Moskauer Warenkorb, August 2014

Dieser Blogpost ist leider nicht besonders faszinierend, aber nötig als Ausgangspunkt für andere in der Zukunft. Die werden dann auch hoffentlich wieder interessanter, versprochen. Sorry.

Seit dieser Woche gilt also das russische Einfuhrverbot für viele Lebensmittel aus dem Westen. Nach allen Gesetzen von Angebot und Nachfrage müsste das zu steigenden Lebensmittelpreisen führen – erst recht, weil die Entscheidung so abrupt kommt. Die Lücken gibt es ab sofort, wer sie füllt, klärt sich erst nach und nach. Was also wird teurer, was verschwindet vielleicht ganz aus dem Angebot?

Zeit für einen Warenkorb.

Wissenschaftlich ist das hier nicht, die Auswahl eine Mischung aus Nachdenken und Zufall: Es sollten Obst, Gemüse, Milchprodukte und Fleisch dabei sein; russische Produkte und solche, bei denen mir in der Vergangenheit aufgefallen ist, dass sie importiert waren, etwa Holland-Tomaten. Andererseits gab es zum Beispiel Auberginen, die eigentlich in den Korb sollten, gerade schlicht nicht. Das ist halt manchmal so, auch schon vor dem Importverbot.

Herausgekommen ist darum, der Vollständigkeit halber, ein Warenkorb in zwei Hälften*. Die erste Hälfte sind Preise aus einem echten Supermarkt. Perekrjostok (Kreuzung) ist ein mittelguter, mittelteurer Laden; wer Luxusprodukte will, muss zu Asbuka Vkusa gehen oder zur Perekrestok-Edelschwester Seljonyj Perekrjostok. Die Preise sind die unserer Filiale am Kiewer Bahnhof. Dort gab es diese Woche:

    Möhren für 29 Rubel/Kilo
    Tomaten für 39 Rubel/Kilo
    Rote Paprika für 44,50 Rubel/Kilo
    Weißkohl für 10 Rubel/Kilo
    Äpfel für 44,50 Rubel/Kilo
    Birnen für 69 Rubel/Kilo

    Milch (2,5%) für 63,44 Rubel/Liter**
    Naturjoghurt (bio) für 37,6 Rubel/100g
    Butter für 46,50 Rubel/100g
    Brie für 97,50 Rubel/100g
    Parmesan für 159,50 Rubel/100g

    Hähnchenbrust (aus der Fleischtheke) für 185 Rubel/Kilo
    Schweinekotelett (aus der Fleischtheke) für 406 Rubel/Kilo

Der zweite Teil des Korbes ist umfassender und deutlich leichter recherchiert. Aus dem Angebot von Utkonos (Schnabeltier), einem Lebensmittel-Lieferdienst mit halbwegs zivilen Preisen, habe ich für die kommenden Monate diese Lebensmittel gebookmarkt, auch hier sind die Preise aus dieser Woche.

Kartoffeln für 28 Rubel/Kilo
Zwiebeln für 34 Rubel/Kilo
Gurken für 109 Rubel/Kilo
Zucchini (hellgrüne, nicht die dunklen, die wir in Deutschland kennen) für 26 Rubel/Kilo
Auberginen für 145 Rubel/Kilo
Rote Bete für 17 Rubel/Kilo
Eisbergsalat für 75 Rubel/Stück
Kohlrabi für 85 Rubel/Kilo

Nektarinen für 117 Rubel/Kilo
Zitronen für 139 Rubel/Kilo
Papaya für 415 Rubel/Kilo
Mango für 330 Rubel/Kilo
Bananen für 47 Rubel/Kilo
Orangen für 85 Rubel/Kilo
Grapefruit für 82 Rubel/Kilo
Kiwi für 229 Rubel/Kilo

Milch für 66,10 Rubel/Liter
Butter für 49,88 Rubel/100 g

Graubrot, geschnitten, für 76,56/Kilo
Toastbrot für 79,80 Rubel/Kilo

Rinderhack für 412 Rubel/Kilo
Ganzes Hähnchen für 150 Rubel/Kilo
Durchwachsener Speck für 650 Rubel/Kilo

Kabeljau (TK) für 228 Rubel/Kilo
Lachssteak (TK) für 576 Rubel/Kilo

Damit ist der langweilige Blogpost auch schon vorbei. Mehr dann im September, wenn es was zu vergleichen gibt. Und für alle, die bis hierher durchgehalten haben: ein Bild vom einem Schnabeltier, dem Namenspatron des Lieferdienstes.

* Im Supermarkt, wo man leicht den Blick schweifen lassen kann, gilt immer der Preis für die billigsten Äpfel, den billigsten Liter Milch. Bei Lieferservice mit seinem Riesenangebot, das man tatsächlich nicht nach Kilopreis sortieren kann, ist es jeweils ein Produkt von einer Marke, also zB immer die 1,5%-Milch von „Häuschen auf dem Lande“.

**Krumme Preise wie dieser liegen meist daran, dass hier viel mit Packungsgrößen getrickst wird. Bei der Milch zum Beispiel waren es im Original 59 Rubel für eine 930-Milliliter-Flasche.

So lange der Vorrat reicht

Hamsterkauf

„Wenn sie noch mehr wollen, kann ich Ihnen auch noch was holen“, sagt die Supermarkt-Mitarbeiterin. Von sich aus, mit einem Lächeln, was für Moskauer Verhältnisse ungewöhnlich ist. Aber gut, ich steh hier jetzt auch schon fünf Minuten an der Milchtheke und staple Brie und Ziegenfrischkäse in den Wagen, Halloumi und Mozzarella, Milch und Joghurt.

Vor drei Stunden hat Dmitri Medwedew verkündet, welche Lebensmittel aus den USA, der EU und einigen anderen Ländern ab sofort nicht mehr nach Russland eingeführt werden dürfen. Die Liste ist so umfassend, dass man besser aufzählt, was künftig von dort noch ins Land darf: Getränke und Babynahrung.

Für mich ist das lästig, aber letztlich ein Lifestyleproblem. Da ich meinen Joghurt gerne ohne Zuckerzusatz und Konservierungsstoffe habe, kam der bisher aus Lettland. Die Milch ist finnisch, der Käse italienisch, deutsch oder französisch – denn das sonstige Käseangebot kennt zwar viele Darreichungsformen (bis hin zur Käseschnur, gerne auch als Zopf), an Geschmacksrichtungen aber nur Fifty Shades of Salt.

Was noch? Russischen Tofu hab ich bisher nirgends gesehen, ärgerlich für einen Halbvegetarierhaushalt. Andererseits ist die Blockade von Fleischimporten da kein großes Problem, dann schon eher die von Fisch. Beim Rest – Obst und Gemüse, Mehl, Müsli, Nüsse – bleibt vor allem das Gefühl, dass künftig manches ein bisschen suspekter sein wird. „Bio“ ist hier kein großes Thema, und von der Lebensmittelaufsicht hört man vor allem, wenn Politiker westliche Firmen schikanieren wollen oder ein paar junge Sibirier meinen, sie seien Kleopatra.

Was für Europäer mit Europäergewohnheiten und Europäergehalt nur ein Verlust an Lebensqualität ist, trifft die Russen sehr viel härter. Die billigen polnischen Äpfel gibt es schon ein paar Tage nicht mehr, auch anderes Obst und Gemüse wird teurer werden, denn Russland ist weit davon entfernt, sich selbst versorgen zu können. Und wer das russische Durchschnittseinkommen von monatlich 23,000 Rubel (knapp 490 Euro) zur Verfügung hat – viele haben nicht mal das – , für den macht es einen Unterschied, ob die Tomaten 48 Rubel fürs Kilo kosten oder 68, die Birnen 95 oder 115.

KäseIn einem Land mit ohnenhin erschreckend niedriger Lebenserwartung heißt das: Für viele wird es schwieriger werden, sich gesund zu ernähren – und für einige, sich überhaupt zu ernähren. Über allzuviel öffentlichen Protest muss sich Putin trotzdem keine Gedanken machen. So ein gemeinsamer Feind, das eint – und die frisch annektierte Krim hat seiner Beliebtheit sicher auch nicht geschadet. Jede Umfrage liefert neue Rekordwerte.

„Und ab morgen gibt es das alles nicht mehr?“, frage ich die Supermarktfrau vorm Käseregal. „Wer sagt das?“, will sie wisen, und ihr Gesicht zeigt nur ganz kurz, dass sie diese Frage heute nicht zum ersten Mal hört. „Wir haben noch viel auf Lager“, sagt sie dann, „und das verkaufen wir auch.“

(Tafelbild via Chalkboard Generator)

Warten auf die Panzer

– Meinst Du, die kommen noch?
– Weiß nicht, noch ist ganz normaler Verkehr.
– Naja, irgendwann müssen sie ja kommen.
– Vielleicht fahren sie auch wo anders lang.
– Komm, wir gehen schlafen.
– Hm.
– Komm.
– Halbe Stunde noch.

Es ist der 8. Mai, kurz vor Mitternacht. Wir stehen am Wohnzimmerfenster, gucken über den dunklen Innenhof auf den Kutusowskij-Prospekt und warten auf die Panzer.

Angeblich ist unsere Straße manchmal die Zufahrtsstrecke am Abend vor der großen Parade. Unklar, warum die Möglichkeit, dass da gleich Militär durch die eigene Straße rollt, uns wachhält. Irgendwo zwischen gruselig und faszinierend muss der Grund liegen.

Letztlich gewinnt dann aber doch das Bett.

Wonach der Frühling in Moskau riecht

Dazu brauchen Anstreicher im Frühling Wasserflaschen.
Frühling ist, wenn der Bordstein frisch gestrichen wird.

Wenn in Deutschland von „Vorboten des Frühlings“ die Rede ist, dann sind damit gerne mal Schneeglöckchen gemeint, manchmal auch Zugvögel. In Moskau war der Vorbote ein Mann, der die Müllcontainer auf unserem Innenhof nach leeren Wasserflaschen durchsuchte. Nur die großen, fünf Liter, fast schon Kanister. Nicht fürs Pfand, sondern für die Farbe.

Frühling, das riecht hier in der Stadt nach Lösungsmitteln. Alles bekommt eine neue Schicht Lack: Zäune und Tore, Bordsteine, sogar die Gullideckel vor dem edlen Hotel Ukraina werden frisch versilbert.

Vorne, längs, gelb: der frisch gestrichene Blindenstreifen an der Ampel. Zum Vergleich hinten quer die alte, staubige Variante.
Vorne, längs, gelb: der frisch gestrichene Blindenstreifen an der Ampel. Zum Vergleich hinten quer die alte, staubige Variante.

Solche Streich-Aktionen sind oft gut besetzt – einmal waren es gleich sieben Leute am selben Zaun, fünf mit Pinseln und zwei Aufseher. Schließlich ist das hier Russland und Arbeitskraft so billig, dass an jeder Metro-Rolltreppe ein Rolltreppenwärter sitzt und vor der St. Andrew’s Church in der Innenstadt am Wochenende die Straßenpfosten von Hand abgewaschen werden.

Deshalb mischt sich in den Farbdunst auch noch der Geruch von Sägespänen: Cafés lassen sich jetzt ihre neuen Terrassen schreinern – die dann im Herbst wieder abgerissen werden. Kost‘ ja nichts, oder jedenfalls nicht viel.

Neu anstreichen auf Russisch, das heißt übrigens auch: Das Alte bleibt dran, da wird weder Dreck entfernt noch der aufgeplatzte Lack vom Vorjahr. Die neue Farbe kommt oben drauf, Jahr für Jahr, Millimeter für Millimeter. Mit ein bisschen Mühe könnte man also vermutlich ausrechnen, wann der Zaun vorm Haus kein Zaun mehr ist. Sondern eine Wand.

Liebe Waldorfschüler, wir müssen reden

Liebe Waldorfschüler, es ist Zeit. Zeit für eine Entschuldigung. Für jedes Mal, wenn ich über Gags mit „seinen Namen tanzen“ gelacht habe – oder sie selber gemacht. Für jedes Mal, wenn ich einen Tweet wie diesen hier retweetet habe.

Viele von euch lernen in der Schule Russisch. Damit, und mit dem Namentanzen, habt ihr im Moment mir gegenüber gleich einen doppelten Vorteil. Denn das mit den Vokabeln, das funktioniert hier auch nach vier Wochen eher so lala. Und weil ich nie gelernt habe, Wörter durch Tanz auszudrücken, bleibt nur die Pantomime.

Darum, als tätige Reue, hier eine kleine Liste der Wörter, die ich seit der Ankunft in Moskau in Gesten darstellen musste, weil es per Sprache noch nicht ging.

утюг
утюг
Bügeleisen/утюг. Wie in „Entschuldigung, gibt es hier auch ein Bügeleisen?“ Gesagt zur Putzfrau in der Übergangswohnung, Geste ungefähr: rechte Hand zur Faust geballt, auf Hüfthöhe vor dem Körper hin- und hergeschoben. „Utjuk?“, fragt sie. Nie gehört, aber schauen Sie mal, ich hab hier ein zerknautschtes Hemd als Requisite, wenn ich das hochhalte…“Da, Utjuk.“ Sie zeigt aufs Regal, direkt neben der Türe. Oh.

Glühbirne/лампочка. Wie in „Haben Sie noch eine Glühbirne? Die Lampe funktioniert nicht.“ Geste, klar: rechte Hand hält etwas hoch und dreht es in ein imaginäres Gewinde. Als Reaktion nur ein Nicken, aber kurz darauf klopft ein Mann an die Tür, und fünf Minuten später ist im Bad wieder Licht über dem Spiegel.

mitnehmen/брать с собой. Wie in „Kann ich das Sushi bitte mitnehmen?“. Geste anfangs wie oben beim Bügeleisen. Dann aber statt Hin- und Hergeschiebe die Hand anheben und nach rechts aus dem Bild schwenken. Freundliche Kellnerin nickt: „Takeaway? Of course.“

einpacken/завертывать.Wie in „Können Sie das bitte einpacken“, gesagt zur der Kassiererin bei Yves Rocher (beziehungsweise Ив Роше, und wirklich, wie die Russen französische Wörter übertragen ist eine ganz besondere Freude und einen separaten Post wert). Geste: beide Hände mit den Innenflächen zum gerade gekauften Geburtstagsgeschenk gedreht. Dann Hände daran entlang nach oben führen, mittig darüber zusammen, schließlich eine imaginäre Schleife binden. Das Ergebnis ist eine mäßig hübsche Papiertüte, aber gut.

Nächster Plan also: Lernen, was „hübsch einpacken“ heißt. Falls es einer weiß, gerne Bescheid sagen. Oder einfach vortanzen.

Ponys, Bücher, Kuscheltiere – ein Hausflur als Wohnzimmer

Seit wir in Moskau wohnen, teilen wir uns mit den Nachbarn ein Wohnzimmer. Anders kann man den Raum nicht nennen, in den man durch die Haustür kommt und durch den es ins Treppenhaus geht. „Hausflur“ ist zu prosaisch für die Kombination aus Pförtnerloge und ungebremstem Gestaltungswillen, der sich hier Bahn bricht.

Das ist zwar nur ein Flur, aber man kann es sich ja trotzdem nett machen – so ähnlich muss die Logik wohl gewesen sein. Dass Wohnblocks Pförtnerlogen oder, weniger edel, -kabuffs haben, ist so unüblich nicht. Aber in Sachen Ausstattung macht unserem Übergangs-Wohnhaus so schnell keiner was vor. Pflanzen (im weitesten Sinne), Tiere (aus Plüsch und Papier), Weltliteratur. Alles da.

Aber seht selbst – ich hab mal mit Thinglink versucht, dem gerecht zu werden. Wem das Foto zu fitzelig ist: Hier geht es zur großen Version.

Beijing Bikes

Rappelig vor viel zu spät getrunkenem Grüntee – einer der wenigen Gründe, an einem Sonntag um 7 Uhr durch die Hutongs zu schlendern. Zu der Zeit gehört die Gegend hier den Gassigehern und Nachttopf-Rausbringern. Vor den Türen parken die Zwei-, Drei- und Vierräder, mit denen die Pekinger tagsüber unterwegs sind. Mit Pedalen, Elektro- oder Benzinmotor, auf jeden Fall aber mit mehr als nur leichten Gebrauchsspuren und mit allerlei kreativem Gepimpe.

Und jetzt, beim Sichten und Hochladen der Fotos, ist er plötzlich da: der erste Abschiedsschmerz. Drei Wochen vor Abflug, genau so verfrüht wie das vorgezogene Heimweh, an einem schönen Dortmund-Abend, zwei Wochen vor dem Start ins Medienbotschafter-Programm.

Das Heimweh hat sich nach der Ankunft in Peking nicht wieder gemeldet. Das Gefühl von Abschied und der Wunsch, wiederzukommen nach China, war sicher nicht zum letzten Mal da.

 

Bergfest

Sich „um acht bei den Knoblauchschälern“ verabreden. Wissen, dass 50 Yuan für zehn Minuten Taxifahrt zu viel sind. Die Batterien im Dunkeln aus dem Roller montieren können. Endlich das chinesische Wort für „Sprite“ so aussprechen können, dass man auch eine Sprite bekommt. Mit einer Hand die Zahlen bis 10 zeigen können. Eine Atemmaske besitzen.

Nicht mehr darauf hoffen, dass einen die Leute auf dem U-Bahnsteig aussteigen lassen, ehe sie reindrängen. Wissen, dass sich alles, aber auch alles per Dreirad transportieren lässt. Zweimal täglich die Handtasche durchleuchten lassen. In jedem noch so kleinen Café Wifi erwarten. Seit sechs Wochen nicht ein Mal gekocht haben. Leute im Schlafanzug auf der Straße normal finden.

Ein kaltes Zimmer mit Luft aus der Klimaanlage heizen. Klopapier in einem Eimer neben der Toilette entsorgen. Feststellen, dass sich die chinesische Staatszensur und die Gema-Sperren bei Youtube nach demselben Prinzip umsurfen lassen. Vom Kellner aus dem Lieblingscafé abends in einem anderen Stadtteil erkannt und gegrüßt werden. Alleine ein Zugticket kaufen können. Ampeln als ausschließlich dekorative Elemente in der Stadtplanung begreifen.

Mit der Selbstverständlichkeit, mit der man zuhause „beim Italiener“ ist, am Telefon sagen: „Wir sind grad beim Uiguren, komm doch vorbei.“ Wissen, wo in der Nachbarschaft der nächste Schalke-Fan wohnt. Und wie man im Stadion den Schiedsrichter behutsam zu mehr Akkuratesse ermahnt.

Nicht mehr alles toll finden. Nicht mehr alles nervig finden.

Bergfest.