Immerwährender Moskauer Social-Media-Kalender

So sieht der Frühling als sowjetisches Mosaik im Garage-Museum aus. Wie er bei Facebook, Twitter oder Instagram aussieht, ist leicht vorherzusagen
So sieht der Frühling als sowjetisches Mosaik im Garage-Museum aus. Wie er bei Facebook, Twitter oder Instagram aussieht, ist leicht vorherzusagen

Vier Jahre in Moskau, da ist vieles inzwischen lieb vertraut. Heimat. Routine. Und gleichzeitig immer noch Besonders genug, um darüber zu posten, bei Twitter, Facebook, Instagram oder sonstwo. Neulich fiel mir dazu ein Blogpost ein, den ich vor einigen Jahren mal gelesen hatte. Isabel Bogdan und Maximilian Buddenbohm haben dort die ewig wiederkehrenden Themen gesammelt, zu denen wir alle so Monat für Monat in sozialen Netzwerken posten.

Damals fand ich das lustig und fühlte mich ertappt. Jetzt hatte ich das Gefühl: Für Moskau kann ich das inzwischen auch. Also, als kleines Geschenk zum neuen Jahr: Endlich nie wieder überlegen, was man gerade schreiben oder fotografieren soll! Bedient euch!

Januar

Frohes Neues Jahr!
Hier, ein Foto, wie ich mich bei -22 Grad aus dem Haus gewagt habe.
Frohe orthodoxe Weihnachten!
Hier, ein Foto, wie ich mich bei -26 Grad aus dem Haus gewagt habe.
Frohes Altes Neues Jahr!
Hier, ein Foto, wie ich mich bei -28 Grad aus dem Haus gewagt habe.
Wer kommt mit in die Banja?
Wer hat noch einen Trick, damit der Handyakku nicht so schnell leer geht?
Stollen in gute Hände abzugeben.

Februar

Wer empfiehlt mir eine Powerbank, die auch bei Minustemperaturen funktioniert?
Hier, ein Foto von einem Pfannkuchen mit Pilzen.
Hier, ein Foto von einem Pfannkuchen mit Lachs.
Hier, ein Foto von einem Pfannkuchen mit Äpfeln und Zimt.
Hier, ein Foto von einem Pfannkuchen mit saurer Sahne.
Wer kommt mit in die Banja?
Schaut mal, diese total ironisch gemeinte Karte habe ich zum Tag des Vaterlandsverteidigers verschenkt.

März

Mädels, alles Gute zum Weltfrauentag! Hier, eine Grußkarte aus Sowjetzeiten.
Hier, ein Foto von meiner Badewanne – das Wasser kommt heute mal wieder braun aus dem Hahn.
Hach, Tauwetter, mon amour.
Warum hat diese Stadt eigentlich keine funktionierende Kanalisation?
Ach, schade, sie haben die Winterbeleuchtung abgebaut.

April

Oh, die Cafés bauen ihre Holzterrassen auf.
Wann wird eigentlich das warme Wasser abgedreht? Hat mal wer den Link zur Übersicht?
Es riecht nach Farbe! Frühling!
Hier, ein Foto, wo jemand einen Gitterzaun neu anstreicht.

Mai

Kalt duschen nervt! (Alternativ: Hier, ein Foto vom eigens für diese paar Tage gekauften Boiler im Bad.)
Oh Mann, bei mir vorm Fenster üben Panzer für die Parade.
Oh Mann, bei mir vorm Fenster blockiert ein Müllauto die Zufahrt, damit die Panzer für die Parade üben können.
Oh wow, da üben Kampfjets über meinem Haus.
Wo gucken wir eigentlich dieses Jahr die Parade?
Weiß einer, welche Metrostationen während der Parade dicht sind?
Hier, ein Foto vom Sonnenbrand, den ich mir bei der Parade geholt habe.
Yes, endlich wieder warmes Wasser – ich bin dann mal duschen!

Juni

Draußensitzen mit Gurkenlimonade. Das Leben ist gut.
Mist, schon wieder nicht zur Apfelblüte in den Park von Kolomenskoje geschafft.
Wieso hängen schon wieder überall Fahnen?

Juli

Hier, ein Foto von meiner Badewanne – das Wasser kommt heute mal wieder braun aus dem Hahn.
Ah, toll – man kann abends draußen sitzen, bis es wieder hell wird.
Oh, nerv – man wird morgens viel zu früh wach, weil es wieder hell ist.
Riecht ihr das auch? Brennt da irgendwas?

August

Schön leer in der Stadt, sind wohl alle auf der Datsche.
TGIF! Gleich geht’s raus auf die Datsche!
Dritte Stunde im Stau und noch immer 28 Kilometer bis zur Datsche.
Hier, ein Foto von einem Weinglas auf einem Gartentisch. #dachalife
Wieso hängen schon wieder überall Fahnen?

September

Kreisch, der Sommer kann jeden Tag vorbei sein! #carpediem
Hier, ein Foto vom Schwimmen in der Moskwa.
Hier, ein Foto vom Sonnenuntergang hinter der Erlöserkathedrale, fotografiert von der Dachterrasse der Strelka-Bar.
Hier, ein Foto von Leuten in nassen T-Shirts am Springbrunnen im Gorkipark.
Oh, die Cafés bauen ihre Holzterrassen ab.
Nein, nein, nein! (Screenshot der Wetter-App).
Hello Wintermantel, my old friend.

Oktober

Mist, schon wieder nicht zur Apfelernte in den Park von Kolomenskoje geschafft.
Irgendwas mit Putins Geburtstag.
Ich friere. Ist eure Heizung schon an?
Hurra, meine Heizung ist endlich an!
Mist, die Heizung ist wieder aus – wo muss ich anrufen?
Oh Mann, meine Haut ist so trocken von der Heizung.
Hier, ein Foto vom ersten Schnee. Und ein Video! Und noch eins!
Es ist erst der soundsovielte und im Supermarkt gibt’s schon Weihnachtsdeko zu kaufen.

November

Schon wieder Regen – ich will den Schnee zurück!
Warum hat diese Stadt eigentlich keine funktionierende Kanalisation?
Hier, ein Urlaubsfoto aus einem heißen Land und ein Kommentar à la „Noch mal Wärme tanken“.
Wieso hängen schon wieder überall Fahnen?
Hier, ein Foto von meiner Badewanne – das Wasser kommt heute mal wieder braun aus dem Hahn.
Hier, ein Foto von der Winterbeleuchtung am Gartenring!
Hier, ein Foto von der Winterbeleuchtung an der Twerskaja!
Hier, ein Foto von der Winterbeleuchtung auf dem Roten Platz!
Hier, ein Foto von der Winterbeleuchtung an den Patriarchenteichen!
Wer kommt mit in die Banja?

Dezember

Endlich richtiger, fluffiger Schnee!
Yay, noch mehr Schnee.
Schon wieder Schnee.
Und Eis. Müsste mal einkaufen, will mich aber nicht draußen auf die Nase legen.
Wie machen das die Russinnen bloß: bei der Glätte auf Absätzen, und nie fällt eine hin?
Geil, habt ihr die Schneeräummaschine gesehen?
Wer fliegt in den nächsten Tagen nach Deutschland und kann Stollen mitbringen?
Ist das Feuerwerk heute Abend im Gorkipark echt erst um eins?
Hallo Deutschland – also bei uns ist ja schon das neue Jahr!

Wofür man zu den World Choir Games fährt

Sochi Chorolympiade 2016

Für den Moment, wenn das aus dem Olympischen Dorf entstandene Hotel zwar gute Zimmer hat, aber keinerlei Probenräume. Also stehst du morgens um elf barfuß auf einer Wiese auf den zehn verfügbaren Quadratmetern Schatten und singst mit Russen, Iren, Briten, Franzosen und Deutschen ein Lied aus der Ukraine. Der Dirigent hat seine Tasche an die Turnstangen gehängt, hinter ihm feinstes Bergpanorama.

Für den Moment in der Schlange zum Frühstück (Obst, Gemüse, Brot, Käse, Wurst, Syrniki, zwei Sorten Kascha und, aus unklaren Gründen, Spaghetti), wenn vor dir zwei Frauen aus Teheran stehen, hinter dir eine Kinderchorhorde aus Japan und zwischen den Tischen eine Venezolanerin, deren Blütenkopfschmuck frischer aussieht als das ganze Buffet.

Für den Moment im Bus von Sotschi zurück nach Adler, wenn der Busfahrer bei über 30 Grad durchsagt: „Liebe Passagiere. 16 Leute sind gerade eingestiegen, nur zehn von ihnen haben bezahlt. Bitte geben Sie Ihr Geld jetzt nach vorne durch, oder ich schalte die Klimaanlage ab. Das hat letztes Mal das Problem in 20 Sekunden gelöst.“

Für den Moment, wenn du auf deine zehn Minuten Generalprobe in dem Saal wartest, wo gleich der Wettbewerb stattfindet. Auch hier gibt es keine Proberäume, und Schatten ohnehin nur an den Toiletten oder neben den Müllcontainern. Aber hinterm Haus ist direkt das Hafenbecken, also: einsingen mit Blick auf Meer und Boote.

Für den Moment, wenn du abends im Dunkeln am Ufer des Schwarzen Meeres sitzt, rüberguckst Richtung Türkei und die nächsten zwei Sänger, die an den Strand kommen, sind aus Köln. Komplexe, vielschichtige Heimatgefühle. Neue, alte, beide.

Für den Moment, wenn die Sprecherin eines chinesischen Kinderchores „ein japanisches Lied über den fleißigen Sommer einer Ameise“ ansagt, gefolgt von der Anordnung: „Enjoy!“ Wenn der Chor aus Nischni Nowgorod so unglaublich aufeinander eingespielt ist, dass er auch dann im Takt bleibt, wenn alle Frauen der Dirigentin den Rücken zudrehen. Und wenn du überlegst, ob man das nicht eigentlich immer so machen könnte wie dieser Chor in den pink-blau-lila Kleidern, die ihr Lied einfach damit beenden, dass sie das Wort „всё“ („alles“, oder hier besser: „das war’s“) singen und die Arme hochreißen. Immerhin weiß dann jeder, wann er klatschen soll.

Für den Moment, wenn das örtliche Fernsehen noch ein paar Schnittbilder fürs Abendprogramm braucht, über die hinweg sich die Moderatorin mit ihrem Kollegen über die Chorolympiade unterhalten kann. Schön, dass wir nicht umsonst an unserem extra sanften Pianissimo-Einstieg geübt haben!

Für den Moment, wenn ein holländischer, ein chinesischer und zwei russische Chöre gemeinsam ein „Freundschaftskonzert“ zu bestreiten haben. Mitten in einem Vergnügungspark. Mit nur vier Mikrofonen. Ach so, und in der Einflugschneise zum Flughafen von Sochi, was ja nur eines der populärsten Urlaubsziele in Russland ist. Ist es ein Vogel? Ist es ein Flugzeug? Es ist immer ein Flugzeug.

Für den Moment, wenn wir uns am letzten Abend auf dem Spielplatz zwischen zwei Hotelblocks treffen, auf Bänken, auf dem Boden, auf dem Klettergerüst. Irgendwer fängt an, andere fallen ein, es wird schnell vielstimmig und gerne auch laut. Nicht in allen Rucksäcken ist Bier, in einem ist auch eine Geige. Bei den russischen Liedern geht es um Freundschaft und Apfelblüten, um Abschied und ums Feiern. Uns Nichtrussen fällt, querbeet, „Auf einem Baum ein Kuckuck“ ein, „Guide me, oh thou great redeemer“ und „Goodnight Irene“. Mitternacht ist vorbei und es sind immer noch 26 Grad. Am nächsten Morgen werden wir erfahren, wie wir abgeschnitten haben.

Color Run in Moskau – alles so schön bunt hier

Man muss gar nicht mitlaufen beim Color Run, um eine Breitseite Farbe abzubekommen. Anfeuern und dann noch ein bisschen bleiben reicht völlig. Denn nach dem Lauf treffen sich alle, die auf der Strecke noch nicht genug Farbe abbekommen haben, vor der Bühne.

„Haltet eure Farbpäckchen wie Trinkgläser,“ ruft die Mikrofonstimme. Dann beginnt der Countdown – und alles wird bunt. (Der Ton zum Video lässt sich unten rechts anschalten.)

Schönes bleibt

Als dieses Foto entstand, gab es WDR 4 noch nicht.
Als dieses Foto entstand, gab es WDR 4 noch nicht.

Ein Lieblingsfoto. Es gibt keinen Anlass, das hier zu posten, außer dass ich es so sehr mag. Es muss aus den Fünfzigern sein, denn das da hinten ist meine Mutter, Jahrgang 1949, und vorne ihre große Schwester, meine Lieblingstante. Es sieht aus nach der Zeit, als die Deutschen anfingen, von Italien zu träumen – oder wie eine WDR4-Werbung aus dieser alten Kampagne. Schönes bleibt.

Für einige Blogposts, die hier in den nächsten Tagen veröffentlicht werden, gibt es ebenfalls keinen Anlass. Nichts aktuell Erlebtes, Gesehenes, Gelesenes, auch keine Wochenendkolumne aus der WAZ, sondern: Wir sind jetzt ein halbes Jahr hier in Russland (doch, wirklich), es gibt sowas wie Alltag – und Zeit, ein paar Dinge aufzuschreiben, nur aus Lust am Thema.

„Zeitlos schön“ sollte das Ganze erst heißen, aber das klingt zu sehr nach Redaktionsjargon, nach „gammelt seit drei Wochen im Stehsatz, müsste dringend mal mit, aber der vorletzte Absatz ist nicht mehr aktuell, und die Autorin ist ja jetzt auch im Urlaub, also vielleicht doch lieber ein Ausfallhonorar zahlen und hoffen, dass der Chef es abnickt“.

Stattdessen also: „Schönes bleibt“, als Schlagwort und als Hashtag. Mehr demnächst.