Zehn Dinge, die man beim Lesen dieses Blogposts lernen kann

  1. Nachricht, Reportage, Interview, Feature, Glosse, Kommentar. Diese geläufigen journalistischen Formate haben Gesellschaft bekommen. Vor allem online begegnen einem immer mehr Texte nach dem Prinzip „Fünf Dinge, die Sie über den Kanal-TÜV wissen müssen“, „Zehn Knackpunkte bei den Koalitionsverhandlungen“ oder „Elf Karnevalskostüme zum Selbernähen.“
  2. Die Form selbst ist nicht neu (zehn Gebote, 95 Thesen) und auch kein Online-Phänomen, sondern von Frauenzeitschrift (die sieben besten Kürbisrezepte) bis Autoheft (zehn Tipps zum Spritsparen) verbreitet. Aber dadurch, dass online die Längen- und Gestaltungsvorgaben weniger strikt sind als im Print, blühen solche Texte dort besonders.
  3. Kaum jemand ist da so weit vorne wie Buzzfeed. Dort gibt es auf der Startseite kaum Überschriften, in denen keine Zahl vorkommt.
  4. Häufig benutzte Zahlen bei diesem Format: drei, fünf, sieben, zehn, zwölf, zwanzig, hundert.
  5. Eher selten: vier, sechs, achtundzwanzig.
  6. Extrem selten: eins.
  7. Auch wir bei DerWesten beteiligen uns daran, zum Beispiel mit den „Zehn Irrtümern über…„. Und der Guardian ist natürlich längst auf der Meta-Ebene angekommen.
  8. Der Name für diese Art von Text ist „listicle“, entstanden aus den englischen Wörtern „list“ und „article“.
  9. Er ließe sich also auch problemlos zu „Listikel“ eindeutschen.
  10. Ihr habt gerade einen gelesen.

(Eine gar nicht mal so unähnliche Variante dieses Texts ist in der Wochenendbeilage der WAZ erschienen.)

Wir sind Journalisten

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Tag zwei und schon sind die mitgebrachten Vokabelkarten alle vollgeschrieben. Wo kann man die denn nachkaufen? Olga korrigiert erst mal von Karte auf Kärtchen, schließlich sind die Russen ähnlich große Fans des Diminutivs wie die Niederländer. Also: Wo kaufen, die Kärtchen? „In Kaliningrad? Nirgends“, sagt sie. „Das ist ein Problem.“

Problematisch fühlen sich auch manche Übungen an: ein langhaariger Mann im T-Shirt, mit Bart und prominenter Nase, daneben ein Anzugträger mit Schnäuzer – und die Aufgabe, sie aufgrund der Bilder zu beschreiben. Geliefert werden dazu nicht nur Vokabeln für Haare, Augen, Gesicht, sondern auch direkt für den Charakter. Seltsam, das. Als kleinstmögliche Form von Gegenwehr also die Sätze zur Optik zwar mit „Er hat…“ angefangen, die zum Wesen dagegen mit „Ich glaube, dass…“ Keine Ahnung, ob das irgendwas besser macht.

Dann doch lieber die Klischees über einen selbst. In der Übung zu Possesivpronomen tauchen Berufe und ihre zugehörigen Gegenstände auf, nach dem Sparkassenspot-Prinzip: Du bist Sekretär. Dein Stuhl, Dein Fax, Deine Dokumente. Sie sind Direktor. Ihr Auto, Ihre Idee, Ihr Geld.

Besonders schön, und darum hier als komplette Liste: Was bei der Übung auf „Wir sind Journalisten“ folgt.

Unsere Zeitschrift.
Unsere Zeitung.
Unser Computer.
Unsere Nachrichten.
Unser Geld.
Unsere Zigaretten.

Auf Nachfrage liefert Olga dann noch das Wort für „Kartenspiel“ nach. Und („Das gehört zum russsischen Journalisten-Klischee!“) den Begriff Кожаная куртка. Auf Deutsch: Lederjacke.

Wer wird Volontär

Zwei Tage Assessment-Center, um neue Volontäre auszusuchen. Wäre einen langen Blogpost wert, aber erst mal muss sich alles setzen. Bis dahin, für Genießer, ein Zitat aus der letzten Runde an Tag 2.

– „Und in welchen Sozialen Netzwerken sind Sie so aktiv?“
– „StudiVZ und Myspace.“
– „…“
– „War ein Scherz.“

Nenn es Nerdhumor. Wir haben, nach einer Schrecksekunde, sehr gelacht.

Crowdfunding und Castrop-Rauxel

Was machen heute die Journalisten, die mal die Redaktion der Westfälischen Rundschau waren? Bei manchen kann man es nachlesen, im Blog oder in einem Dossier in der „ZEIT“. Bei manchen kann man es ansehen, und bei einem kann man es mitfinanzieren.

Dennis Betzholz war Redakteur im Mantel der WR, und wenn man heute am Newsdesk in Essen seinen Namen erwähnt, sagen Kollegen Dinge wie „Oh, der Dennis“ (Tonfall etwa wie „Oh, Du hast Kuchen mitgebracht“) oder „Wenn ihr das nächste Mal sprecht, musst Du ihm von mir mal ganz zärtlich auf den Oberarm boxen“ (sic).

Dennis hat über EU-Richtlinen gschrieben, über Döner, über ein Leben ohne Internet. Ein Allrounderjob halt. Und nach der WR ist er – jung, mobil, ungebunden – in eine Zwanziger-WG-nach Bonn gezogen und arbeitet da jetzt beim Generalanzeiger. Das wäre für mich der Punkt, mich mal zu sammeln und zu sortieren. Für ihn war es der Punkt, mit einem Freund zusammen ein Buch zu schreiben – finanziert per Crowdfunding über die Plattform Startnext.

Und nein, das auf dem Video-Vorschaubild ist er nicht – aber in dem Film erklären er und sein Ko-Autor, worum es in ihrem Buch „Palmen in Castrop-Rauxel“ gehen soll: Um Menschen, die sich trauen, etwas Ungewöhnliches zu tun. Zum Beispiel eben, in Castrop-Rauxel eine Palmenzucht zu starten. Zu 26 Prozent ist das Projekt finanziert, 48 Tage bleiben für den Rest. Da geht noch was.

Moskau

Moskau, Moskau. Das ARD-Hörfunkstudio dort bekommt 2014 einen neuen Korrespondenten. Und ich geh mit.

Nach ein paar Probeläufen, bei denen die Kollegen vor Ort es uns leicht und die Abende lang gemacht haben, sind wir zu dem Schluss gekommen: kann man machen. Also bereiten wir uns vor auf den Umzug in ein Land, das auch mehr als zwanzig Jahre nach Ende der Sowjetunion im Umbruch ist. Ein Land voller Kultur und Traditionen, das 2014 die Olympischen Winterspiele ausrichtet. Ein Land, zu dessen Staatschef „lupenreiner Demokrat“ und „Oben-ohne-Fotos“ die einfachen, aber nicht die wichtigsten Assoziationen sind. Ein Land, in dem NGOs drangsaliert und Schwule und Lesben diskriminiert werden. So ein Land kann gar nicht genug Journalisten haben.

Was auch bedeutet: Ich bin hiermit wieder auf dem Markt. Nach fast sechs Jahren im kleinen, feinen Online-Team bei DerWesten, drei Chefredakteuren, deutlich mehr Geschäftsführern. Einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Kollegen und Freunden vielfach auf das Erfreulichste verschwommen sind. Und in der ich einiges gelernt habe über Innovation, über Einfach-mal-Ausprobieren und mindestens genau so viel über Beharrungskräfte. Der Chef kann sich vorstellen, mich im Anschluss an Moskau zurückzunehmen. Ich kann mir vorstellen, im Anschluss an Moskau zurückzukommen. Bis dahin bin ich freigestellt und kann ab Februar in Russland für jemand anderen arbeiten, sofern es nicht die unmittelbare Konkurrenz ist. Was in Moskau eher unwahrscheinlich sein dürfte.

Vielleicht heißt das zum Start auch erst mal: ein paar Monate die alten Russischkenntnisse auffrischen (wann sagt man noch mal год/года und wann лет?) und neue darauf aufbauen. Ankommen, organisieren, Wurzeln schlagen. Nur auf Dauer ist „mitreisende Partnerin“, glaube ich, kein Vollzeitjob.  Im Moment weiß ich nicht mal, ob es wieder Onlinejournalismus sein soll, ob überhaupt Journalismus, oder etwas ganz anderes. Es wird sich finden, und wenn ihr Moskau-Verbindungen habt, freu ich mich über Tipps und Links.

Russland ist ein schönes Land. Werft die Gläser an die Wand.

Auf ein Heißgetränk bei Guardian Coffee

Ein gutes Vierteljahr gibt es jetzt Guardian Coffee, das Café zur Zeitung. Wobei die nicht von einem Café spricht, sondern von einer „caffeine-infused pop-up destination in the heart of East London’s creative technology community „. Soso aha.

Jedenfalls soll der Guardian seitdem nun nicht mehr nur für kluge Online-Ideen stehen, für Datenjournalismus und für Wikileaks-Berichterstattung, sondern auch für Kaffee. Eine Fingerübung in Sachen Offenheit und Transparenz; „leichterer Zugang zu unseren Journalisten und unserem Journalismus“, so lässt sich Guardian-Technikchefin Jemima Kiss zitieren.

Okay, es gibt da diese Beamerprojektion an der Wand: Welcher Kaffee war heute am populärsten (flat white), wie setzt sich die hauseigene Espresso-Röstung zusammen (60 Prozent Brasilien, je 20 Prozent Nicaragua und El Salvador). Eine Anspielung auf Datenjournalismus – so wie die Möglichkeit, in einem Café mit Guardian-Einrichtung ein Heißgetränk zu nehmen, wohl auch eher eine Anspielung auf Transparenz ist.

Ginge es hier wirklich darum, Leser anzulocken zum Gespräch mit Journalisten, dann läge das Café im Redaktionsgebäude, nicht in diesem zusammengestapelten „Boxpark“ in Shoreditch. Guardian-Mitarbeiter zum Ansprechen? Zwei nette Männer an der Kaffeemaschine. Eine Liste mit aktuellen Veranstaltungen bei GuardianCoffee? Weder online zu finden noch als Aushang im Café.

Ein Markteing-Gimmick also, schön blau. Wer mal mit einem Guardian-Journalisten reden will, ist bei Twitter besser bedient. Darum stehen wohl auch die Nutzer-Namen einiger Guardian-Mitarbeiter an der Fensterfront. Immerhin: Der Kaffee ist gut, der Earl Grey auch. Ein nettes kleines Café, wenn man sich die philosophische Überhöhung wegdenkt. Und die Zeitung gibt es gratis dazu.


Axel Springer und die Funke Mediengruppe – ein Deal in Tweets

 

 

 

 

 

Disclaimer: Axel Springer hat früher mal meine Miete bezahlt. Heute macht das die Funke Mediengruppe.

Sunday Times goes taz

Fundstück aus dem Urlaub in einem Land, in dem sprachspielerische Überschriften zum guten Ton gehören. In Deutschland denkt man dabei vor allem an die taz und vielleicht noch an so Perlen wie „Dalai sein ist alles“ in der FAZ und „Tabatabai sein ist alles“ in der SZ (meine ich jedenfalls, dass es dort war).

In Großbritannien spielen alle dieses Spiel, von der Times bis zur Sun, vom Scotsman bis zum Guardian. Die berühmte Sport-Überschrift „SUPER CALEY GO BALLISTIC, CELTIC ARE ATROCIOUS“ hat sogar ein Blog über britische Zeitungsüberschriften inspiriert.

Beim Beispiel oben zum Thema „Camp“ zeigt die Sunday Times jedenfalls, was wir dank der taz schon länger wissen: Schräg und geschmackvoll, das geht halt nicht immer zusammen.

Schreiben für Print

Wie man eine Print-Kolumne von 1400 Zeichen schreibt.

Variante A: Kolumne schreiben. 600 Zeichen. Alles ist gesagt. Tee kochen. Kolumne mit Beispielen anfüttern. Den Rest mit Absätzen und Wörtern, die möglichst raumgreifend umbrechen, füllen. Kolumne mailen.

Variante B: Kolumne schreiben. 1800 Zeichen. Zwei zwingend notwendige Aspekte sind noch nicht erwähnt. Unter Schmerzen einkürzen. 1600 Zeichen. Einer strengen Kollegin geben. 1500 Zeichen. Nach kürzeren Wörtern für „ist“ und „und“ suchen. Kolumne schließlich mit Überlänge mailen und um Layoutanpassung winseln. Schokolade versprechen.

Variante C: Kolumne schreiben. 1350 bis 1450 Zeichen. Kernargumente sind drin, Beispiele passen. Musik aufdrehen. Letzte 50 Zeichen nachjustieren. Kolumne mailen.

Statistische Verteilung:
Variante A – 30 Prozent.
Variante B – 70 Prozent.
Variante C – Rest.

Niemals aufgeben, niemals kapitulieren

Anfang Mai ist mir ein Tweet aufgefallen, den ich reichlich doof fand. Bemüht, unangebracht, zurechtgebogen.

Gesehen über Dominic Rzepka vom ZDF, der hatte ihn aber nur weitergereicht. Ursprünglich kam der Tweet von Justus Wilhelm, Volontär bei Radio Bremen, der gerade seine ersten Schritte bei Twitter machte und Stimmen für eine Sendung sammeln wollte. Der Rücklauf bestand weitgehend aus mehr oder weniger subtilen „fail!“-Rufen – auf die er unbeirrt und sachlich geantwortet hat. Nach einem kurzen Austausch via Twitter – kann man hier nachlesen – war klar: Ja, da war was doof. Aber der Tweet war es nicht, und auch nicht der Absender. Das lässt, ganz kommunikationstheoretisch, nicht mehr allzu viele Möglichkeiten offen.

Wer sehen will, was ich in meinem Volo alles ungeschickt formuliert habe, der wäre damit ein paar Tage ausgelastet. Aber erst muss er sich Arbeit machen. Er kann meine Eltern fragen, ob er mal auf den Speicher rauf darf. Er kann rausfinden, wo die alten Zeitungs-Bände einer inzwischen geschlossenen NRZ-Lokalredaktion lagern (bei Erfolg bitte Bescheid sagen!), oder nach Dortmund ins Institut für Zeitungsforschung fahren. Mehr geht nicht, nichts mit Digitalisierung, kein online durchsuchbares Archiv. Stattdessen Papier, oder vielleicht, im Institut, Mikrofiche?

Wer heute volontiert, kommt früher weiter aus der Deckung. Weniger Welpenschutz, kaum Chancen auf „behütetes Blamieren„, wie das beim „Zimmer frei“ heißt. Und wer was probiert, dem muss man schneller, als es schön ist, Dinge sagen wie „Solche Kommentare muss man abkönnen, ärger dich nicht.“ Haters gonna hate.

Während ich mich also geschämt habe, einem, der lernt, doof gekommen zu sein, war Justus sehr entspannt. Wir schrieben ein bisschen hin und her – er ist Anfang 30, Berliner in Bremen, und hat demnächst seine erste Ausgabe der Sendung „Glauben und Wissen“ bei Radio Bremen. Auf dem Weg dahin hat er inzwischen statt Eierkopp ein Profilfoto bei Twitter – und die Frage noch mal gestellt. Das Gegenteil von Kapitulation. Wer mag, kann ja mit einem Retweet oder einer Antwort helfen.