Russball, Folge 63: Endlich sponsert Gazprom mal was!

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Ja, sorry, kein Weihnachtsgeschenk von mir dieses Jahr – schließlich kommt der Newsletter erst jetzt, zwischen den Jahren. Dafür schenkt euch die folgende Anekdote vielleicht ein Lächeln. Und weil das allein noch nicht rechtfertigt, dass sie hier vorkommt, leitet sie auch ganz zauberhaft zu den Fußballthemen über.

In meinem ersten Jahr als Redakteurin bei der Moscow Times saßen wir morgens zu zweit im Büro, links die Frühdienst-Kollegin und daneben ich als Social-Media-Frau. Da twitterte uns plötzlich der Präsident von Estland, Toomas Hendrik Ilves, an. Nicht komplett unerhört – Berichterstattung aus Russland auf Englisch, das hatte ich bereits gelernt, bringt einem viele Leser mit blauem Twitter-Häkchen. Aber warum regte der Präsident an, wir sollten uns doch vielleicht diese eine Überschrift, die wir gerade veröffentlicht hatten, noch mal ansehen?

Ein Klick, ein Schock, ein Umdrehen zur Kollegin – was war passiert? Zunächst einmal eine Massenprügelei in einem russischen Krankenhaus. Der Frühdienst hatte die Meldung wie gewohnt in einem Google-Doc vorgeschrieben. Beim Umheben in unser Redaktionssystem allerdings hatte die Überschrift ihren ersten Buchstaben verloren. Wo also „Mass Brawl in Russian Hospital Prompts Firing of Government Officials hätte stehen sollen, stand nun exakt dasselbe – nur ohne das erste M. Ass brawl, ein Kampf der Ärsche – es ist die Sorte Fehler, bei der man sicher sein kann: Wenn sie einem passiert, dann wird es garantiert niemand Geringerem auffallen als einem Staatsoberhaupt.

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⚽  Eine andere Überschrift der Moscow Times hat mich diesen Monat in ihrer Wortspielfreude doch sehr gefreut: „GOAT on a Horse: Russian Football Star Arshavin Spotted Leaving Strip Club by Steed“. GOAT, klar, das ist der Greatest Of All Time: Als Russlands Premjer-Liga letztes Jahr ihren 25. Geburtstag feierte, ließ Sport Express abstimmen, und ja, Arschawin wurde zum besten Spieler aller Zeiten gewählt. (Wobei „aller Zeiten“ hier eben bedeutet: innerhalb von 25 Jahren russischem Erstligafußball.)

Ein GOAT/goat 🐐 auf einem Pferd, das ist schon recht hübsch getextet für folgenden Sachverhalt: Arschawin, der ja vor kurzem seine Spielerkarriere beendet hat, soll aus einem Club in St. Petersburg rausgeschwankt und dann auf einem Pferd in den Sonnenuntergang von dannen geritten sein. Das mit dem Pferd ist so ungewöhnlich nicht, im Petersburger wie im Moskauer Nachtleben begegnen einem immer mal wieder Leute, die mit Pferd am Zügel vor Kneipen warten, ob vielleicht jemand eine Runde drehen will. Arschawin, kann man weiter lesen, wurde offenbar sogar von der Polizei angehalten – er soll nicht genug für den Ritt bezahlt haben.

⚽  Je mehr ich über diese Arschawin-Geschichte nachdenke, desto lauter tuscheln in meinem Hinterkopf tausend russische Großmütter: „Nachts in St. Petersburg, im Dezember und dann auch noch hoch zu Ross – warum macht der Junge nicht die Jacke zu? Und wo ist seine Mütze?“ Sehr viel Babuschka-tauglicher ist da Denis Gluschakow, der hier passend zur Winterpause die vorbildliche Kleidung für einen russischen Fußballer präsentiert. Vielen Dank dafür.

⚽ Fünf Monate nach dem Ende der Fußball-Weltmeisterschaft hat das Meinungsforschungsinstitut Lewada 1600 Russen gefragt, was 2018 die wichtigsten Ereignisse in ihrem Land waren. Ergebnis: Die WM schafft es nicht unter die Top 3. Stattdessen sieht das Ranking so aus: 1. Die Eröffnung der Krim-Brücke über die Straße von Kertsch (ja, das ist die, zu der die Chefin von RT eine Begleit-Romcom schreiben durfte). 2. Die Rentenreform, die schön parallel zur WM durchgedrückt werden sollte, aber dann doch auffiel, zu starken Protesten führte und Wladimir Putin die Popularitätswerte ramponierte. 3. Die Präsidentschaftswahl im Frühjahr, als an vielen WM-Stadien noch gebaut wurde.

Mit Platz 4 war die Weltmeisterschaft den befragten Russen allerdings immer noch deutlich wichtiger als zahlreiche politische Themen, vom russischen Militäreinsatz in Syrien über den Krieg in der Ostukraine bis hin zu den Sanktionen von und gegen Russland. Interessant auch: Bei derselben Umfrage sollten die Teilnehmer sagen, ob das Jahr 2018 ihrer Meinung nach für Russland leichter, schwieriger oder genau so war wie das Vorjahr. Die sommerliche WM-Begeisterung scheint keine langfristigen Auswirkungen auf die Stimmung gehabt zu haben: Nur 11 Prozent stimmten für „leichter“, die Zahlen für „schwieriger“ (45) und „genau so“ (44) liegen deutlich höher. (Ach so, für Wladimir Putin gab es 2018 zwei Ereignisse, die „emotional am bedeutsamsten“ waren: seine Wiederwahl und die WM.)

⚽  Auf einen sehr viel größeren Datensatz als nur 1600 Befragte kann die russische Suchmaschine Yandex zurückgreifen. Sie hat die populärsten Suchbegriffe im Jahr 2018 veröffentlicht, es lohnt vor allem ein Blick uf die Menschen, nach denen am häufigsten gesucht wurde: Erstens Igor Akinfejew, Russlands Heldentorwart, drittens Artjom Dsjuba (mehr zu ihm gleich), außerdem Denis Tscheryschew auf der Acht und Lionel Messi auf der Neun. Was zeigt: Wer am Jahresende zurückblickt, mag die WM bereits ein wenig aus den Augen verloren haben. Beim Suchvolumen hingegen sind ihre Auswirkungen immer noch gut zu sehen.

⚽  „Wurde ja auch Zeit“ – „Na endlich“ – „Dazu gratulieren wir uns allen“. So klingen sie, die Kommentare unter dem Tweet, mit dem der russische Fußballverband am 19. Dezember verkündete: Witali Mutko gibt sein Amt als Verbandspräsident ab – und das, wo es doch zuletzt eher so ausgesehen hatte, als wollte er den Job wiederaufleben lassen.

Ruhen lässt er das Amt ja bereits seit rund einem Jahr, nachdem ihn das Internationale Olympische Komitee wegen seiner Rolle im russischen Staatsdoping lebenslang gesperrt hatte. Sorgen um seine Zukunft muss sich Mutko auch ohne Präsidententitel nicht machen: Er ist weiterhin Vize-Ministerpräsident mit Zuständigkeit für Bauangelegenheiten und regionale Entwicklung.

⚽ Weil es im Fußball ja noch nicht genug Dinge gibt, die von Gazprom gesponsert werden, heißt das Krestowski-Stadion in St. Petersburg seit ein paar Tagen „Gazprom-Arena“. Damit passt der Name endlich zum Verein: Zenit St. Petersburg, das dort seine Heimspiele austrägt, hat ja ebenfalls den Gazpromschriftzug auf den Spielertrikots – mit dem lateinischen Buchstaben G, der mich samt Flamme immer an ein aufgeschnapptes Klappfeuerzeug erinnert.

gazprom

⚽ Wenn jetzt zum Jahresende die Finanzchefs diverser russischer Fußballclubs vor ihren Exceltabellen sitzen, dürfte sich ein Lächeln auf das ein oder andere Gesicht stehlen – jedenfalls bei den Vereinen, die an europäischen Turnieren teilgenommen haben. Lokomotive Moskau zum Beispiel hat – so rechnet es Sport Express vor – in der Gruppenphase der Champions League knapp 18 Millionen Euro eingenommen. Nicht so schlecht, als Gruppenletzter.

Am lukrativsten war der Einsatz in der Champions League dem Bericht zufolge für ZSKA: 21,55 Millionen Euro, zusammengesetzt aus 15.25 Millionen fürs Erreichen der Gruppenphase, 900.000 für das Unentschieden gegen Viktoria Pilsen und 2,7 Millionen für die beiden Siege gegen Real Madrid. Die einstelligen Millionenerträge für Zenit, Krasnodar, Spartak und Ufa kann man hier nachlesen.

⚽  Allein für dieses Fitzelchen nutzloses Wissen hat es sich schon gelohnt, dem Twitter-Account „Russian Non-League Football“ zu folgen: In Wolgograd – auch das eine der WM-Städte des vergangenen Sommers – spielt demnach Russlands ältester aktiver Fußballer (gemeint ist vermutlich: ältester Spieler mit Profi-Karriere). Seit 2011 ist Sergej Nataluschko nicht nur Trainer des FK Dynamo Nikolajewsk. Der Mann, dessen Frisur entfernt an „Zurück in die Zukunft“ erinnert, stellt sich auch immer wieder selber auf:

⚽ Wer in diesen Tagen nach Leonid Slutsky googelt, der bekommt – immer vorausgesetzt, die Suche war auf Russisch – höchstwahrscheinlich mindestens einen Link zu Sport Express als Ergebnis, vielleicht auch mehrere. Denn das lange Interview (Teil 1, Teil 2) , das Igor Rabiner mit dem früheren russischen Nationaltrainer geführt hat, wollte seine Redaktion nicht nur einmal als Gesamtwerk veröffentlichen.

Stattdessen gibt es also reihenweise einzelne Aspekte noch mal als Single-Auskopplungen, jedes Mal ein separater Artikel: Dass ZSKA sein Titelfavorit ist. Dass er bei seinem aktuellen Job in Arnheim die russische Banja vermisst. Dass sein 13-jähriger Sohn ja jetzt rappt. Ist das jetzt noch eine SEO-Strategie oder schon Spam?

Interessant fand ich jedenfalls Slutskys Reaktion, als er darauf angesprochen wird, dass seine TV-Expertenkarriere während der WM plötzlich beendet war, nachdem er im russischen TV den Namen „Nawalny“ in den Mund nahm. Slutsky bleibt dabei: Nein, er sei nicht dafür abgestraft worden, es sei nie etwas anderes anderes geplant gewesen als ein Kurzeinsatz.

⚽ Bei der Auslosung zur Europa League Mitte des Monats ist ja unter anderem rausgekommen, dass der FK Krasnodar gegen Bayer Leverkusen spielen wird. Krasnodar ist keine kleine Nummer, in die Winterpause ist der Verein auf Platz zwei der Premjer-Liga gegangen. Zum Vergleich: Leverkusen überwintert auf Platz neun.

Gefreut hat mich die Auslosung vor allem, weil dann endlich mal ein Stadion Aufmerksamkeit bekommt, das bei der Weltmeisterschaft aus unerfindlichen Gründen vernachlässigt wurde. Ein Quasi-Kolosseum mit riesiger Videowand, einmal rund um den Innenraum. Das „schönste Stadion Russlands„? Vielleicht, wobei… Sotschi… jedenfalls: Hier ein Vorgeschmack.

⚽  Offenbar war ich nicht die einzige, die diesen Sommer im WM-Austragungsort Kasan an ein paar überaus nette, gastfreundliche Einheimische geraten ist. Meine haben mich zwar nicht aufs Trainingsgelände von Rubin Kasan mitgenommen, aber gut, ein bisschen Luft nach oben muss ja noch sein für den nächsten Besuch.

⚽ Diesen Sommer bei der WM war Artjom Dsjuba der Star der russischen Nationalmannschaft. Zum Jahresende blickt Russian Football News (in einer Detailtiefe, die wohl vor allem was für Hardcore-Fans ist) zurück auf eine Karriere, in der er sich mit jedem Vereins- und jedem Trainerwechsel wieder neu beweisen wurde. Selbstverständlich als Spitzenspieler anerkannt war er selten, auch seinen WM-Einsatz hat er unter anderem dem Verletzungspech seines Konkurrenten Aleksandr Kokorin zu verdanken. Mehr, auch zu Dsjubas vielen Spitznamen, hier: The Evolution Of Artem Dzyuba.

Auch die spanische Sportzeitung Marca würdigt Dsjuba: Sie hat ihn, „einen der großen Schützen der Weltmeisterschaft“, unter die Top 100 Fußballspieler des Jahres 2018 gewählt. Platz 97 mag jetzt keinen Top-Position sein, andererseits würdigt die Redaktion ausdrücklich Dsjubas Tor, das für Russland im Spiel gegen Spanien die Verlängerung und das anschließende Elfmeterschießen ermöglichte. Wie das für Spanien endete, das ist sicher nicht nur spanischen Fußballjournalisten bis heute präsent:

⚽ Was bringt es den rusischen Fußballclubs, dass ihre Spieler bei der WM dabei waren? Klar, mehr Erfahrung, vielleicht auch bei Gelegenheit eine höhere Ablöse, wenn jemand verkauft wird, der sich bei der Weltmeisterschaft profilieren konnte. Aber so lange müssen die Clubs gar nicht warten: Die FIFA zahlt ihnen scbon jetzt etwas: Aus den Einnahmen des Turnier gehen rund zehn Millioenn US-Dollar an russische Vereine. Das Spektrum reicht von 1.815.445 Dollar für Zenit bis runter zu Anschi Machatschkala, die immerhin noch 38.205 bekommen. Die ganze Liste, auch mit den Summen der deutschen Vereine, gibt es hier.

⚽  Das letzte Wort hat heute der FK Ural. Dort hat man gehört, dass José Mourinho – dem Kritiker ja gerne vorwerfen, er würde am liebsten den ganzen Mannschaftsbus vor dem eigenen Tor parken – bei Manchester United rausgeflogen ist. In Jekaterinburg hatten sie daraufhin eine Idee, und aus der Idee wurde ein Tweet:

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Das war’s für heute, die nächste Russball-Folge soll Ende Januar bei euch ins Postfach plumpsen. Jedenfalls stelle ich mir das so vor, auch wenn zur selben Zeit der Umzug nach Berlin ansteht. Raus aus Russland, aber weiter über den russischen Fußball schreiben – mal sehen, wie das wird. Eins steht jedenfalls fest: Die ersten beiden Monate des neues Jahres müssen wir noch komplett ohne russischen Erstligafußball auskommen.



 

Russball, Folge 25: So sieht er also aus, der russische WM-Freiwillige

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Worüber man so spricht, wenn man sich mit Freunden zum Pelmeni-Kochen trifft: Ist das jetzt toll, ein Konzert im Staatlichen Kremlpalast zu sehen, oder nicht? Geschichtlich interessanter Ort – ein Plus. Plätze verdammt weit weg von der Bühne – ein Minus. Und wie stehen wir eigentlich zu dem Gebäude selbst, das da nach dem Krieg als Klotz aus Beton und Glas zwischen die ganzen historisch-schönen Kirchen auf dem Kremlgelände gesetzt wurde?

Am Freitag könnt ihr euch selber ein Bild machen. Dann findet in dem Palast zwar kein Konzert statt, dafür aber die Auslosung der WM-Gruppen. Schließlich sind es nicht mal mehr 200 Tage bis zum Anpfiff des Eröffnungsspiels.

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⚽ Zum Start darum heute ein Video. RIA Novosti hat es vor einigen Jahren veröffentlicht, als der Staatliche Kremlpalast 50 Jahre alt wurde. Als repräsentativen Ort für die Parteitage der KPdSU hatte Chruschtschow ihn damals bauen lassen. Und wenn die Kommunisten gerade nicht tagten, fanden schon damals Ballettaufführungen oder Konzerte in dem Gebäude statt.

Inzwischen sind viele Pop-Größen dort aufgetreten – Christina Aguilera, Joe Cocker, Leonard Cohen – selbst Modern Talking. Im Februar kommen Kraftwerk, und das passt dann vielleicht ja sogar ganz gut zu diesem Fremdkörper, für den selbst RIA als staatliche Nachrichtenagentur keine allzu netten Worte übrig hatte: „Ein Stück Architektur, von Offiziellen in Auftrag gegeben, für das uns unsere Nachkommen wohl kaum danken werden.“

⚽ Dass die WM-Auslosung ansteht, führt übrigens auch dazu, dass viele Medien in den Tagen davor ihre grundsätzlichen Analysen veröffentlichen: Schafft es Russland über die Gruppenphase hinaus, auch wenn der Gastgeber laut FIFA-Rangliste die schwächste Mannschaft des Turniers ist? (Eher nicht.) Welche Städte haben die interessantesten Stadien? (Moskau, St. Petersburg und Jekaterinburg.) Wie wird die russische Wirtschaft dastehen, wenn das Turnier beginnt? (Vermutlich besser als heute.) Welche Probleme müssen die Organisatoren in den Griff bekommen? (Rassismus, Hooligans, Terrorgefahr.) Wie reagiert die FIFA auf Berichte über systematisches Doping im russischen Fußball? (So gut wie gar nicht.)

Die Bestandsaufnahme der FIFA klingt naturgemäß sehr viel optimistischer. Gianni Infantino hat sich extra vor der Auslosung interviewen lassen und verspricht: Partystimmung, gute Orga, moderne Stadien, außerdem strenges Vorgehen gegen Doping und Diskriminierung. Selbst der Videobeweis hat es ins Promo-Video geschafft – dabei hat der beim Confed-Cup, dem WM-Probelauf, ja oft gehakt.

So oder so: Der 1. Dezember ist ein guter Anlass, um sich einen Überblick zu verschaffen, wo Russland ein gutes halbes Jahr vor der Weltmeisterschaft steht. Zeit dafür wird sogar während der Auslosung am Freitag sein: Das Ganze soll zwar eine Stunde dauern, von 16 Uhr bis 17 Uhr deutscher Zeit. Das eigentliche Losverfahren, wer mit wem in einer Gruppe landet, dauert laut Plan aber nur eine gute halbe Stunde. Der Rest sind Reden, Interviews, Musik – da lohnt es sich, wenn man ein bisschen Lesefutter gebookmarkt hat.

⚽  Ratko Mladic wird wegen seiner Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen – das ist nach dem Urteil aus der vergangenen Woche klar. Das Massaker von Srebrenica mit rund 8000 Todesopfern ist der bekannteste, aber bei weitem nicht der einzige Fall, wegen dem Mladic vor Gericht stand.

Am Tag nach der Urteilsverkündung spielte Zenit St. Petersburg in der Europa League gegen Vardar Skopje, und einige Zenit-Fans waren sich nicht zu fein, ein Banner mit der Aufschrift „Ratko Mladich, ein serbischer Held“ im Stadion aufzuhängen. Unterstützung für einen Mann, der tausende Menschenleben auf dem Gewissen hat. Mehr zu den Verbindungen zwischen serbischen und russischen Neonazis im Fußball kann man hier nachlesen. Die UEFA ermittelt nun wegen Rassismus – gut möglich, dass Zenit sein nächstes Spiel im leeren Stadion bestreiten muss.

⚽ Wo wir gerade beim Thema Rassismus sind: Zeit Online hat einen interessanten Text darüber, wie russische Neonazis ihre deutschen Gesinnungsgenossen in verschiedenen Kampfsportarten trainieren. Lesenswert vor allem, wenn man bedenkt, dass sich Neonazi-Szene und Hooligan-Szene ja durchaus überlappen.

⚽ Eine große Ladung Sowjet-Nostalgie, dafür keine Spur von Maskottchen oder Matrjoschkas, auch der Pokal steht nur ganz klein unten in der Ecke: Gestern hat das russische Organisationskomitee das offizielle Plakat der Fußball-Weltmeisterschaft vorgestellt und es ist, wenn ihr mich fragt, richtig gut gelungen. Retro, lässig, einprägsam und ein Tribut an den legendären sowjetischen Torwart Lew Jaschin. Ich würd’s mir aufhängen.

Foto: FIFA
Foto: FIFA

⚽ Was auch zur WM-Vorbereitung gehört: Die Ausbildung der ganzen Freiwilligen. Viele von ihnen sind Studenten, an den Unis in den Austragungsorten wurde mit viel Aufwand um Helfer geworben. Und auch dort, wo keine Spiele stattfinden, sind während der Weltmeisterschaft Freiwillige im Einsatz. 120 von ihnen werden zum Beispiel gerade in Krasnodar ausgebildet. Dort, ein paar Stunden entfernt von Sotschi, sollen einige Nationalmannschaften während des Turniers ihre Trainingsanlagen haben.

Wie diese Ausbildung der Helfer aussieht, kann man im Moment ganz gut bei Instagram verfolgen. So ganz erlaubt ist das vermutlich nicht, trotzdem posten immer wieder Teilnehmer ein paar Fotos aus ihren Schulungen. So wissen wir dank Tatjana aus Samara nun also auch, wie er so aussieht, der typische Волонтёр (Wolontjor): Lächelnd, natürlich, den Ausweis an einem Band um den Hals. In der einen Hand eine Landkarte, am anderen Handgelenk eine Uhr, damit er auch pünktlich ist. Dann noch das klingelnde Handy in der Hosentasche, den FIFA-Schriftzug auf dem Bauch, und auf der Brust irgendetwas, das der Ausbilder mit „Anti-Stress“ beschriftet hat.

То чувство, когда ты в волонтёрах и рассказывают тебе, а не ты кому-то пытаешься донести нужную информацию 😅 Алексей Мокеев сегодня провёл активный урок по городской инфраструктуре и достопримечательностям для условной группы "туристов" из Саранска 😊 . Наша команда оказалась в лидерах среди 4-х команд. Оказалось не так легко отгадать место по фотографии или составить полный маршрут от пункта А к пункту Б, по карточкам с адресами улиц) Надо заняться изучением туристического маршрута #ЧМ2018 . До урока нам рассказали много исторических нюансов о Куйбышеве и Самаре! Кто бы мог подумать, что Самара была столицей России до 1991 года 😎 . . . #СамараЖдетЧМ2018 #ЧМ2018Самара #ВолонтерыЧМ2018 #ВолонтерыСамары #ДобровольцыРоссии #МолодежьСамары #Молодежь63

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Ein Bild weiter geblättert, und der Freiwillige auf dem Plakat fängt auch noch an zu sprechen: „вежл(иво)“ und
„доброжел(ательно)“ steht dann in seiner Sprechblase, „höflich und freundlich“. Nur, was er denkt, das hat Tatjana leider nicht fotografiert.

⚽ So emsig wie bei der Ausbildung der WM-Freiwilligen in Samara scheinen sie beim Stadionbau dort übrigens nicht zu sein: Kein Stadion liege mit den Bauarbeiten so weit zurück wie das in Samara, berichtet Sport Express. Einer der Verantwortlichen lässt sich aber zitieren, man werde dennoch auch dort rechtzeitig fertig werden.

Das wirft allerdings die Frage auf: Um welchen Preis? Human Rights Watch hat gerade erst wieder darauf hingewiesen, dass die FIFA zu Menschenrechtsthemen wie der Sicherheit von Stadion-Bauarbeitern zwar gerne Papiere veröffentliche, aber nicht wirklich etwas unternehme. Wenn nun in Samara, wo die Temperaturen aller Wahrscheinlichkeit erst Ende März wieder über den Nullpunkt steigen werden, der Zeitdruck noch steigt, kann das für die Bauarbeiter dort nichts Gutes heißen.

⚽  43 Champions-League-Spiele lang musste sich Igor Akinfejew die Sprüche anhören, die Witze, die Kritik. So lange dauerte die Pechsträhne des ZSKA-Torwarts, während der er in jedem dieser Spiele mindestens ein Tor zuließ.

Dann kam, heute vor einer Woche, das Spiel gegen Benfica Lissabon – ein klares, sauberes 2:0 für die Moskauer. Aufatmen bei Akinfejew – nur die Fans müssen sich jetzt wohl ein paar neue Pointen einfallen lassen.

⚽ Eventuell habe ich an dieser Stelle schon ein- bis zwanzigmal erwähnt, wie gut die Öffentlichkeitsarbeit von Zenit St. Petersburg ist, vor allem mit Blick auf soziale Netzwerke und das Internet überhaupt. Insofern ist das hier nicht überraschend, aber trotzdem saucool: Bei Giphy gibt es jetzt eine eigene, verifizierte Seite mit Zenit-GIFs.

Die Logik dahinter ist simpel und überzeugend: GIFs sind populär, benutzen werden die Fans sie also sowieso. Also, dann doch besser die, die wir ihnen liefern, als andere, auf denen wir vielleicht nicht so gut aussehen. Aktuell schafft Zenit so mit gerade mal 51 hochgeladenen GIFs schon fast 200.000 Abrufe.

via GIPHY

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Zum Schluss noch zwei Folge-Tipps für diejenigen von euch, die bei Twitter sind: Benedikt hat nicht nur geholfen, den beschrifteten WM-Helfer zu entziffern, er spricht auch fließend Russisch und hat Ahnung von Fußball. Und meine früheren Kollegen bei der Moscow Times haben jetzt auch einen eigenen Account für Nachrichten und Service rund um die Fußball-WM – auf Englisch, also auch ohne Russisch-Kenntnisse nützlich.

Ach so, und wenn ihr bei Twitter mitverfolgen wollt, was das russischen Fernsehen aus der WM-Auslosung am Freitag macht: Ich versuche mal, das live zu twittern – zuschauen und mitreden könnt ihr dann hier. Bis dann!



 

Russball, Folge 18: Wo Englands Elf bei der Fußball-WM wohnen wird

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Die 18. Russball-Folge schon, endlich volljährig! Okay, andere haben noch sehr viel wichtigere Zahlen zu feiern. Russlands Präsident Putin zum Beispiel ist am Wochenende 65 geworden – auf dem Gabentisch lag unter anderem italienische Bettwäsche. Neid!

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⚽  Keine 250 Tage mehr bis zum Anpfiff der Fußball-Weltmeisterschaft hier in Russland. Nach und nach wird klarer, welche Mannschaften teilnehmen dürfen – auch Deutschland hat sich qualifiziert, ihr habt das eventuell mitbekommen. „Fast im Trainingsmodus erspielten sich die Deutschen den ersten (Gruppen)Platz“, schreibt Championat. „Erinnern sie sich, wie Deutschland 2014 die WM gewann?“, fragt Futbol und ergänzt: Seitdem habe „das deutsche Fließband die nächste Ladung Spitzenspieler geliefert, die für fünf Nationalmannschaften ausreichen würden.“

Sport Express sieht deshalb ein Luxusproblem auf den Bundestrainer zukommen: „Im Frühjahr 2018 wird Löw ein großes Problem haben: Wie wählt man aus all den besten Spielern Deutschlands die 23 für den WM-Kader aus?“ Einer wird garantiert dabei sein, da sind sich Russlands Sportjournalisten sicher: Joshua Kimmich, der „neue Lahm“. Kimmich, der 2017 als einziger bei allen Länderspielen eingesetzt wurde. Kimmich, „der neue Star des ‚Bundesteams‘.“

⚽ Auch England ist dabei bei der WM, und im Gegensatz zu Deutschland ist auch schon klar, wo die Mannschaft wohnen wird:

Nein, okay, nicht in diesem kleinen Erdloch, aber quasi nebenan. ForRestMix heißt das Hotel in Repino bei St. Petersburg, eher nett und adrett als eine Luxusabsteige. Blümchenlampenschirme. Zierkissen. Beigetöne. „Ein Kontrast zu den opulenten Unterkünften der Vergangenheit“, formuliert der Guardian diplomatisch.

Bei Tripadvisor kommen zwar im Schnitt 4,5 Punkte zusammen, einige Gäste teilen diese Einschätzung jedoch nicht: „furchtbar stickig“ – „überteuert“ – „riecht immer noch wie ein Sanatorium aus Sowjetzeiten“. Die Journalistin Amie Ferris-Rotman, von der auch der Tweet oben ist, hat sich bei den Anwohnern umgehört und festgestellt: Besonders scharf auf das englische Team sind die auch nicht. Immerhin, es gibt einen Nachtclub, sogar mit Themenabend. „Schuluniform-Party“, anyone?

⚽ Wer sich nicht qualifiziert hat, ist die Ukraine. Da hatte es vor dem entscheidenden Spiel gegen Kroatien in russischen Medien durchaus Spekulationen gegeben: „Wird die Ukraine verlieren, um nicht nach Russland zu müssen“, hatte beispielsweise Argumenty i Fakty gefragt. Die Annexion der Krim, der Konflikt in der Ostukraine – das alles ist im Alltag präsent und hat natürlich auch Auswirkungen auf Großveranstaltungen, wie zuletzt beim Eurovision Song Contest.

Selbst die Flugverbindungen von Kiew nach Moskau sind seit Jahren eingestellt. Meldungen, welche ukrainischen Fans, Funktionäre, vielleicht gar Spieler bei der Einreise Probleme hatten, wird es rund um dieses Turnier nun also nicht geben. Die Ukraine wiederum muss nicht entscheiden, ob sie eine WM auf russischem Boden boykottiert – was Konsequenzen von Seiten der FIFA hätte haben können.

⚽ Zenit St. Petersburg trauert um seinen Sportdirektor: Konstantin Sarsania galt als der Mann hinter dem Erfolg des Clubs in den vergangenen Jahren. Am vergangenen Freitag fühlte er sich unwohl und wurde ins Krankenhaus gebracht, wo er am Tag darauf starb, offenbar an einer Thrombose. Wie sehr er Zenit geprägt hat, kann man bei Russian Football News im Detail nachlesen. Sarsania wurde 49 Jahre alt.

⚽ Am Montag war ich morgens im Hotel Baltschug-Kempinsky, was exakt so nobel ist, wie es klingt. Die Moscow Times, mein früherer Arbeitgeber, hat ihre Jubiläumsausgabe vorgestellt. Gegründet hat die Zeitung vor 25 Jahren ein Holländer, Derk Sauer, der seit kurzem auch wieder der Besitzer ist. Die Botschafterin der Niederlande war also da, sprach am Rande auch über Fußball und die theoretisch ja noch total vorhandene Chance, dass ihr Team sich noch qualifiziert – wir waren alle zu taktvoll, um zu widersprechen.

Interessant war auch noch eine Info am Rande: Eigentlich gibt es die Moscow Times inzwischen nur noch online, wenn nicht gerade Jubiläum ist. Während der Fußball-Weltmeisterschaft nächsten Sommer, bei der Moskau ja einer der Austragungsorte ist, wird es sie allerdings kurzfristig wieder als Tageszeitung geben. Nützlich für diejenigen Fans, die kein Russisch können, aber doch zumindest Englisch – also schon mal merken.

⚽ Eine neue Folge unserer beliebten Serie „Ronaldinho hat keine Prinzipien, dafür aber Grund zum Lächeln, wenn er am Kontoauszugdrucker steht“: Zu Putins oben schon erwähntem Geburtstag gab es in Grosny ein Fußballspiel, angeleiert vom dortigen Gewaltherrscher, Ramsan Kadyrow. Ex-Fußballprofis aus Russland und Italien sollten bei dem tschetschenischen Match gegeneinander antreten, Ronaldinho wurde also als Teilzeitrusse durchgewunken. Auch Kadyrow hatte sich aufgestellt und alle, die wussten, was gut für sie ist, bildeten brav eine Rettungsgasse von ihm bis zum Tor.

Dass Ronaldinho sich gerne mal vor Kadyrows Karren spannen lässt, ist ja nichts Neues – siehe Russball-Folge 6. Neu auf der „Sind vor nix fies“-Liste begrüßen wir außerdem: Salvatore Schillaci, Fabrizio Ravanelli und Marco Delvecchio.

⚽ Erinnert ihr euch an diesen Fußballkommentator, der ewig bei 1Live in den O-Ton-Charts lief? „Der steht nicht im Abseits! Du blinder Linienrichter! Du Blindmann, verdammt noch mal! Das geht doch auf keine grüne Kuhhaut…“ Boris Rupert war das damals, 2001 bei Borussia Dortmund (danke an Birthe fürs schnelle Finden!), und endlich, endlich gibt es nun ein würdiges russisches Gegenstück.

Ein nicht gegebener Elfmeter, ein nicht gepfiffenes Handspiel, und der Livestream-Kommentator und Pressesprecher von Torpedo Wladimir war nicht mehr zu halten: „Elfmeter! Was machst du denn? Das ist ein Elfmeter! Eine Schande für den russischen Schiedsrichterverband – da könnt ihr mich ruhig für bestrafen! Hand! (…) Eine Schande für den russischen Fußball!“ Und dann, der wütende Abgang: „Schauen Sie Fußball ohne Kommentator! Auf Wiedersehen!“. Der Rest ist Schweigen. Zum Nachhören gibt es den Rant hier.

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Während dieser Blogpost entstanden ist, hat Russland 1:1 gegen den Iran gespielt und Katalonien sich wider Erwarten nicht für unabhängig erklärt. Damit liegt dann auch die clevere Idee, dem FC Barcelona ein neues Zuhause in der russischen Liga zu finden, erst mal auf Eis. Dabei hatte der FK Jenissei Krasnojarsk sich das doch alles schon so schön überlegt. Wenn’s doch noch was wird, erfahrt ihr das nächste Woche hier – bis dann!



 

Wenn dein Gesicht einen Nebenjob in Russland hat

Geh nach Russland, haben sie gesagt. Du wirst viel improvisieren müssen, haben sie gesagt. Vielleicht machst du plötzlich beruflich ganz was anderes, haben sie gesagt.

Fast vier Jahre später bin ich immer noch langweilige Journalistin, dafür aber umgeben von Leuten, die hier in Russland tatsächlich komplett andere Berufe ausüben. Und, noch besser: Sie tun das, ohne davon auch nur irgendeine Ahnung zu haben. Bis ihnen plötzlich ein Foto in die Hände oder zumindest in die Timeline fällt. So ist es am Wochenende offenbar Zach Braff ergangen.

Die meisten kennen ihn als Schauspieler aus der Fernsehserie „Scrubs“, manchmal führt er auch Regie oder schreibt Drehbücher. Und nun ist Braff also auch noch Computerexperte: „Ich repariere Computer und Notebooks und richte sie ein,“ verspricht der Aushang, gefolgt von einer maximalen Schlagwortdichte an allem, was irgendwie mit Rechnern zu tun hat: WLAN, Internet, Viren, Windows, Appple, soziale Netzwerke, VPN, Odnoklassniki, VKontakte. Ja gut, da überschneidet sich jetzt einiges, aber hey – Zach, der hier noch deutlich jugendlicher aussieht, macht dir dafür einen guten Preis und gibt auf alles Garantie, versprochen!

Apropos Windows: Es ist noch keine drei Monate her, da machte diese Anzeige hier die Runde. Tim Erikson, Experte für Fenster, sah zwar verdächtig wie SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz aus. Aber nein, die inserierende Firma beharrte darauf, Erikson ist ein echter, schwedischer Experte. Als irgendwann zu viele Redaktionen nachfragten, kam als Nachschub, man arbeite inzwischen nicht mehr mit Erikson-Schulz zusammen. Schade, schade, schade.

Wenn dann der Computer virenfrei läuft und die Fenster keine kalte Luft mehr hineinlassen, fehlt zum Wohlfühlen nur noch ein bisschen Gesellschaft. Die wurde, als es die Moscow Times noch auf Papier gab, regelmäßig dort beworben, und jedes Mal haben wir uns als Redaktion in Grund und Boden geschämt.

Weniger für die angepriesenen Dienstleistungen selber, sondern mehr für die so offensichtlich gefälschten Fotos von Mila (Jessica Alba), Kristina (Candice Swanepoel), Julia (Romee Strijd) und den zwei Frauen, die hier offenbar beide Maria heißen, tatsächlich aber dann doch eher Adriana Lima und Alessandra Ambrosio.

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Immerhin erschien dann ja irgendwann der kleine Hinweis rechts neben den Anzeigen – so, wie wenn auf der Hochglanzverpackung einer Tütensuppe „Serviervorschlag“ steht. Und wir merken uns: „Geh nach Russland“ ist komplett unnötig. Sei prominent genug, und dein Gesicht macht sich hier ganz alleine selbstständig.

Drei Jahre Moscow Times – sowas wie ein Fazit

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Dass es hier in den letzten Wochen ruhig war, lag daran, dass ich ein bisschen was sortieren musste – erst im Kopf, dann im echten Leben. Fünf Jahre Moskau heißt der Plan, die bisherigen drei habe ich bei der Moscow Times gearbeitet. So einen Abschnitt beendet man nicht ohne Nachdenken. Aber irgendwo zwischen „gehen, wenn’s am schönsten ist“ und „gehen, solange es noch schön ist“ ist der Zeitpunkt jetzt dann doch gekommen: Ende Januar höre ich auf.

Als ich bei der Moscow Times anfing, hatte Russland gerade die Krim annektiert, Boris Nemtsow lebte noch und der Krieg in Syrien war, von Russland aus gesehen, ganz weit weg. Was habe ich seitdem nicht alles gelernt in dieser kleinen, durch und durch unwahrscheinlichen Redaktion. Allem voran, wie man (komplett ohne Budget) einen Social-Media-Auftritt aufbaut, der rund um die Welt und rund um die Uhr funktioniert. Welche Posts für die russischen, für die amerikanischen, für die indischen Leser? Welcher Dreh, welche Uhrzeit? Anfang 2014 hatte die MT keine 50.000 Facebook-Fans, nach einem Jahr waren es schon 500.000. Steiles Wachstum, hohe Motivation.

Überhaupt, die Reichweite, die man mit englischsprachigen Inhalten so erreicht. Das Interesse an Russland wächst und wächst; wer kein Russisch kann und nicht auf Staatsmedien angewiesen sein will, der liest nun einmal die Moscow Times. Solch eine internationale, politisch interessierte Leserschaft zu haben, das ist meistens faszinierend. Nur ganz gelegentlich lässt es einen in Sekundenbruchteilen erblassen. Wie an dem einen Morgen, als dem Artikel über eine Massenschlägerei in einem Krankenhaus versehentlich das „M“ am Anfang der Überschrift fehlte. Ach guck, wie nett, da twittert ein Leser, ob wir uns die Zeile mit dem „Ass Brawl“ nicht noch mal ansehen wollen. Ach guck, es ist der Präsident von Estland.

Ich habe gelernt, woran man Kreml-Trolle bei Facebook erkennt (und wie viel Arbeit es ist, das dann auch zu überprüfen und sie zu blocken). Ich habe von den Englisch-Muttersprachlern im Team so zauberhafte Wendungen gelernt wie „He’s as useful as a chocolate hairdryer“ und, in harten Zeiten, den extrem einleuchtenden Begriff des „seagull management“. Ich habe den Unterschied gelernt zwischen dem, was in der russischen Verfassung drinsteht, und dem, was sie im Alltag auch tatsächlich gewährleistet.

Ich habe gelernt, nicht öfter als dreimal pro Woche zu fragen, ob wir an dem Bild, das wir da gerade verwenden, denn wohl auch die Rechte haben. Ich habe so, so viel über die russische Sprache gelernt. Ich habe gelernt, dass der große Mailverteiler (alle Kollegen nicht nur bei der Moscow Times, sondern im ganzen Gebäude, mit Vedomosti, Cosmopolitan usw.) dazu da ist, darüber informiert zu werden, wenn es besonders günstigen Honig oder besonders günstigen Kaviar zu kaufen gibt („Hast du den Preis für Kaviar gesehen? Bei Reuters kriegen sie ihn deutlich billiger, hat X erzählt.“)

Ich habe gelernt, Rosselkhoznadzor, Roskomnadzor und Rostechnadzor auseinander zu halten. Ich habe gelernt, dass die Standard-Anrede im Newsroom „Dude“ ist und „Katrin“ von all den anderen Dudes konsequent auf der zweiten Silbe betont wird. Ich habe gelernt, wie wichtig in einem autoritären Staat mit permanentem Druck auf die wenigen unabhängigen Medien ein Chefredakteur mit Rückgrat ist – einer, der nicht sagt „das können wir nicht schreiben“, sondern nur: „Wenn du das nächste Mal sowas schreibst, sag mir vorher Bescheid, dann bin ich vorbereitet.“ Ich habe gelernt, dass man jedes Live-Blog eines Putin-Auftritts mit viel Luft planen muss. Beginn: definitiv verspätet. Ende: komplett unplanbar.

Die Moscow Times ist ein Durchlauferhitzer. Die Mehrheit meiner Kollegen ist deutlich jünger, für sie ist es einer der ersten Jobs nach der Uni, manchmal der erste überhaupt. Mit, zwei, drei Jahren MT im Lebenslauf stehen einem dann viele Türen offen: Neulich habe ich eine Twitterliste gebastelt mit Ex-MT-Leuten, und wenn man sieht, wo die inzwischen überall sind, von New York Times bis Buzz Feed, von AFP bis Washington Post, dann ist das schon ziemlich beeindruckend – und ich bin stolz, mich da einreihen zu dürfen.

Welches neue Medium in dieser Twitterliste bald hinter meinem Namen steht, muss sich finden. Ich habe nach drei Jahren mit drei Chefredakteuren erst mal nur ganz grundsätzlich beschlossen, dass es Zeit für etwas Neues ist. Neue Kollegen, so großartig die aktuellen auch sind. Neue Projekte, die aber hoffentlich weiterhin mit Journalismus und Russland zu tun haben. Ein bisschen weiß ich schon, in welche Richtung es gehen soll, anderes muss sich finden. Zwei Jahre in Moskau bleiben noch.

Twitter, Facebook, Instagram – jeder nur einen Wunsch!

In einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, gab es halt auch noch kein Internet. Heute gibt es das Web, es gibt dort Tools ohne Ende, viele davon kostenlos – und es gibt Wünsche, die daraus entstehen. Klar, Dienste wie Google, Facebook oder YouTube sind deshalb kostenlos, weil sie aus uns Nutzern Geld machen können.

Niemand zwingt uns dazu, diese Dienste zu nutzen – außer deren Erfolg, der Sog der anderen Nutzer. Kann also sein, dass sich der kommende Post ein bisschen liest wie der Blick ins Maul eines geschenkten Gauls. Bei kostenlosen Angeboten auch noch Ansprüche entwickeln? Echt jetzt?

Ja, echt jetzt. Zumindest für diejenigen, mit denen man sich als Social-Media-Mensch jeden Tag auseinandersetzt, muss das jetzt mal sein. Ich fass mich auch kurz – nur ein Wunsch pro Tool.

Facebook

Facebook muss man nicht erklären, seine „Pages“-App aber vielleicht doch. Die ist so eine Art dienstlicher Facebook-Zugang für Leute, die dort Seiten verwalten. Der Arbeitgeber kann ein Fußballclub sein, ein Waschmittelhersteller, eine Partei oder ein Promi – oder eben, wie bei mir, ein Medienunternehmen. Uns alle verbindet, dass wir nicht nur jetzt gerade mal einen spontanen Post raushauen, sondern sie mit „Pages“ auch zur späteren Veröffentlichung planen. Bei der Moscow Times gilt das etwa für Artikel, die dann gepostet werden sollen, wenn ich schlafe – für die Leser in anderen Zeitzonen. Es gilt auch für Regularien wie unser tägliches Kalenderblatt, das Guten-Morgen-Foto oder das Literaturzitat.

Das Problem: Nutzt man Facebook im Browser, werden einem die vorgeplanten Beiträge schlicht chronologisch angezeigt – zuoberst der, der als nächster erscheint. Wer scrollt, kommt vom Freitag zum Samstag zum Sonntag, vom Juni zum Juli zum August. In der „Pages“-App dagegen sieht das so aus:

Facebook Pages App kscheib

Nach dem 17. August kommt also der 18. Juli, dann der 13., dann, oh, der 14, das ist ja sogar ausnahmsweise mal sinnvoll. Wo gucke ich, wenn ich heute, am 30. Juni, wissen will, ob ich schon ein Literaturzitat für den 1. Juli eingeplant habe? Ich hab spaßeshalber mal immer weiter nach unten gescrollt – und brauchte sechs komplette Bildschirmlängen bis der 1. Juli erschien. Zwischen dem 2. und dem 5. hatte er sich versteckt, der Schelm. Im Moment hoffe ich jedenfalls bei jedem neuen App-Update, dass Facebook diesen Bug endlich behebt.

Instagram

Wenn ihr glaubt, dass Instagram da, wo ihr euch gerade aufhaltet, eine große Nummer ist, dann empfehle ich eine Reise Richtung Osten. You ain’t seen big until you’ve seen Instagram-in-Russia big. Von den 500 Millionen Instagram-Nutzern leben gefühlte 480 Millionen in Russland, jede noch so kleine Kneipe hat hier ihren eigenen Account und fordert Dich auf, das Bier doch bitte dort mit entsprechendem Hashtag zu posten. Fällt mir eine russische Freundin ein, die nicht bei Instagram ist? Ja, aber erst nach langem Überlegen.

Für die Redaktionsarbeit macht das Instagram ideal, um den Alltag in Russland abzubilden. Den Sexismus und den Backlash dagegen. Die tagtäglichen Absurditäten. Die unersetzbare, wunderschöne, brechend volle Metro. Das alles wäre allerdings deutlich einfacher zu zeigen, wenn man nach mehr als immer nur einem einzelnen Hashtag suchen könnte.

#Moskau streut zu weit, #Metro auch, #Moskauermetro (in allen Fällen sind natürlich die russischen, kyrillisch geschriebenen Hashtags gemeint) benutzen lange nicht so viele Menschen. Bei Twitter kann man problemlos eine &-Suche machen, bei Instagram muss man sich mit Krücken wie Mixagram behelfen. Vielleicht könnte Instagram das ja einfach kaufen und integrieren?

Storify

Mit Storify kann man selbstgeschriebenen Text und Social-Media-Posts von verschiedenen Plattformen leichter zu einer Geschichte kombinieren, als das mit vielen Redaktionssystemen geht. Zuletzt haben wir es bei der MT zum Beispiel benutzt, als Russlands Premierminister mit einem ungeschickten Zitat zu Rentenerhöhungen für allerlei Memes sorgte.

Storify ist praktisch, intuitiv, sieht gut aus – und hängt sich bei einem von fünf Artikeln so katastrophal auf, dass man nicht einmal mehr speichern kann. Egal, ob in Russland oder in Deutschland, in der Redaktion oder vom Privatrechner, mit VPN oder ohne – die Verbindung wackelt. Die freundliche, aber hilflose Support-Truppe arbeitet nach US-Uhrzeiten, meldet sich also erst zurück, wenn das Problem längst auf die übliche Art gelöst ist: den Text rauskopieren, die Links zu allen Posts in separaten Tabs öffnen, ein neues Storify beginnen – und darin dann wieder von null anfangen mit dem Zusammenbauen.

Tweetdeck

Das Problem gibt es, so lange ich Tweetdeck benutze, vor über einem Jahr hab ich mir schon mal den Frust darüber vom Hals gebloggt. Geändert hat sich nichts: Wer hier einen Tweet mit Bild zur späteren Veröffentlichung plant und ihn später noch mal ändern will (einen Tippfehler weg, einen passenderen Hashtag hinzu), dem bleibt weiterhin nur: löschen und von vorne anfangen. Denn bearbeiten lassen sich nur Tweets ohne Bild.

Ein ergiebiger Bug, über den man sich jede Woche ärgern kann.

Twitter

Nicht alle Wünsche muss man detailliert erklären, der hier ist ganz einfach: Twitter, können wir uns einfach drauf einigen, dass ich keine falschen Hinweise auf neue Nutzer-Interaktionen mehr angezeigt bekomme? Ich meine sowas hier: Oh, guck, eine neue Benachrichtigung von Twitter!

twitter neu 1

Wie interessant, was mag es sein?twitter neu 2

Wieder nur ein neuer Hinweis auf etwas Altes. Meh. twitter neu 3

Also, Twitter: Kein Phantom-Alarm mehr, bei dem sich der neue Like und Retweet dann doch nur als neue Benachrichtung über einen alten entpuppt, ja? Danke.

Falls jemand mit denselben Baustellen zu kämpfen hat oder – noch besser – einen Weg gefunden hat, sie zu umschiffen: Ich freue mich über Tipps, in den Kommentaren oder bei Twitter.

Der Haken an Facebooks neuem Karussell

Seit Anfang des Monats ist immer mal wieder die Rede von einem neuen Look, der Facebookseiten für ihre Post demnächst zur Verfügung stehen soll. Bei AdWeek bzw SocialTimes durfte dieses Karussell-Format schon mal jemand ausprobieren, Allfacebook.de hat versucht, es mit einem Hack nachzubauen.

Für die Facebook-Seite der Moscow-Times wurde mir das neue Format am 1. Oktober zum ersten Mal angeboten – am World Ballet Day. Ballett ist in Russland eine große Sache, wir haben dazu einiges an Texten und Fotos. Der erste Post im neuen Design sah also so aus* – verschiedene Bilder, die sich durchblättern lassen und alle zum selben Link auf der Seite führen.:

On #WorldBalletDay, a look at the hard work involved in becoming a ballerina.

Posted by The Moscow Times on Thursday, October 1, 2015

Wie man als Admin solch einen Post anlegt, habe ich heute mal dokumentiert. Gestern ist „Круг Света“ zuende gegangen, der „Lichterkreis“, bei dem Bilder und Animationen auf berühmte Moskauer Gebäude projiziert werden, Leuchtskulpturen die Teiche schmücken und ständig irgendwo Feuerwerk ist. Ein klassisches Fotothema eben, also rein ins Status-Feld mit dem Link.

facebook karussell moscow times 1

Wie man sieht, zieht sich Facebook drei Motive von selbst, nach welchen Kriterien auch immer. Von zehn Motiven der Galerie hat es sich hier die Nummern zwei, vier und neun ausgesucht. Über die kleinen Symbole unter dem Post kann die Haken entfernen und so die angezeigten Fotos ändern, hier lassen sich auch neue Bilder hinzufügen. Die Obergrenze liegt bei fünf Motiven, ein kleiner Scrollbalken erleichtert die Auswahl.

facebook karussell moscow times 2

Noch kurz antexten, posten und voilà:

Moscow's "Circle of Lights" festival may be over, but these stunning photos still shine bright.

Posted by The Moscow Times on Monday, October 5, 2015

Kurzer Anreißer, fünf Bilder mit je demselben Text, außerdem fügt Facebook selbst als sechstes Motiv ein Logo der Seite hinzu. Eine schöne Ansicht, dieser Karussell-Post, die sich bestimmt nicht nur für Fotogalerien eignet. Auch Reisereportagen, Produktbesprechungen (hallo, iPhone!) und andere bildlastige Formate kann man sich so gut vorstellen. Wie schön, wenn es das Karussell schon gegeben hätte, als diese Analyse zur Ost-Ukraine entstand!

Einen Haken allerdings hat das neue Format, und der ist gar nicht mal so klein. Denn Facebook geht, zumindest im Moment, davon aus, dass nun jeder neue Eintrag ein Karussell werden soll. Plant man also einen nachrichtlichen Text, der nur ein einziges Bild hat, greift es sich aus dem Umfeld des Artikels weitere Motive, die nicht unbedingt mit seinem Thema zu tun haben. So zu sehen bei diesem Text zu den russischen Luftangriffen in Syrien:

facebook karussell moscow times 3

Klar, man muss nur schnell die zwei Haken bei Bild zwei und drei entfernen. Aber bei einer Nachrichtenseite, wo Meldungen, Kommentare und andere Artikel mit nur einem Bild die klare Mehrheit der Inhalte stellen, läppert sich das ganz schön: Von Montag bis Freitag plane ich über den Daumen etwa 100 Facebook-Post mit Link, darunter sind mit Glück 20, bei denen sich das Karussell anbietet. Bei den anderen 80 muss ich also jedes Mal diese Häkchen wegklicken.

Definitiv Grund genug, ins Nachtgebet die Bitte aufzunehmen, Facebook möge sein wirklich schönes neues Karussell in Zukunft als Option anbieten, die der Admin auswählen kann – aber nicht als automatisch voreingestellte Variante.

*irgendwas ruckelt da gerade beim Zusammenspiel zwischen WordPress und den Embed-Codes von Facebook. Um den Post zu sehen, einfach aufs Datum klicken, bitte.

(Danke an Lars für Allfacebook-Link & Denkanstoß)

Prost Freitag!

Vor einigen Wochen ist die Kaffeemaschine bei uns in der Redaktionsküche verschwunden, Alles zu teuer, der kostenlose Kaffee in Zeiten wie diesen, also verschwand auch gleich die Kristallschale voller Würfelzucker. Der kostenlose Shuttlebus von der Metro zur Redaktion rollt ebenfalls nicht mehr, das bedeutet jeden Morgen 15 Minuten Fußweg zusätzlich – und abends wieder.

Kurzfristig waren dann auch die Trinkwasserkanister weg (Leitungswasser trinkt hier keiner freiwillig), aber da immerhin kam nach Protestmails an den ganz, ganz großen Verteiler die Rückmeldung, der Lieferant sei bloß pleite, ein neuer aber schon gefunden. Wir sind also nicht allein mit dem Knapsen.

Das Ganze würde sich noch mehr nach sinkendem Schiff anfühlen, wenn nicht eine andere Tradition Bestand hätte. Sie gehört zum Freitag wie die Stille in der Redaktion, denn samstags erscheint keine Zeitung, also sind wir nur ein paar verstreute Onliner. Und könnten, wenn wir denn wollten, rüber in die Kantine gehen und dort die urrussische Art bewundern, in der sich dort Beständigkeit manifestiert:

Cognac

Ein Tablett mit Cognac-Gläsern, zwei Finger breit gefüllt, direkt neben der Kasse. S’war immer so, s’war immer so. Wer will, darf sich einen nehmen, kostenlos. Wer zwei nimmt, bekommt einen strafenden Blick.

Das Tablett steht da ab 8 Uhr morgens.

Opa Günter

Opa Günter

Vieles an der Art, wie Moskau derzeit an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert, fühlt sich seltsam an. Das Säbelrasseln, oder was immer da heute so rasselt, wenn tagelang Panzer und Raketen durch die Straßen rollen, damit am Samstag bei der Parade alles klappt. Das Branding, bei dem wirklich alles mit St.-Georgs-Bändern verziert und beworben wird, bis hin zur Wodkaflasche im Supermarkt.

Das Stalin-Revival, das hier parallel betrieben wird und zu dem kritische Stimmen selten sind. Die Militarisierung von Kleidung, wenn Kindergartenkinder sich von ihren Eltern erfolgreich eine Soldatenmütze vom Straßenhändler erquengeln. Der gar nicht so latente Druck, dass das die einzig wahre Art des Gedenkens ist und man da mitzumachen hat (dazu die Tage noch ein eigener Blogpost.)

Wir haben uns in der Redaktion einen anderen Ansatz ausgesucht, und ich finde, er passt zu einem Team aus einem halben Dutzend Nationalitäten in dieser Generation und noch deutlich mehr, wenn wir ein, zwei Generationen zurückgehen.

Ich wusste nicht, dass Matt aus dem Wirtschaftsressort polnische Vorfahren hatte (die später als Italiener getarnt über Venezuela in die USA ausgewandert sind und dort dann Angst vor McCarthys Hexenjagd hatten). Ich wusste nicht, dass der Opa unseres Chefredakteurs einen Backstein aus der Reichstagsmauer mit zurück nach Dagestan genommen hat. Und auch die Geschichte meines Kollegen Sam, dessen Urgroßvater als einer der letzten Amerikaner im Mai 1945 in Deutschland starb, kannte ich vorher nicht. Wieso eigentlich nicht? Wenn wir schon das Privileg haben in einem Team aus Menschen zu arbeiten, die von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs stammen und aus Ländern, die im Zweiten Weltkrieg gegeneinander gekämpft haben – warum reden wir so wenig darüber?

Opa Günter, der Vater meines Vaters, ist ein paar Tage nach meiner Konfirmation gestorben. Dass seine Enkelin mal für eine russische Zeitung auf Englisch ein Stück seiner Lebensgeschichte aufschreiben würde – ich glaube, das hätte ihn in seiner Unwahrscheinlichkeit genau so zum Lachen gebracht wie ein Zeitungsbericht im Lokalteil, in dem irgendwann in den Achtzigern mal stand, die Nazis hätten ihn erschossen. Nicht, dass sie es nicht versucht hätten – aber diese Folgen konnten sie ja auch nicht absehen.

Putin der Woche (XIV)

Putin der Woche

Gesehen: In unserem Noch-Redaktionsgroßraum bei der Moscow Times.

Begleitung: Olivgrüne Hose, Angel, Halskette mit Kreuz. Sonnenbrille lässig am Hosenbund.

Text: „Geheimnisse der Stars“, der Name der Zeitschrift, aus der dieses Poster stammt. Dazu ein Putin-Autogramm unten links.

Subtext: Ganz schön lange her, dass ihr mich hier aufgehängt habt, das Poster rollt sich schon von den Seiten zusammen. In den neuen Räumen erwarte ich dann aber ein Stück Tesa an jeder Ecke, damit sowas nicht mehr passiert! Oder Heftzwecken, ach was: Tesa UND Heftzwecken, ist das klar? Also, wer rollt mich jetzt hier zusammen und zwei Etagen drunter wieder auf? Ey, wo seid ihr denn alle hin? Hallo? Hallooo?

Oben-Ohne-Punkte: 10/10