Heute ging also wieder ein Tweet raus, diesmal wegen des Eintrags zum Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates. Er ist bearbeitet worden, was an sich noch nicht besonders spektakulär ist. Spannend wird es erst durch die IP-Adresse des Computers, von dem aus die Änderungen vorgenommen wurden. Sie gehört der russischen Regierung.
Wann immer jemand an einem Computer mit solch einer IP-Adresse sitzt und von dort Wikipedia editiert, meldet sich der Twitter-Bot zur Wort. Das ist manchmal unspektakulär: Die Kinderbibliothek hat jetzt einen neuen Namen, die Leiterin der russischen Delegation beim Kongress der Gemeinden einen leicht anderen Titel. Trotzdem lohnt es sich, den Twitterbot im Blick zu haben. Denn manchmal sind die Änderungen auch hochpolitisch – da erwischt man auch schon mal russische Offizielle, die den Eintrag zum Abschuss von Flug MH17 über der Ukraine in ihrem Sinne verändern. Edit War trifft auf Ukraine-Krieg.
Wer sich nun entscheidet, @RuGovEdits zu folgen, muss sich übrigens keine Sorgen machen, dass der ihm die Timeline zuspammt. Wie gesagt, die Abstände zwischen den einzelnen Tweets sind groß, nur selten wird ein russischer Offizieller erwischt. Deutlich öfter schlägt dagegen @CongressEdits an, das US-Gegenstück. Zuletzt fiel dort jemand mit dem dringenden Bedürfnis auf, einen Eintrag zu einer College-Basketballmannschaft zu verändern.
Gesehen: Auf dem Flohmarkt in Moskau, entdeckt von Anja.
Begleitung: Schwäne und Schnörkel.
Text: „Am Morgen buttere ich mein Brot, und sogleich kommt mir in den Sinn: Wie geht es wohl dem Volk? Schon rutscht der Kaviar nicht mehr in die Kehle, und das Kompott fließt nicht in den Mund.“
Subtext: Guten Morgen, ich bin es, Dein Präsident – auf Deinem Frühstückstablett. Du weißt doch, das Design bestimmt das Bewusstsein. Also, Käffchen? Hier, bitteschön. Und das mit Kaviar und Kompott ist natürlich üble Nachrede. Weiß doch jeder, dass ich lieber Hüttenkäse und Buchweizengrütze frühstücke.
(Das hier ist der zweite Teil einer Bestandsaufnahme zum Thema Moskauer Leitungswasser. Den ersten Teil gibt es hier.)
Kann man das Moskauer Leitungswasser nun also trinken oder nicht? Theorien und Behauptungen gibt es viele, bloß kein eindeutiges Ergebnis. Dafür aber aber ein bei Amazon bestelltes kleines Päckchen mit erfreulich vielen Teststreifen, Behältern und Pipetten – keine Profi-Ausrüstung, aber genug für einen ersten Überblick. Also, Handschuhe an und los.
Weil er die meiste Zeit braucht, ist der Bakterientest als erstes dran. Aus dem Küchenwasserhahn etwas Wasser auf das Pulver im Röhrchen geben, zuschrauben, 20 Sekunden schütteln. Nun muss die Mischung an einem warmen Ort stehen, das durch die Wasserrohre permanent aufgeheizte Badezimmer passt also genau. In 48 Stunden, verspricht die Anleitung, wird die lila Flüssigkeit gelb, falls Bakterien gefunden werden. 24 Grad Celsius sind dafür genau richtig, der Test verlangt 70 bis 90 Grad Fahrenheit.
Nächster Test: Kupfer – wichtig vor allem, wenn im Haushalt Babies oder kleine Kinder leben. Kein Röhrchen diesmal, sondern ein Teststreifen. Kurz ins Wasser stippen, abschlackern (nur einmal bitte) und nach zwei Minuten die Farbe am Ende des Streifens mit der Skala im Testheftchen vergleichen. 1,3 parts per million gibt der Test als Obergrenze vor, das Ergebnis liegt deutlich darunter.
Der Test auf Eisen im Wasser kommt als nächstes – laut Umweltbundesamt hat der Grenzwert hier vor allem „ästhetische Gründe“, sprich: Das Wasser wird irgendwann schmutzigbraun und schmeckt seltsam.
Auch die Testanleitung legt diesmal Wert auf Ästhetik, aber wer Profi-Gummihandschuhe hat, der hat auch das Einfühlungsvermögen, den Teststreifen fünf Sekunden lang sanft, aber bestimmt durch die Luft zu wedeln. Und das war dann auch schon das Spektakulärste an diesem Teil des Tests.
Als Kind NRWs kennt man sich mit Nitrat, Nitrit, der Landwirtschaft und dem Grundwasser zwangsläufig aus. (Details zum Beispiel hier oder hier.) Beim Wassertest in Moskau war keins von beidem ein Problem. In beiden Fällen zeigte das Teststäbchen die Farbe am untersten Ende der Skala an.
Der nächste Teststreifen hat gleich drei Felder – für den pH-Wert, den Härtegrad (etwas vereinfacht ist das der Kalkgehalt) und für Chlor. Eintauchen, 15 Sekunden warten, vergleichen, und siehe da: zum ersten Mal ist etwas nicht, wie es sein sollte. Der Farbton des mittleren Feldes zeigt, was man in Moskau jeden Morgen unter der Dusche erlebt: Das Wasser hier ist extrem hart, die Haare brauchen mehr Shampoo, um sauber zu werden.
Der pH-Wert liegt der Farbe nach zwischen 7,5 und 8,5 und damit innerhalb der Vorgaben der deutschen Trinkwasserverordnung, der Chlorgehalt bei null – tatsächlich wird Moskaus Wasser laut offiziellen Angaben seit ein paar Jahren nicht mehr gechlort, sondern stattdessen mit Natriumhypochlorit behandelt (das findet man sonst z.B. in Reinigungsmitteln für verstopfte Rohre).
Zwei Teststäbchen sind noch übrig, eines für Blei, eines für Pestizide. Der Versuchsaufbau ist hier ein wenig anders: kein Farbabgleich nach dem Eintauchen, sondern zehn Minuten, in denen die Plastikstäbchen flach auf der Küchenzeile liegen. Dass danach auf jedem Stäbchen nur eine blaue Linie erscheint, heißt auch hier: negativ, keine Substanz gefunden.
Beim Teströhrchen, das es im Badezimmer schön warm hatte, ist auch zwei Tage später alles noch lila. Gelb hätte, siehe oben, einen Bakterienbefall angezeigt, so hingegen kann man den Inhalt sorgenfrei ins Klo schütten und eine Wassertest-Bilanz ziehen: Das Wasser mag extrem hart sein, ansonsten deuten die Versuchsergebnisse auf kein Problem hin. Kein Flaschenwasser also mehr in Zukunft?
Für mich schon. Weil es eben nur ein kleiner Do-it-yourself-Test ist, keine anständige Laboranalyse. Weil er bestenfalls etwas aussagt über das Wasser, das an diesem einen Vormittag aus diesem einen Hahn gekommen ist, in dieser einen Küche, dieser einen Wohnung, diesem einen Gebäude an dieser einen Straße – in dieser Riesenstadt Moskau. Weil die paar Rubel für Wasser aus der Flasche keine große Investition sind. Und weil das Wissen, dass es wohl kein Chlor ist, vielleicht dafür aber Natriumhypochlorit, am Geschmack und Geruch dieses Wassers so gar nichts nichts ändert.
Wer in Moskau lebt, geht mit Wasser anders um. Kein Schluck aus der Leitung mehr nach dem Zähneputzen. Den Lieferanten für unser Wasser – stilles in Fünf-Liter-Kanistern, Mineralwasser in Flaschen – haben wir samt Kundennummer direkt von den Vormietern übernommen.
Bei Reisen in der Region stehen selbstverständlich Flaschen mit Trinkwasser auf dem Zimmer, selbst in günstigen Hotels. In der Redaktion kümmern sich die Putzfrauen darum, dass regelmäßig die leeren Wasserbehälter an den Zapfstellen gegen volle ausgetauscht werden.
Foto: Anna Stollenwerk
Von warmem Wasser wollen wir hier gar nicht erst anfangen. Das kommt gerne mal so wie auf dem Foto aus der Leitung; da stirbt der Impuls, es zu sich zu nehmen, einen abrupten Tod. Aussagen zur Qualität des kalten Wassers klingen unterdessen seit Jahrzehnten nach Radio Eriwan. Im Prinzip kann man das schon trinken, aber…
„Ich trinke nur Tee, der mit Wasser aus dem Kanister aufgebrüht wurde. Man kann das Leitungswasser zwar trinken, aber wenn Sie das Geld dafür haben, sollten Sie lieber in den Laden gehen und eine Wasser-Marke finden, die zu ihren Bedürfnissen und ihrem Gesundheitszustand passt.“ (Gennadi Onischtschenko, damaliger Leiter der obersten russischen Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor, 2012)
„Die letzten Meter bis zum Wasserhahn (sind) eine Wundertüte möglicher Keime – die Leitungen in den Wohnhäusern haben deren Eigentümer zu verantworten und ihr Zustand ist unberechenbar.“ (Die Moskauer Deutsche Zeitung im Jahr 2013, mit „ihr Zustand“ sind vermutlich eher die Rohre als deren Eigentümer gemeint.)
Moskau ist wie Uni, im September kommen die Neuen. Job, Wohnung, Registrierung, Internet, Handy – es ist ziemlich viel, was man sich hier in den ersten Wochen organisieren muss. Als kleine Hilfestellung für die Neuzugänge aus Deutschland und anderswo hier also eine Ladung Links. Manche, die mir beim Einleben geholfen haben – und manche, von denen ich wünschte, ich hätte sie damals™ schon gekannt.
A Girl and Her Travels: Meine Moskauer Lieblings-Bloggerin Polly ist vor kurzem hier weggezogen. Seitdem hat sie sich aber die Zeit genommen, all ihre Einblicke in das Leben in Moskau nach Themen zu sortieren und zu bündeln. Das Schöne an Pollys Posts ist, dass sie durch ihren Mann und die Schwiegerfamilie viel russischen Alltag erlebt und beschreibt. Besonders empfehlenswert also für Leute, die nicht des Jobs, sondern der Liebe wegen hierher kommen. Hier geht es zur „Moscow Master-List“, und hier zu einem meiner persönlichen Favoriten: „Russia, I love you, but you’re bringing me down.“
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App-Sammlung: Eine Reihe nützliche Russland-Apps habe ich Anfang des Jahres mal zusammengestellt. Zusätzlich muss man seitdem noch Yandex Transport erwähnen, das man inzwischen auch aus dem deutschen App-Store runterladen kann. Die russischsprachige ÖPNV-App zeigt live, wie weit der nächste Bus noch von eurer Haltestelle entfernt ist. Sehr nützlich in einer Stadt, in der die ausgehängten Fahrzeiten eher selten stimmen.
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Einkaufszettel: Gerade am Anfang, wenn man viel um die Ohren hat, fehlt oft die Zeit fürs Vokabellernen. Um trotzdem ein bisschen Übung zu bekommen, bietet sich der Einkauf im Laden oder auf dem Markt an, da geht man schließlich sowieso regelmäßig hin. Jennifer Eremeeva, Bloggerin und Moskauer Expat-Instanz, hat sich darum nützlich gemacht und Einkaufsvokabelzettel zusammengestellt, als PDFs, nach Lebensmittelgruppen. Damit euch sowas hier nicht passiert.
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Moscow Expats: Alles, worüber ihr als Neuankömmlinge euch gerade Gedanken macht, hat sich vorher schon mal jemand anderes gefragt, von „Funktionieren Amazon-Lieferungen nach Moskau“ bis „Wo steht ein Geldautomat, an dem ich mehr als nur 7500 Rubel auf einmal abheben kann?“ In dieser Facebook-Gruppe teilen Moskau-Immis ihre Erfahrungen miteinander, außerdem gibt es Wohnungs-, Sprachkurs- und Flohmarkt-Untergruppen. Wichtige Netikette: Vor dem Posten bitte mit der Suchfunktion schauen, ob eure Frage schon einmal gestellt wurde.
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Moskau-Tipps für Einsteiger: Die Broschüre der Deutschen Gruppe Moskau beantwortet Alltagsfragen von „Wie funktionieren hier öffentliche Verkehrsmittel“ über „Wo finde ich einen Tierarzt“ bis „In welchen Stadtteil ziehe ich am besten.“ Eine echte Fleißarbeit, diese Sammlung an Tipps, und rundum hilfreich. Gerade wird sie aktualisiert, hier gibt es das aktuelle Heft als PDF.
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Russland letzte Woche: Diese wöchentliche Kollektion an Russland-Meldungen von Pavel Lokshin ist pointiert, komplett subjektiv und gerade darum so unterhaltsam. Halb Newsletter, halb Kolumne, mit aktuellen Links und Pavels Einordnung in die größeren Zusammenhänge. Hier kann man das Ganze abonnieren, um es regelmäßig gemailt zu bekommen.
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Sprachkolumne: Michele Berdy lebt seit Jahrzehnten in Moskau und schreibt eine wöchentliche Kolumne über die russische Sprache – anekdotenreich, anschaulich und meist mit aktuellem Aufhänger. Zuletzt hat sie zum Beispiel über Sanktionen und Gegensanktionen geschrieben. Oder über Warenje, was im Prinzip so eine Art russische Marmelade ist, nur eben mit anderer Konsistenz, anderem Konsumverhalten und anderem, speziellem Geschirr. It’s complicated. Gut, dass Michele das alles aufdröselt.
Russen nennen den Stil „Modern“, Briten reden von Art Nouveau, auf Deutsch ist es Jugendstil. So oder so bekommt man besonders viele prächtige Beispiele davon zu sehen, wenn man nach Riga reist. Sphinxen und futuristische Gestalten, Ranken und Girlanden, aus Stein, Metall und Holz. Viele Motive für einen Fotospaziergang durch die Stadt.
Und mittendrin dann der Kopf mit den Wallehaaren und diesem vernichtenden Blick von ganz oben herab – ganz klar, woran der erinnert. Diesen Blick hat schließlich, seit diese Figur gemeißelt wurde, nur ein anderer so gut beherrscht.
Begleitung: Sein Freund, der Baum – und ein Sinnspruch in Schnörkelschrift.
Text: „Sei stolz. Sei selbstbewusst. Sei glücklich. Sei du.“
Subtext: Das beste aus beiden Welten: wohlfeiler amerikanischer Motivationsblabla in thematisch passendem Font, getextet auf ein Putinbild, wie es putinbildiger kaum sein kann. Und wie nett, der Betreiber des noch recht neuen Accounts hat im Profil auch direkt seine Interessen angegeben: „Pferde, Schwimmen, Annektieren.“
Ein Jahr lang gilt nun der russische Einfuhrstopp für eine ganze Reihe westlicher Lebensmittel. Obst, Gemüse, Fisch, Fleisch, Milchprodukte – das großflächige Verbot hat nur kleine Lücken. Für den eigenen Verbrauch zum Beispiel darf man quasi mundgerechte Mengen der sanktionierten Lebensmittel weiterhin nach Russland importieren. In den Supermärkten aber sucht man den guten lettischen Joghurt, die finnische Milch oder die irische Butter erfolglos.
Ja, das ist lettischer Joghurt. Nein, den bekommt man in Moskau nicht mehr.
Teilweise hat Russland sich im vergangenen Jahr bemüht, andere Lieferanten für diese Lebensmittel zu finden, teilweise soll die russische Agrarwirtschaft selbst in die Bresche springen. Das klappt nicht von jetzt auf gleich, also sind die Preise gestiegen. Vor allem in den Monaten unmittelbar nach dem Einfuhrstopp war der Trend unverkennbar: Selbst Gemüse wie Weißkohl, ein Klassiker der russischen Küche, entpuppte sich als Importgut.
Ein Jahr danach lohnt sich der Vergleich also doppelt: Wie sind die Moskauer Lebensmittelpreise heute im Vergleich zum August 2014? Und wie war der Weg dorthin? Hier erst mal der Jahresvergleich, angefangen mit dem Perekrestok-Supermarkt bei uns um die Ecke:
Möhren für 39,90 Rubel/Kilo (August 2014: 29) Tomaten für 62 Rubel/Kilo (August 2014: 39) Weißkohl für 10,91 Rubel/Kilo (August 2014: 10) Äpfel für 49,90 Rubel/Kilo (August 2014: 44,50) Birnen für 125 Rubel/Kilo (August 2014: 69)
Milch (2,5%) für 67,74 Rubel/Liter (August 2014: 63,44) Naturjoghurt (bio) für 17,81 Rubel/100g (August 2014: 37,60) Butter für 37,50 Rubel/100g (August 2014: 46,50) Brie für 127 Rubel/100g (August 2014: 97,50)
Hähnchenbrust (aus der Fleischtheke) für 249 Rubel/Kilo (August 2014: 185) Schweinekotelett (aus der Fleischtheke) für 419 Rubel/Kilo (August 2014: 406)
Und so sind die Preise heute bei Utkonos, dem Online-Lebensmittelhändler.
Kartoffeln für 22,50 Rubel/Kilo (August 2014: 28) Zwiebeln für 27,50 Rubel/Kilo (August 2014: 34) Gurken für 40,50 Rubel/Kilo (August 2014: 109) Zucchini für 28,90 Rubel/Kilo (August 2014: 26) Auberginen für 48 Rubel/Kilo (August 2014: 145) Rote Bete für 21,50 Rubel/Kilo (August 2014: 17) Kohlrabi für 208 Rubel/Kilo (August 2014: 85)
Nektarinen für 194 Rubel/Kilo (August 2014: 117) Zitronen für 169 Rubel/Kilo (August 2014: 139) Mango für 329 Rubel/Kilo (August 2014: 330) Bananen für 52,90 Rubel/Kilo (August 2014: 47) Orangen für 123 Rubel/Kilo (August 2014: 85) Grapefruit für 114 Rubel/Kilo (August 2014: 82) Kiwi für 214 Rubel/Kilo (August 2014: 229)
Milch für 53,05 Rubel/Liter (August 2014: 66,10) Butter für 53,78 Rubel/100 g (August 2014: 49,88)
Graubrot, geschnitten, für 82,50 Rubel/Kilo (August 2014: 76,56) Toastbrot für 90,60 Rubel/Kilo (August 2014: 79,80)
Rinderhack für 400 Rubel/Kilo (August 2014: 412) Ganzes Hähnchen für 170 Rubel/Kilo (August 2014: 150) Durchwachsener Speck für 822,50 Rubel/Kilo (August 2014: 650)
Lachssteak (TK) für 832 Rubel/Kilo (August 2014: 576)
In dem Jahr von August 2014 bis August 2015 sind die Preise im Schnitt also um 14,4 Prozent gestiegen – im Supermarkt etwas mehr (18,3 Prozent), online etwas weniger (10,5). Zu den Preistreibern bei der Supermarkt-Bilanz gehören zum Beispiel Birnen – heute 81,2 Prozent teurer als vor einem Jahr – und Tomaten. Die kommen inzwischen eben nicht mehr aus den Niederlanden, sondern meist aus Aserbaidschan, kosten dafür aber eben auch 59 Prozent mehr. Auch beim Online-Einkauf sind die Veränderungen bei frischem Gemüse bemerkenswert: Kohlrabi kosten, das ist dann allerdings auch der Spitzenwert, inzwischen fast 145 Prozent mehr als vor dem Einfuhrverbot.
Andererseits fallen einige Lebensmittel auf, die heute nicht oder kaum teurer sind als vor einem Jahr: Die Supermarktmilch kostet nur knapp 7 Prozent mehr, bei Butter und Graubrot ist es ähnlich. Einige Lebensmittel gibt es heute sogar günstiger zu kaufen als vor einem Jahr – anderes Herkunftsland, anderer Anbieter, andere Produktionsstandards, andere Preispolitik.
Auberginen gehören zu den Gemüsen mit heftigen Preisschwankungen
In einigen Fällen versteckt der Vergleich zwischen August 2014 und 2015 die krassen Preissprünge in den Monaten dazwischen. Die Kartoffeln von Utkonos mögen mit 22,50 Rubel/Kilo heute sogar ein wenig unter dem Vorjahrespreis liegen – Anfang des Jahres musste man noch mehr als das Doppelte (46,90) fürs Kilo zahlen. 229 Rubel für ein Kilo Gurken – das war der Dezember. 494 Rubel fürs Rinderhack? Hallo, Januar. Und im Februar dann 283 Rubel für ein Kilo Auberginen – die Liste der Preisausreißer nach oben lässt sich beliebig fortschreiben. Was bleibt, ist genug Material für ein Proseminar in Angebot, Nachfrage und Substitution.
Als jemand, der diese Lebensmittel nicht nur bezahlt, sondern auch zubereitet und isst, würde mich aber bei aller Theorie ganz praktisch vor allem eines interessieren: Wie hat sich mit den Preisen wohl die Qualität entwickelt?
Dass da nach Jahren ganz plötzlich das Einfuhrverbot für chinesisches Schweinefleisch fällt, das vorher mit Gesundheitsbedenken begründet wurde – ich wäre gern so naiv und sähe darin etwas anderes als nur den Wunsch, Ersatz für gestoppte Westimporte zu finden. Das russische Käse-Angebot „zwischen eingetrocknetem Tippex und Turnhallenmief“ hat der Guardian in all seiner Trostlosigkeit hier beschrieben. Und jedes Mal, wenn jemand in Deutschland bei Facebook irgendwelche Na-da-wiehert-aber-der-Amtsschimmel-Sprüche postet, bekomme ich in Moskau Sehnsucht nach so einer richtig nickeligen, paragraphenreiterischen, unnachgiebigen Lebensmittelaufsicht.
Das Kleingedruckte: Der Moskauer Warenkorb ist nicht repräsentativ – nur zwei Stichproben, ziemlich willkürliche Produkte, nicht danach gewichtet, was der Durchschnittsrusse so konsumiert. Hinzu kommt, dass manche Produkte (Papajas etwa) aus dem Jahresvergleich komplett rausfallen, weil es sie heute schlicht nicht mehr gibt (oder nur für so viel Geld, dass der Durchschnittshändler sie nicht mehr im Sortiment hat).
„Sie sind… Sie sind eine… eine…“ Eine Hand greift in die Jackentasche, holt einen Zettel hervor und faltet ihn auf. Dann, langsam vorgelesen, jede Silbe betont: „Sie sind eine sehr attraktive deutsche Dame.“
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Wenn Menschen in Russland mitkriegen, dass man aus Deutschland kommt, ist das Repertoire an Reaktionen nicht sehr groß. Taxifahrer fangen an, laut Musik von Rammstein zu spielen und mitzusprechen: „Du… Du hast… Du hasst mich… Du hast mich gefragt.“ Manche Leute reden von der Bundesliga, wollen wissen, was ein Visum kostet oder erzählen, dass sie selber ein bisschen Deutsch können. Es folgt ein kurzer Moment des Hoffens, dass es nicht wieder „Heil Hitler“ sein möge, sondern, wie neulich: „Komm an die Tafel! Schlagt die Bücher auf!“
Der freundliche Schrankenmann ist eine mehrfache Ausnahme. Erstens, weil er aus dem Team an Schrankenmännern – unser Eingang wird immer von mindestens dreien gehütet – der einzige ist, der zurückgrüßt oder auch nur Blickkontakt aufnimmt. Silvester waren wir um Mitternacht auf der Straße und haben dem Wärter, der diese Schicht erwischt hatte, eine Schachtel Pralinen gebracht. Keine Regung, nur eine Handbewegung, um den Karton anzunehmen.
Der freundliche Schrankenmann winkt, lacht, und er lernt Deutsch. Schon sein Vater hat sich für die Sprache interessiert, hat er mal erzählt, jetzt hört er selber deutsches Radio, zum Üben. Und manchmal hat er Fragen: Wie sagt man auf Deutsch „Die Sonne scheint wie auf Jamaika“? Was heißt das „fröhlich“ in „fröhliche Weihnachten“? „Lieben Sie den Sommer oder den Herbst?“ Und könnte man ihm vielleicht aus dem Urlaub zuhause was mitbringen, „einen kleinen deutschen Schnaps“? Einen Killepitsch hat er bekommen, auch manche Nachbarn haben ihm schon was zu Trinken mitgebracht.
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Neulich kam der erste Wiederholungs-Besuch aus Deutschland extra mit Schokolade im Gepäck, „für euren Schrankenmann.“ Er ist ein Stückchen Zuhause, ein lieb gewonnenes Gesicht, eine Institution. Der man es dann auch verzeiht, dass sie den Spickzettel aus der Jackentasche schon für mehrere „attraktive deutsche Damen“ recycelt hat.
Kein Ausschlafen, Essen in der Kantine, jeden Tag stundenlange Probenarbeit, abends Konzerte und wenn man gerade ins Bett gefallen ist, weckt einen der Feueralarm. Man muss schon eine besondere Sorte Musik-Nerd sein, um so seinen Urlaub zu verbringen.
Wir sind 150, und jeder einzelne ist froh, einen Platz ergattert zu haben. Denn die Dozenten bei diesem Chorworkshop in der südenglischen Pampa sind Voces8. Wenn man sich als Sänger von jemandem etwas abgucken möchte, dann sind die acht schon keine so ganz schlechte Wahl. (Hier singen sie das ohnehin ziemlich großartige „Ubi Caritas“ von Ola Gjeilo.)
Sportler fahren ins Trainingslager. Wir sind hier, in Milton Abbey, einer Schule im historischen Gebäude. Die Highlights der Woche, natürlich in acht Punkten:
1. Das Einsingen
Das mag komisch klingen, aber ja, die Einsingübungen waren für mich tatsächlich einer der Höhepunkte. Wahrscheinlich, weil der Kontrast so groß ist zum Chor hier in Moskau, wo die Devise „im Zweifel forte und marcato“ gilt und das Aufwärmen chronisch zu kurz kommt.
Die halbe Stunde Wachwerden jeden Morgen – Körper, Atmung, Stimme – war gerade deshalb eine super Sache. Erst recht, weil jeder von den acht Sängern/Dozenten seine eigenen Methoden mitgebracht hatte.
Gähnen, Hecheln, Explosivlaute, Tonfolgen, das kennt man ja. Luftgitarre spielen (und hinterher zerdreschen) war mir dagegen neu – genau wie das allmorgendliche Gefühl, dass eine halbe Stunde mehr Schlaf der Auge-Hand-Koordination vielleicht ganz gut getan hätte. („Try not to hit yourself in the face“, siehe Video, bringt es ganz gut auf den Punkt.)
So sorgfältig betreut hat die Stimme dann auch tatsächlich sechs Tage Proben, drei Konzerte, zwei Gottesdienste und allerlei abendliches Spontangesinge gut überstanden.
2. Das Zuhören
Töne angeben? Ach komm, ihr seid doch schon groß, der Grundton reicht. So in etwa war die Haltung, egal, mit wem von Voces8 wir gerade gearbeitet haben. Fiel mir am Anfang schwer, weil es lange keiner mehr eingefordert hatte. Noch ein Grund also, sich zu konzentrieren. Und ein Erfolgserlebnis, je verlässlicher es nach und nach wieder klappte.
3. Der Ort
Schon sehr englisch, unser Zuhause für eine Woche – die Architektur, der perfekte Rasen, die zermatschten Erbsen beim Mittagessen, die Unterbringung in den verschiedenen Schulgebäuden („In welchem Haus bist Du denn?“ – „Slytherin.“).
In einem Aufenthaltsraum hängt noch die Liste, welches Haus im letzten Schuljahr die meisten Punkte gesammelt hat. Ein junger Tenor sieht aus wie Neville Longbottom. Und wie heißt der Gastmusiker, der mit uns am zweiten Tag etwas einstudiert? Alexander L’Estrange. Keine weiteren Fragen.
4. Das Repertoire
Jedes Land hat ja für jedes Niveau so seine typischen Chorwerke, und irgendwann hat man die meisten mal gesungen oder zumindest gehört. Die Woche in Dorset war also auch eine Chance, viele neue Stücke kennenzulernen: Fyre, Fyre! von Thomas Morley (Schmackes!), Stephen Paulus‘ Pilgrim’s Hymn (Mystik!), My spirit sang all day von Gerald Finzi (Taktwechsel! Noch einer! Schon wieder!) – und das war nur die Kammermusik.
Dass die Leiter eines Workshops bei den Proben und Konzerten ansprechbar sind, ist klar. Wie viel man aber auch sonst mit einigen von Voces8 zu tun hatte – in der Essensschlange, an der Bar, zwischen Tür und Angel – das war schon sehr sympathisch.
Manche waren sogar mit Eltern/Partner/Nachwuchs angereist, und auch sonst war die Atmosphäre durchweg familiär: Gäste wie Alexander L’Estrange und seine Band oder Paul Phoenix kamen also nicht nur zu ihren Proben und Konzerten, sondern blieben länger und gaben ihrerseits Feedback und Tipps („Wenn ihr ‚Falalalala‘ singt, denkt dran: Das haben die damals so getextet, weil sie nicht offen sagen konnten ‚Oh, Baby, ich mag, was Du da gerade tust‘.“). Wahrscheinlich hat es auch denen in der Milton-Abbey-Idylle gefallen.
6. Die Kammermusikgruppen
Endlich mal wieder ein Madrigal singen, und dann auch noch in so einer madrigaligen Atmosphäre: liebliches Südengland, Sommer (jaja, englischer Sommer – Unterhemden, Longsleeves und eine Wärmflasche für nachts, so packt der Profi). Geprobt im Ballsaal mit sehenswerter Decke, aufgeführt in einer Abteikirche, wie man das halt so tut.
Alles, was im großen Ensemble unter „passt schon irgendwie“ fällt, hat uns unser Chorleiter hier nicht durchgehen lassen (danke, Chris!). Schön, mal wieder so konzentriert und in kleiner Besetzung an ein paar Stücken zu arbeiten.
7. Der Französisch-Fail
Kein Gemeinschaftserlebnis, sondern ein komplett persönliches: Wie sehr der Versuch, sich mit den französischen Teilnehmern zu unterhalten, gescheitert ist. Zuhören, verstehen, kein Problem. Aber antworten? J’habite à Moscou, i je rabote chez une gasyetta. Gelächter auf beiden Seiten.
Jedenfalls habe ich beschlossen, das als Erfolgserlebnis zu deuten. Weil die ganzen gepaukten Vokabeln offenbar im Hirn inzwischen gut Wurzeln geschlagen haben.
8. Die anderen Sänger
Was das für eine vielfältige, internationale Gruppe war, fiel vor allem an den Abenden auf, wo alle aufgerufen waren, eine Kleinigkeit aufzuführen – „your party piece“. Hätte ich doch nur mehr Videos gemacht! Von der wahrscheinlich ältesten Kursteilnehmerin, sicher gut in den Siebzigern, als Eliza Doolittle mit „Wouldn’t it be loverly“.
Von den drei Jungs, alle noch diesseits des Bartwuchses, mit Gitarre, Ukulele und einem selbstgebastelten Mash-up aus zwei Pop-Nummern. Von allem, was da stimmlich zwischen Opernhaus und Fankurve so abging. Und von Händels Halleluja-Chor, kurz vor Mitternacht, ohne Noten, aber mit Vehemenz. Alle zusammen.