Texte holen gerne mal historisch aus – zum Beispiel mit diesem Video aus der Anfangszeit des Spartak-Vereinsfernsehens. Der Clip scheint aus dem Jahr 2002 zu stammen, als Spartak in einer Champions-League-Gruppe mit BaselLiverpool und Valencia spielte:

 

Besonders lesenswert aus dieser Reihe: der Artikel über die Übersetzer russischer Fußballclubs. Als Mitte der Neunziger brasilianische Legionäre wie Luis RobsonLeandro Samarone und Leonidas nach Russland kamen, sei das Thema erstmals relevant geworden, schreibt Championat. Heute haben dem Bericht zufolge nur der FK Tosno und Dynamo Moskau Mannschaften, bei der alle Spieler Russisch sprechen. 

„Der Prozentsatz der Leute, die Englisch sprechen, ist in unserer Stadt sehr niedrig“, erzählt der Übersetzer von Anschi Machatschkala. „Wenn die Spieler also in die Stadt gehen wollen, etwas einkaufen, sagen sie mir Bescheid und wir gehen zusammen.“ Die Tabelle am Schluss des Artikels verrät schließlich noch: Rubin Kasan ist eine ligaweite Ausnahme, denn dort übersetzt mit der 29-jährigen Ada Nasirowa eine Frau. 

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Bei der EM hat das deutsche Team unterdessen noch ein Tor geschossen, Elfmeter, aber immerhin, ein Tor. Da hat’s wohl doch nicht geholfen, dass die Russinnen vorher noch eine optimistische Luftballondeko getwittert hatten – drei pralle Ballons in den russischen Farben, drei schlappe in den deutschen. Abpfiff, das Spiel ist vorbei, diese Russball-Folge auch. Bis nächste Woche!



 

Gedenkmarsch für Boris Nemzow

Nemzow Gedenkmarsch

Zwei Jahre ist es heute her, dass Boris Nemzow erschossen wurde. „Auf offener Straße“ wollte ich erst schreiben, aber das wird dem Ort nicht gerecht. Nicht nur auf einer Brücke im Zentrum von Moskau, sondern sogar in unmittelbarer Nähe des Kreml – so nah, dass die Sicherheitskameras eigentlich den Mord genau im Visier gehabt hätten. Eigentlich.

Erschossen auf offenster Straße also, in der Nacht von Freitag auf Samstag. Ich erinnere mich an den Samstagmorgen vor zwei Jahren: Die Redaktion der Moscow Times ist zu klein, als dass es feste Wochenenddienste gäbe; es war also reiner Zufall, wer aus dem Team wann von Nemzows Tod erfuhr und sich des Themas annahm. Ich weiß noch, dass manche von uns unmittelbar vom Bett ans Laptop gegangen waren, als sie beim ersten Nachrichten-Quergucken auf dem Handy von Nemzows Tod erfahren hatten. Und dass irgendwann nachmittags, als die ersten Berichte veröffentlicht waren, eine Kollegin schrieb: „So, ich brauche jetzt mal ne Viertelstunde Pause zum Duschen – sitze hier noch im Schlafanzug.“ Sie war nicht allein.

Vor allem aber sind mir von diesem Tag die Trolle in Erinnerung geblieben. Dieser große Guardian-Bericht über die Petersburger „Troll-Fabrik“ war da zwar noch nicht veröffentlicht, aber die entsprechenden Facebook-Kommentare gehörten schon damals zum Alltag.

Ostukraine, Krim, Sanktionen und Flug MH17 – schon vor dem Nemzow-Mord hatte ich oft mit ihnen zu tun: den Kommentatoren mit ausgeprägt kremlfreundlicher Meinung, aber ohne Facebook-Freunde. Mit vier, fünf Kommentaren am Tag, aber seit Monaten ohne Updates auf der eigenen Facebookseite. Mit betont englischen Namen, aber strotzend von Fehlern in ihren Updates, die erklärten, dass „here in the US“ alles noch viel schlimmer sei. Am Tag nach dem Nemzow-Mord ware es oft sogar derselbe Wortlaut, in dem da immer wieder argumentiert wurde: Was soll denn Putin damit zu tun haben? Das bringt ihm doch gar nichts, Nemzow war keine ernsthafte Konkurrenz.

Ein Tag, an dem Geschwindigkeit und Masse den Troll-Teamleitern offenbar wichtiger waren als Unauffälligkeit. Vermutlich saßen sie genau so ungeduscht und zerknittert vor ihren Rechnern wie wir. (Wie einer der Petersburger Trolle diesen Tag erlebt hat, kann man hier beim Telegraph nachlesen.)

Gestern, am Sonntag, musste ich wieder an die fleißigen Trolle denken. Vom Nemzow-Trauermarsch haben viele Leute getwittert, und unter den Reaktionen waren sie dann wieder, die Kommentare mit den homogenen Argumentationsmustern: Das war doch alles vom Ausland aus gelenkt. Und überhaupt, das waren doch nur ganz wenige Leute.

Nun ja.

Der Tag danach

Was tun am Tag danach? Am Tag nach dieser Zeremonie, dieser Rede, diesem unverholenen Nationalismus? Was tun angesichts dessen, was da dräut?

Immerhin: Der Termin von Donald Trumps Amtseinführung stand lange fest, man konnte also planen. Der Plan sieht vor, am frühen Nachmittag das Haus zu verlassen, Treffpunkt: Triumfalnaja-Platz. Ich bin früh dran, mache also noch einen Schlenker durch ein Geschäft und komme dort mit einem älteren Russen ins Gespräch. „Sie werden sich nicht erinnern, wie es war, als Deutschland geteilt war,“ fängt er an, worauf ich mein Alter offenbare und er routiniert-charmant mit „Waaas? Also wirklich, ich hätte kein Jahr über 25 geschätzt!“ reagiert. Wir schäkern ein bisschen und er erzählt von seinem Freund aus der DDR, der inzwischen in Köln lebt, und vor ein paar Jahren haben sie sich dann mal in Prag getroffen und…

Es ist eine sehr alltägliche Geschichte, mit Humor erzählt. Wie dem Freund der Mietwagen geklaut wurde, weil er ein paar Kartons drin hatte mit dem Aufdruck einer Luxus-Parfümmarke. Wie die Firma des Freundes dafür sorgte, dass an der Grenze ein neuer Mietwagen auf ihn wartete. Und weil man als Deutsche in Russland manchmal für Hitler, manchmal für Rammstein, aber immer für Fußball und für die Automobilindustrie steht, macht der ältere Herr beim Erzählen diese Sache mit den Fußnoten, also: Bei jedem Auto, das in der Geschichte auftaucht, wird die Marke erwähnt und, falls deutsch, wohlwollend benickt. Der geklaute Mietwagen war ein Volkswagen Kombi, hmhm. Und der Ersatz sogar ein Mercedes, jaha.

Das Ganze dauert keine fünf Minuten, die Geschichte hat keine Pointe. Aber als wir uns verabschieden, merke ich, wie gut in diesem leicht dünnhäutigen Zustand, der mich seit gestern Abend erwischt hat, so ein einfacher Austausch tut. Nichts Weltbewegendes, nur ein paar nette Worte mit einem Fremden, der beim Lebensmittelabwiegen zufällig nach demselben Plastikbeutel gegriffen hat. Einer spricht langsam. Einer hört genau zu. Kommunikation findet statt.

Später treffen wir uns dann wie verabredet mit ein paar Leuten auf dem Triumfalnaja-Platz. Viele sind wir nicht und das ist, wegen des russischen Versammlungsrechts, auch gut so. Dies ist schließlich kein Protestmarsch hier, keine Demo, nein nein. Nur ein paar Leute, die zusammen spazieren gehen. Wie man das halt so tut am Wochenende, bei Minusgraden, wenn der Wind den Schnee am Schal vorbei in den Kragen pustet.

Wir laufen die Twerskaja runter, am Rathaus vorbei und, ja, auch am Ritz Carlton. Wir reden über unsere Heimatländer, was dort gerade politisch geschieht, was wir erhoffen und befürchten. Wir reden über die Weihnachtsferien, über den Job, über Eishockey und diskutieren, wie voll es wohl bei Pro-Trump-Events in Moskau wäre, wenn man mal die ganzen Journalisten rausrechnet.

Es geht quer über den Roten Platz, kurz hinter dem Leninmausoleum kommt uns eine Gruppe von Frauen entgegen, die alle dieselben Schilder hochhalten – irgendwas mit Herzchen. Gleicher Plan zur gleichen Zeit? Nein, die Nachfrage ergibt: Hausaufgabe für den Deutschkurs. Wir gehen noch ein paar Schritte weiter, manche ziehen ihr T-Shirt an, andere halten es hoch. Blick nach links, Blick nach rechts. Ein paar schnelle Fotos mit der Basiliuskathedrale im Rücken und dann ab ins Warme.

Was tun am Tag danach? Rausgehen. Miteinander reden. Sich nicht einschüchtern lassen. Für etwas einstehen. Und nächstes Mal dann auch: Rechtzeitig das T-Shirt bestellen.

Foto: Inna Kiyasova
Foto: Inna Kiyasova

Eine Email aus #ElectricYerevan

Tatev

Dass Tatev Vardapetyan und ich uns kennengelernt haben, ist erst ein paar Monate her. In einer Kneipe in Jerewan saßen wir auf dem Boden und redeten zwischen Bier und Pizza über die politische Lage in Armenien, über Deutschland, Russland und die Türkei. Ich rede gerne schnell. Tatev redet schneller.

Sie ist 23, hat als Journalistin über Menschenrechtsfragen berichtet und koordiniert außerdem das Projekt „Radio Without Borders South Caucasus„. Und seit einigen Tagen besteht ihre Facebookseite aus immer neuen Posts zur Protestbewegung #ElectricYerevan, aus Fotos von Demonstranten und von Polizisten.

Letzte Nacht haben wir hin- und hergemailt.

Tatev, wo bist Du gerade? Wie antwortest Du auf meine Fragen?

Gerade bin ich auf der Baghramjan-Allee, die immer noch von Demonstranten besetzt ist – schon seit neun Tagen, aber die Menschen sind immer noch hier, wenn auch nicht mehr so viele wie zuvor. Aber die, die noch hier sind, sind motiviert und entschlossen, so lange wie nötig zu bleiben. Mithilfe von Freunden habe ich ein Laptop mit WLAN-Verbindung gefunden.

Wie ist die Atmosphäre um Dich herum?

Im Moment sehe ich zwei Hauptgruppen vor mir: Leute, die patriotische Lieder singen, tanzen und die Slogans der Protestbewegung rufen („Wir sind die Besitzer dieses Landes“, „Wir werden siegen“, „Schließt euch an“ und „Nicht plündern“) und, ein Stück weiter weg, Leute, die im Kreis auf dem Boden sitzen und eine öffentliche Diskussion begonnen haben. Hauptsächlich geht es um die Frage, was wir als nächstes tun sollen. Die Diskussionen sind basisdemokratisch, wir haben keine Führung, kein Richtig oder Falsch. Und wir achten darauf, dass jeder mitmachen kann – bei uns findest Du LGBT-Gruppen und Nationalisten nebeneinander.

Die öffentlichen Diskussionen laufen seit gestern, wir wollen sie jeden Tag zur selben Zeit fortsetzen. Es gibt auch schon Arbeitsgruppen mit festen Agendas – eine von ihnen hat zum Beispiel die Facebook-Gruppe „Electric Yerevan Media Hub“ gegründet. Sie sammeln verlässliche Informationen, Artikel und Neuigkeiten zu den Protesten, um Falschmeldungen und Propaganda in den Medien zu bekämpfen. Das ist wichtig, um Leuten zu zeigen, wie bürgerschaftliches Engagement funktioniert.

Seit wann beteiligst Du Dich an den Protesten?

Ich habe mich den Protesten am 23. Juni angeschlossen, nachdem die Polizei mit Gewalt eine Demonstration aufgelöst und viele Menschen verhaftet hat. Die ganze Gesellschaft war empört über die Brutalität der Polizei, denn die Demonstranten waren und sind friedlich. Tatsächlich war die Härte des Polizeieinsatzes der Hauptgrund, warum sich an dem Tag Tausende Menschen auf der Baghramjan-Allee versammelt haben. Wir verlangen auch, dass die Polizisten sich für ihr Vorgehen rechtfertigen müssen und diejenigen bestraft werden, die Gewalt gegen friedliche Demonstranten eingesetzt haben.

Wer sind Deine Mitdemonstranten?

Nationalisten, Leute von Bürgerinitiativen und NGOs, Menschenrechtler, Leute aus der LGBT-Community, Feministen – alles Mitglieder der armenischen Gesellschaft, und irgendwie haben wir es geschafft, die letzten neun Tage friedlich miteinander zusammenzuarbeiten. Am Anfang gab es noch Anführer, inzwischen organisiert sich die Basis selber.

Man muss auch sagen, dass solche Bürgerbewegungen in Armenien noch sehr neu sind, wir müssen noch viel lernen. Zum Beispiel hatten wir eine Woche lang keine Agenda – wir haben nur getanzt, gesungen, zusammen gegessen, Sprechchöre gemacht und versucht zu verhindern, dass die Polizei unser 24-Stunden-Sit-in auflöst. Das war unsere Schwäche.

Als Präsident Sersch Sargsjan angeboten hat, die Regierung könne die Kosten für die Strompreiserhöhung übernehmen, während unsere Notfallfinanzierung überprüft wird, haben wir „nein danke“ gesagt – das deckt sich nicht mit unseren Forderungen. Denn das würde ja bedeuten, dass sie Mittel aus dem Staatshaushalt nehmen, mit anderen Worten: unser Geld. Daraufhin wurde die Situation hier auf der Baghramjan-Allee sehr unübersichtlich, vor allem als die Polizei drohte, die Straße zu räumen. Einige Demonstranten sind auf den Freiheitsplatz gezogen, um die Situation auf der Allee zu entschärfen, die Leute hier hat das verunsichert: keine Anführer, keine Agenda, keine Pläne, wie es weitergeht. Da haben wir gemerkt, dass wir die öffentlichen Diskussionen brauchen, um die Zukunft zu planen.

Interessiert #ElectricYerevan irgendwen abseits der Hauptstadt?

Unser Hashtag ist zwar #ElectricYerevan, aber Proteste gab es auch anderswo, darum hieß es auch schon #ElectricArmenia. In Gjumri und Wanadsor wird jeden Tag demonstriert. In einigen Dörfern haben Leute ihre Autobahn blockiert. Und wir haben viel Unterstützung aus dem Ausland – Menschen aus der armenischen Diaspora haben in den USA und in Europa Demos organisiert. Es gab Solidaritätsaktionen von Mitgliedern der Gezi-Park-Protestbewegung in der Türkei, von Linken und Sozialisten in Russland, der Ukraine, Georgien und selbst in Aserbaidschan.

Siehst Du Parallelen zwischen eurer Protestbewegung und denen in anderen Ländern?

Ich glaube, #ElectricYerevan ähnelt allen Bewegungen, die von jungen Leuten angestoßen wurden – parteifern und ohne klare Anführer. Und ich hoffe, dass das dazu führt, dass linke Gruppen in Armenien sichtbarer werden und sich besser organisieren.

Was soll euer Protest erreichen?

Im Moment fordern wir, das die Pläne für eine Strompreiserhöhung gestoppt werden und wir eine Diskussion führen über den Preis. Außerdem wollen wir eine Untersuchung der Polizeigewalt am 23. Juni. Bis das passiert, werden wir weiter demonstrieren – auf der Baghramjan-Allee oder anderswo.