Russball, Folge 47: Ein neuer Job für Witali Mutko

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Zwei Dinge sind geschehen zwischen der letzten Russball-Folge und dieser hier. Erst mal war re:publica in Berlin, eine gute Gelegenheit, den Horizont ein bisschen zu erweitern, Freunde und frühere Kollegen zu treffen. Es gab einen kleinen Talk darüber, wie Podcasts den Sportjournalismus verändern, das fand ich ganz interessant – könnt ihr euch hier ansehen oder anhören.

Außerdem ist eine DFB-Delegation nach Russland gereist, um organisatorische, aber auch sehr viel komplexere Themen anzugehen: Fair Play, Menschenrechte, Gedenken an den Zweiten Weltkrieg. Nach dem, was Präsident Reinhard Grindel dazu am Montag hier in Moskau erzählt hat, nehme ich dem DFB ab, dass er sich ernsthaft bemüht, diesen Themen gerecht zu werden. Warum mich die Haltung zu Russland und Menschenrechten trotzdem nicht überzeugt, habe ich hier aufgeschrieben.

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⚽ Was bedeuten diese vier Emojis? 🚂🏅🔥🙏 Ganz klar: Lokomotive Moskau ist russischer Fußballmeister, und der Mann, der diese Symbole aneinanderreihte, ist deshalb begeistert und dankbar: Ilja Gerkus, Präsident des Vereins, postete kurz nach der Entscheidung diesen Jubeltweet: „Wir sind Meister! Das ist fantastisch, kosmisch, unwirklich. Unglaublich! Aber wir haben es geschafft! Zusammen! Vom allerersten Anfang bis zum Moment des Sieges! Danke an alle, die zu uns gehalten und an uns geglaubt haben. Begreifen werden wir das erst später. Lasst uns uns bis dahin einfach freuen! Lokomotive ist Meister!“ (Bereut schon jemand, dass man bei Twitter heutzutage 280 statt 140 Zeichen hat?)

Seinen Jahresvorrat an Ausrufezeichen hat Gerkus damit aufgebraucht – aber wann denn bitte auch sonst, wenn nicht in diesem Moment? Endlich wieder Meister, nach 14 Jahren Durststrecke, und dann auch noch unter Juri Sjomin, der Jahrzehnte seines Lebens investiert hat, um Lokomotive zu dem Verein zu machen, der er heute ist. Der Mann ist, in den Worten von „Sowetski Sport“, der „letzte russische Toptrainer“. Demnächst wird Sjomin 71. Gerade hat er seinen Vertrag bei Lokomotive verlängert.

⚽ Auch eine Liga weiter unten wird gefeiert: In der WM-Stadt Samara ist der örtliche Klub soeben in die Premjer-Liga aufgestiegen, vor vollem Haus. Und ich möchte dazu gerne mehr lesen und mich mitfreuen und euch hier im Newsletter erzählen, wie begeistert die Fans gefeiert haben. Aber je mehr ich bei Twitter rumsuche, desto lauter plärrt mein pubertierendes Unterbewusstsein dazwischen: „Ziemlich unglücklichen Twitternamen hat der Verein, was? @fckssamara, wer denkt sich denn sowas aus?“ Ich kann so nicht arbeiten.

⚽  Ihr erinnert euch an Witali Mutko und seine vielen, vielen Ämter? In der Politik, als Fußballfunktionär, bei der WM-Vorbereitung? Und wie diese Ämter nach und nach immer weniger wurden, je mehr über das systematische Doping zu seiner Zeit als Sportminister berichtet wurde? Seit dieser Woche hat Mutko nun auch kein Regierungsamt mehr, das irgendwie mit Sport zu tun hat. Bisher war er ja noch Vize-Premierminister mit Zuständigkeit für den Sport.

Witali Mutko bei einem Treffen mit Präsident Putin. Als dieses Bild entstand, war Mutko noch Sportminister.  (Foto: Kremlin.ru)
Witali Mutko bei einem Treffen mit Präsident Putin. Als dieses Bild entstand, war Mutko noch Sportminister.
(Foto: Kremlin.ru)

Nun wurde Wladimir Putin ins Präsidentenamt wiedereingeführt, sein Premierminister Medwedjew stellte die Pläne fürs neue Kabinett vor, und siehe da: Mutko bleibt zwar Vize, muss die Zuständigkeit für den Sport aber abgeben und soll sich stattdessen um Bauprojekte und regionale Entwicklung kümmern. Wenn selbst die staatliche Nachrichtenagentur Tass berichtet, dass die Mutko-Personalie für Unruhe unter den anwesenden Abgeordneten geführt hat, merkt man, wie klar auch den russischen Politprofis ist: Hier wird wieder einmal demonstrativ die Regel bestätigt: Putin ist loyal zu seinen Leuten und sorgt dafür, dass sie versorgt sind.

⚽  Manchmal habe ich das Gefühl, die Berichterstattung über Diskriminierung im russischen Fußball läuft immer in denselben Phasen ab. Erst gibt es einen Vorfall – Affenrufe, beiläufig rassistische Kommentare. Jemand meldet es, gerne Journalisten. Unterdessen Empörungswelle in Russland, das ist ja wohl kein Rassismus, muss man ja wohl noch sagen dürfen, und überhaupt, ich hab nichts gehört. Es folgt meist eine Strafe, die dann recht milde ausfällt. Dann warten alle auf die nächste Runde.

Wer einen tieferen Einblick gewinnen möchte, wie es hier im Land mit Rassismus im Fußball aussieht, der sollte lesen, was Bryan Idowu (Oder Brian? Auch das war ein Aha-Moment) dazu zu sagen hat. Er ist Profifußballer, Sohn eines Nigerianers, in Russland geboren und aufgewachsen, und hat vieles selbst erlebt: Beschimpfungen auf der Straße, Racial Profiling in der Metro, Beleidigungen auf dem Platz. Aber er sieht auch Fortschritt. Faszinierender Mann, das Porträt kann man hier nachlesen.

⚽  Mit dem Wort „Diskriminierung“ fasst auch Sport Express einen Sachverhalt zusammen, von dem ich noch nie gehört hatte. Wer es im russischen Profifußball zu etwas bringen will, der sollte am besten im Januar oder Februar geboren werden, lieber nicht im November oder Dezember. Ich dachte erst, das soll eine Glosse werden – eine statistische Anomalie benennen, dann ein bisschen weiterspinnen, ein oder zwei Pointen finden. Aber nein, Autor Gosha Chernov hat seine statistischen Hausaufgaben gemacht, hat möglicher Verzerrungen durch die Geburtenrate rausgerechnet, es bleibt dabei: Schau dir die besten Spieler beim russischen Fußballnachwuchs an, egal in welcher Altersklasse – sie sind zu Beginn des Jahres geboren.

Warum? Die Auflösung hat mit dem System zu tun, wie Nachwuchsförderung in Russland funktioniert: Vielversprechende Talente werden immer jahrgangsweise gesichtet – und da haben die Januarkinder den Dezemberkindern nun mal ein ganzes Jahr an körperlicher Entwicklung voraus. „Stellen Sie sich das mal vor“, schreibt Chernov, „Sie bringen ihren Sechsjährigen zu einer der besten (Sport)schulen des Landes. Die Trainer schauen sich aufmerksam hundert oder mehr Kinder an, aber Ihr Kind wird nicht angenommen mit den Worten: ‚Kommen Sie nächstes Jahr wieder, der Kleine muss noch wachsen.‘… Und das geschieht dann jedes Jahr.“

Wozu das führt, zeigt eine Grafik, für die Chernov alle Spieler der beiden obersten russischen Ligen nach Geburtsmonat sortiert hat: Der Januar schlägt sie alle, um Längen. Offenbar lässt sich das sogar teilweise auf den deutschen Fußballnachwuchs übertragen, von der Schalker U17 zum Beispiel sind nur vier Spieler in der zweiten Jahreshälfte geboren. Ich hab das dann spaßeshalber auch mal schnell bei der deutschen Nationalmannschaft durchgezählt, am Beispiel des Kaders für das Länderspiel am 27. März. Was soll ich sagen: 26 Mann, die Hälfte davon feiert zwischen Januar und April Geburtstag. Ein Phänomen, von dem ich noch nie gehört hatte, und das mich jetzt ziemlich fasziniert.

⚽ Von den riesigen Entfernungen, die russische Ligafußballer zu ihren Auswärtsspielen zurücklegen müssen, war hier ja schon öfter die Rede. Dass das selbst bei einem Derby gelten kann, zeigt aktuell dieser Tweet:

⚽ Dann hat noch Andrei Arschawin das Ende seiner Spielerkarriere angekündigt, was man vielleicht ein enig einordnen muss. Ja, okay, der Mann spielt aktuell irgendwo in Kasachstan. Aber zu seinen besten Zeiten hat er nicht nur mit Zenit St. Petersburg einen Erfolg nach dem anderen eingefahren, er war auch einer der wenigen russischen Spieler in jüngerer Zeit, die den Durchbruch im internationalen Spitzenfußball geschafft haben.

Als Arschawin 2009 zu Arsenal nach London ging, war er der teuerste Spieler im gesamten Team. Was nun kommt, nach dem Ende der aktiven Karriere? Normalerweise würde man ein Statement erwarten wie „Mehr Zeit mit der Familie“, allerdings scheint Arschawins Frau einen ziemlichen Vollschuss zu haben. Da klingt es ganz plausibel, dass er direkt von möglichen anderen Aufgaben im Profifußball spricht, die er sich vorstellen kann.

⚽ An dieser Überschrift konnte ich einfach nicht vorbeiscrollen: „Wie geht es dem ältesten Fußballclub in Russland – der offiziell schlechtesten Mannschaft des Landes?“ Der Autor verspricht eine Geschichte darüber, „wie eine große Vergangenheit unter dem Druck der harten Gegenwart bröckelt.“ Das ist dann aber auch genug Lyrik, es geht ab nach Orechowo-Sujewo. In Deutschland wäre das eine Großstadt, hier ist es halt irgendein Provinzort, eine Stunde Autofahrt von Moskau. Zehn Jahre vor der Russischen Revolution gründeten Fußballfans hier den Verein „Snamja Truda“, übersetzt heißt das „Das Banner der Arbeit“.

Heute weht das Banner auf Halbmast, bestenfalls: Wer den Verein in einer Tabelle finden will, der muss schon im drittklassigen Bereich gucken – und dann am besten unten anfangen. Die Spieler, berichtet Bombardir, bekommen hier so niedrige Gehälter, dass sie sich anderswo etwas hinzuverdienen müssen – aber immerhin, sie werden pünktlich bezahlt, das ist im russischen Profifußball keineswegs garantiert. Trotzdem ist das hier keine Reportage aus dem Tal der Tränen. Die Fans haben mit ihrem Verein Tragödien überstanden, gegen die die aktuelle Saison mit einer Tordifferenz von -50 kaum erwähnenswert ist. Es ist auch eine Geschichte über Tradition und über Stolz, die sich zu lesen lohnt.

⚽ Zenit St. Petersburg verdient sich ganz gut was dazu, indem es die Spieler, die gerade nicht erste Garnitur sind, an andere Vereine verleiht. So weit, so bekannt. Ein Mitarbeiter von Championat.com hat jetzt mal nachgezählt, und siehe da: In diesem Sommer kommt gleich eine komplette Fußballmannschaft aus der Ausleihe zurück zu Zenit – elf Spieler, die bisher in Frankreich, Griechenland, der Türkei oder anderswo in Russland im Einsatz waren. Das Timing ist auch deshalb interessant, wiel alles danach aussieht, dass Trainer Roberto Mancini bei Zenit aufhört, um die italienische Nationalmannschaft zu übernehmen. Der neue Trainer kann dann also aus dem Vollen schöpfen.

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Zum Schluss verlassen wir noch kurz Russland und blicken über die Grenze rüber, in die Ukraine. Ihr erinnert euch an die vielen russischen Hotels, die dabei erwischt wurden, wie sie rechtzeitig zur Weltmeisterschaft ihre Preise drastisch erhöhten? In Kiew sieht es ganz ähnlich aus: Die ukrainische Hauptstadt ist Ende des Monats Gastgeber für das Champions-League-Finale, auch hier wollen sich Hoteliers damit eine goldene Nase verdienen.

Doch ukrainische Fußballfans halten dagegen, sie wollen die Abzocke verhindern. „Gratis-Unterkunft für Fans“ nennen sie ihren Service, den sie über Facebook organisieren. Anreisenden Fußballfans können sich dort melden und sollen dann einen Schlafplatz bei Fans vor Ort finden. Fußball-Couchsurfing, als Solidaritätsaktion. „Los jetzt“, heißt es auf der Facebookseite unter einer Suchanfrage von vier Liverpool-Fans aus Malta, „zeigen wir ihnen, dass Kiew eine gastfreundliche Stadt ist!“

Nächste Woche mehr – bis dahin könnt ihr eure Freunde, Kolleginnen und Familie gerne auf den Russball-Newsletter hinweisen. Es ist zwar nur mein kleines Spaßprojekt, aber je mehr Leute mitlesen, desto größer die Motivation. Bis dann, macht’s gut!



 

Russball, Folge 45: Warum Deutschland eventuell nicht Weltmeister wird

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Zurück aus dem Urlaub, das heißt: Sie haben uns nach Usbekistan rein- und hinterher auch wieder rausgelassen. Und weil die letzte Russball-Folge ja eine hintergründige war mit Reisetipps für die WM-Städte, konnte ich für diese hier aus dem Vollen schöpfen: Material aus zwei Wochen, eingedampft und ausformuliert zu diesem formschönen Newsletter. Los geht’s.

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⚽ Die Sache mit dem dressierten Bären, der bei einem Fußballspiel als Unterhaltungsprogramm herhalten musste, habt ihr sicher mitbekommen. Das hat ja große Wellen geschlagen, und zu Recht: Nein, das ist nicht lustig. Ja, das ist Tierquälerei. Nur, dass das geklärt ist.

Was ihr vielleicht nicht mitbekommen habt, ist ein anderer Vorfall, auch der mit einem Tier. Ein Fan von Lutsch-Energija Wladiwostok hat einen Hahn mit zum Spiel gebracht und versucht, ihn auf Trainer Alexander Grigrojan zu werfen (der Hahn drehte in der Luft ab in eine andere Richtung). Dass das wohl keine Geste des Wohlwollens und der Unterstützung war, ist auf den ersten Blick klar. Wie perfide die Aktion wirklich war, versteht man allerdings erst, wenn man weiß, dass „petuch“, das russische Wort für Hahn, hier auch ein Schimpfwort für „schwul“ ist. Ein homophober Angriff auf Grigorjan also, zusätzlich zur Tierquälerei. Dazu passen Meldungen wie diese in der New York Times, wonach das schwulenfeindliche Klima in Russland einige Fans davon abhält, zur WM zu reisen. (Kurz nach dem Vorfall hat sich der Club übrigens vom Trainer getrennt.)

⚽ Wenn das mal keine Entscheidung aus der Reihe „Was habt ihr euch denn dabei gedacht?“ wird: Bei WM-Spielen in Rostow am Don sollen rund 200 Kosaken als Sicherheitskräfte eingesetzt werden, 30 von ihnen zu Pferd. Das mag für deutsche Ohren jetzt vielleicht ganz nostalgisch nach Chorgesang oder nach „Moskau“ von Dschinghis Khan klingen – „Kosaken hey, hey, hey hebt die Gläser!“ Tatsächlich aber stehen die Kosaken im heutigen Russland für etwas anderes, die Nachrichtenagentur AP bringt es auf den Punkt: „Kosaken, eine paramilitärische Gruppe mit Wurzeln in der Zarenzeit (…). Ihnen wurde oft vorgeworfen, ihre Zuständigkeiten zu überschreiten und während ihrer Arbeit Gewalt einzusetzen.“

Vielleicht erinnert sich der ein oder andere noch an den Vorfall bei den Olympischen Spielen in Sotschi, als eine Gruppe Kosaken-Wachleute die Peitschen, die zur traditionellen Kosakentracht gehören, nutzten, um auf Mitglieder von Pussy Riot einzuprügeln. In Rostow sollen die Kosaken nach offiziellen Angaben nun also sowohl für Sicherheit sorgen als auch das „Kosakentum als Visitenkarte der Region“ präsentieren – „schließlich sind sie eines der Symbole der Don-Region mit dem höchsten Wiedererkennunsgwert.“ Bleibt die Frage, ob man bei der WM auch ihr Verhalten gegenüber friedlichem Protest in Sotschi wiedererkennen wird nach dem Prinzip: Kosaken, hey, hey, hey, hebt die Peitsche.

⚽ Zufällig bin ich dann noch auf einen Link gestoßen, der die beiden vorherigen Themen verbindet. Es geht um eine Meinungsumfrage, die schon ein paar Monate alt ist, sie wurde im vergangenen Dezember veröffentlicht. Und ja, man muss sie sicher mit einem Körnchen Salz nehmen, denn die Zahl der Befragten (2500) klingt erst mal groß, aber verteilt auf elf Gastgeberstädte sind es dann eben doch nur noch rund 230 pro Stadt. Doch die grundsätzliche Tendenz ist schon erwähnenswert: Mit welchem Gefühl sie ausländischen Fußballfans gegenüberstehen, die LGBT sind, wurden also 2500 Russen gefragt. Der Mehrheit war das ziemlich egal, 13 Prozent antworteten allerdings mit „verärgert“ und weitere 11 mit „reserviert“.

Wenn man die Zahlen ein bisschen weiter aufdröselt, kommt man zu zwei Ergebnissen. Wer beim WM-Besuch homophoben Menschen ausweichen will, der sollte sich erstens tendenziell von älteren Männern fernhalten – sie gaben überdurchschnittlich oft „verärgert“ an. Zweitens ist man geografisch am besten in Sotschi und Kasan – beides Vorrundenspielorte der deutschen Nationalelf – aufgehoben. Am deutlichsten gegen schwule und lesbische Fans eingestellt sind die Menschen in Wolgograd und Rostow am Don, beides Städte mit starkem Kosakenerbe und allem, was da an traditionellen, nationalistischen Wertvorstellungen dranhängt.

⚽ Was hat Arsène Wengers Abschied von Arsenal in einem Newsletter zu Fußball und Russland zu suchen? Die Antwort gibt Sport.ru mit dem lustigsten, lässigsten Tweet, den ich zu Wengers Abgang gesehen habe:

„Wenger verlässt Arsenal – wie es aussieht, kann man selbst nach 22 Jahren an der Macht abtreten.“ Beiläufiger Sarkasmus ist halt immer noch der beste Sarkasmus.

⚽ Ihr müsst jetzt sehr stark sein: Es gibt eine kleine Chance, dass Deutschland dieses Jahr seinen Titel als Fußball-Weltmeister nicht verteidigen wird. Die Quelle für diese Nachricht ist nicht das Petersburger Katzenorakel, sondern Stanislaw Tschertschessow, Trainer der russischen Nationalelf. Der Mann spricht fließend Deutsch, kennt sich im internationalen Fußball gut aus und war neulich zu Gast bei einer deutsch-russischen Podiumsdiskussion rund um die WM. Mit auf der Bühne, auf den beiden Seiten des Coaches: der deutsche Ex-Nationalspieler Cacau und Erik Stoffelshaus, sportlicher Direktor von Lokomotive Moskau.

Zunächst sollte Tschertschessow verraten, welchen deutschen Spieler er gerne für die russische Nationalmannschaft borgen würde. Spielverderber-Antwort: „Die deutschen Spieler stehen für mich nicht zur Verfügung, also denke ich da auch nicht drüber nach. (…) Löw hat seine Fußballer und ich meine.“ Um eine Antwort auf die Frage, wer denn nun Weltmeister wird, drückte sich der Nationaltrainer dann komplett – allerdings auf eine Art, die durchblicken ließ: Deutschland jedenfalls nicht. „Dazu sage ich nichts, weil hier auf beiden Seiten von mir Deutsche sitzen.“ Autsch! (Eine Umfrage unter russischen Fußballfans hat übrigens ergeben, dass nur vier Prozent von ihnen damit rechnen, dass ihre Mannschaft Weltmeister wird.)

⚽ Dass einem zwei Monate vor der WM öfter mal Namen deutscher Fußballer in russischen Medien begegne, ist klar. Dass zu diesen Namen aber auch Julian Pollersbeck gehört, hat mich dann doch überrascht: Championat.com widmet dem Torwart des HSV eine große Analyse und beschreibt, wie sehr er auch außerhalb seines Torraumes aktiv ist – das zeigt auch eine beeindruckende Heatmap. „Sieht aus, als ginge es um zwei verschiedene Spieler“, kommentiert Championat das Bild, „aber nein: Er schafft es, die Aufgaben des Torwarts mit denen eines Verteidigers zu kombinieren.“

⚽ Ist die Wurzel allen Übels im russischen Fußball ein Mangel an bespielbaren Plätzen? Anton Michaschenok ist davon überzeugt. Der Sportjournalist hat vor kurzem selber einen Fußballverein gegründet, den FK Gorki, und berichtet nun aus dem Trainingsalltag: „In unserer Stadt mit 500.000 Einwohnern gibt es nur zwei Kunstrasenplätze, auf denen man derzeit trainieren kann,“ zwei weitere Plätze existierten, seien aber unbespielbar. So trainiert der FK Gorki derzeit eben dann, wenn einer der Plätze frei ist – abends um acht, bei schlechtem Licht, so dass man den Ball kaum sieht.

Ehe das jetzt nach dem Gemopper eines Einzelnen klingt: Michaschenok zählt viele solche Fälle auf – von Fußballern in anderen großen Städten, für die erst um neun oder zehn Uhr abends ein Trainingsplatz frei wird, oft bei noch schlechterer Beleuchtung. Von einem Platz, der gebaut werden sollte, aber das Geld kam aus drei verschiedenen Töpfen und einer davon war leer. Von einem Platz, der fertig ist, auf dem aber niemand spielt, weil die dazugehörige Schule noch nicht eröffnet wurde. Wie soll da Fußballnachwuchs heranwachsen, wenn er nirgends spielen kann? Fazit: „Um eine Fußballnation zu werden, müssen wir erst einmal lernen, wie man Fußballplätze baut und instand hält.“

⚽ Apropos Fußballplätze: Zum Schluss noch ein Blick auf drei WM-Stadien, bei allen gab es aktuelle Entwicklungen. Sowohl in Saransk als auch in Wolgograd haben die Eröffnungsspiele stattgefunden. Alles hat soweit gut geklappt, auch wenn mich die Bilder vom fertigen Wologograder Stadion immer noch daran erinnern, wie großzügig da jemand Ideen geklaut hat was das für eine architektonische Hommage ist an Pekings Olympiastadion, das Vogelnest. Nur mal so zum Vergleich das zweite Bild in diesem Tweet:

Und hier ein Foto aus Peking:

Den größten Fortschritt bei den WM-Vorbereitungen gab es allerdings weder in Wolgograd noch in Saransk, sondern in Samara. Wir erinnern uns: das ist das Stadion, das neulich Ärger mit der FIFA bekam wegen massiver Verzögerungen. Nicht mal ein Rasen lag da bisher, und genau das hat sich nun geändert: Habemus caespitem, wie der Lateiner sagt. Okay, das frisch ausgerollte Gras hat jetzt nur noch zwei Monate Zeit, um auch anständig anzuwachsen. Aber darüber reden wir dann, wenn in Samara das erste Spiel angepfiffen wird.

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Wir können uns nicht verabschieden, ohne noch kurz über Kasachstan zu reden. Ein Bild von dort macht hier in Russland seit ein paar Tagen die Runde: Im Achtelfinale des dortigen Pokals sollte ein Spieler des FK Maktaaral eingewechselt werden, musste vorher aber dringend noch mal schnell ums Eck, in diesem Fall wörtlich: Erst suchte er sich ein Pinkelplätzchen hinter der Ersatzbank, dann hinter einem Banner – alles nur, um Sekunden später mit dem Spieler, der für ihn vom Platz ging, abzuklatschen. Aber natürlich hat er zwischendurch sicherlich Sagrotan benutzt, das hat die Kamera nur nicht eingefangen. So möchte ich mir das jedenfalls vorstellen. Bis nächste Woche!



 

Russball, Folge 44: Die Mutter aller WM-Reiseführer

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Diese Russball-Ausgabe ist etwas anders als sonst. Ich treibe mich mal wieder rum in der Welt, außerhalb von Russland und meist offline. Aktuelles aus dem russischen Fußball gibt es hier also diesmal nicht, dafür aber etwas, das ich seit langem schon mal zusammenstellen wollte.

So viele Leute und Redaktionen haben inzwischen ihre Reiseführer zu den russischen WM-Gastgeberstädten veröffentlicht, unterschiedlich erhellend und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Hinzu kommen die Infos, die abseits der WM schön länger existieren. Aus all dem zusammen habe ich hier, Stadt für Stadt, das Beste rausdestilliert. Die Mutter aller WM-Reiseführer, damit ihr euch nicht selbst durch den Wust an Angeboten lesen müsst. Also: Willkommen auf der Metaebene und viel Spaß bei der Reiseplanung!

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⚽ Nischni Nowgorod. „The city with the best commute“ hat der Guardian Nischni Nowgorod mal genannt, die Stadt mit dem besten Weg zur Arbeit. Denn den legen einige Menschen hier inzwischen mit der Seilbahn zurück, wenn ihr Privatleben auf der einen Seite der Wolga stattfindet und ihr berufliches auf der anderen. Bei Wikitravel sind sie in Sachen Sehenswürdigkeiten nicht unnötig überschwänglich: „Im Kreml gibt es eine Kirche, ein Kriegsdenkmal mit ewiger Flamme, ein annehmbares Kunstmuseum“, der Lonely Planet warnt vor einem „Mangel an guten Hotels“, weist aber immerhin auf schöne Restaurants in Kremlnähe hin (konkrete Restauranttipps hier). Was auch interessant klingt: diese Liste von Herrenhäusern, in einem von ihnen soll Peter der Große übernachtet haben.

Was muss man übers Stadion von Nischni Nowgorod wissen? 45.000 Sitze, die Architektur soll an die Wellen der Wolga erinnern. Nach der WM soll hier der örtliche Zweitligaverein Olimpjets Nischni Nowgorod seine Heimspiele austragen.

⚽ Jekaterinburg. Das Stadion in der östlichsten WM-Stadt ist vor alle für seine Tribüne bekannt, die aus dem Gebäude seitlich herausragt – das sorgt für spektakuläre Bilder. Fußballerisch ist Jekaterinburg allerdings keine Heldenstadt, aber immerhin hat Nationalspieler Fjodor Smolow mal beim FK Ural gespielt.

In Jekaterinburg wurde einst die russische Zarenfamilie ermordet, das Kulturmagazin „Calvert Journal“ weist auf den Weißen Turm hin, einen Wasserturm, der typisch ist für die Architektur des russischen Konstruktivismus (der Fernsehturm musste ja neulich dran glauben). Wer es lieber etwas nerdiger mag, schaut sich das QWERTY-Denkmal an oder sucht in der Stadt nach Spuren des alljährlichen Straßenkunst-Festivals „Stenograffia“. Oh, und ein Igel-Orakel haben sie in Jekaterinburg auch. Weiter geht’s von der östlichen zur westlichsten WM-Stadt.

QWERTY-denkmal

⚽ Kaliningrad. Geopolitisch wichtig, historisch interessant – über das frühere Königsberg gibt es viel zu erzählen. Das Stadion sollte eigentlich Ende März eröffnet werden, Schalke hatte sich, Gazprom sei Dank, angesagt. Das Spiel fiel aus, offiziell wegen Kälte. Während der WM finden hier mehrere Gruppenspiele statt, danach wird das Stadion „Baltika-Arena“ heißen – nicht nach dem Bier, sondern nach dem örtlichen Fußballclub. Apropos Bier: Von den Bars, in denen man in Kaliningrad Fußball gucken kann, kann ich das „Hmel“ (Hopfen) aus eigener Erfahrung empfehlen.

An jeder Ecke kann man in Kaliningrad Bernstein kaufen, oder noch besser: Man fährt aus der Stadt raus nach Jantarny, in den Ort, der nach dem russischen Wort für Bernstein benannt wurde. 95 Prozent der weltweiten Bernsteinmenge kommt hierher. Die offizielle FIFA-Seite empfiehlt, wenn auch in arg holprigem Deutsch, eine ganze Reihe Museen, von denen viele einen Deutschland-Bezug haben. Am Wichtigsten ist aber, dass in Kaliningrad Immanuel Kant geboren wurde und dort auch beerdigt ist. Fußball und Kant – die Verbindung liegt auf der Hand:

⚽ Rostow am Don. Ich bin ja arg versucht, die Liste der Rostower Sehenswürdigkeiten mit dem „Haus, das auf dem Kopf steht“ zu beginnen. Aber vielleicht fangen wir erst mal mit dem Stadion hier an: Es ist eine von mehreren WM-Arenen, die letztlich bescheidener ausfallen als die ursprünglichen grandiosen Pläne es vorsahen. Nach der WM wird die Zahl der Plätze von 45.000 auf 40.000 reduziert, und selbst die zu füllen dürfte schon eine Herausforderung werden für den FC Rostow.

Rostow ist die Partnerstadt von Dortmund und von Gera und liegt nicht weit von der ukrainischen Grenze. Man kann hier viel über die Geschichte der Donkosaken erfahren oder es sich einfach in einem der Fischrestaurants gut gehen lassen. Das Calvert Journal, immer eine gute Anlaufstelle für nicht ganz so mainstreamige Kulturtipps, weist auch auf Rostows Unterführungen hin, in denen man immer wieder Mosaike aus Sowjetzeiten findet, auch ein Bummel über den Markt klingt nach einer entspannten, nicht ganz so touristischen Idee.

⚽ Kasan. Für Kasan, das muss ich vielleicht vorweg schicken, habe ich eine Schwäche. Die freundlichen Menschen, der Kreml in seiner Kombination aus russischer Orthodoxie und Islam, die Uni, an der Lenin studiert hat. Das wird übrigens, vor allem für chinesische Touristen, ganz gezielt vermarktet. Wikitravel weist zusätzlich auf das „Museum des sozialistischen Lebens“ hin, beim Guardian kann man nachlesen, warum Kasan als Sporthauptstadt Russlands gilt.

Was noch? Mit dem Boot kann man sich von Kasan nach Weliki Bolgar schippern lassen und sich dort den „Tadsch Mahal von Russland“ ansehen (offiziell: die Weiße Moschee). Und wer sich eher für das Stadion interessiert als für Ausflüge ins Umland und Kulturprogramm: Der Guardian erklärt, was das Stadion mit einer Wasserlilie zu tun hat und was sein wichtigstes Alleinstellungsmerkmal ist.

Die Weiße Moschee bei Nacht
Die Weiße Moschee bei Nacht

⚽ Samara. Noch eine WM-Gastgeberstadt an der Wolga, der Fluss prägt das Bild der Stadt. Zu Sowjetzeiten durften Ausländer Samara nicht besuchen, weil die Stadt eine entscheidende Rolle im Raumfahrtprogramm der UdSSR spielte – mehr dazu im örtlichen Raumfahrtmuseum. Der Lonely Planet hält den für Stalin gebauten Bunker für die wichtigste Attraktion der Stadt, Wikitravel zählt eine ganze Reihe an Alternativen auf, die nicht so spektakulär, aber teilweise dennoch interessant sind (Bonus: Viele von ihnen kann man sich vorab per virtueller Tour ansehen).

Zum Stadion: Bilder vom Bau der Samara Arena gibt es hier, aktuell ist es das Stadion, das am weitesten hinter dem Zeitplan zur Fertigstellung hinterherhinkt. Wenn es denn mal fertig ist, soll es knapp 45.000 Zuschauer fassen und, in Anspielung an Samaras Geschichte, aussehen, als sei es gerade aus dem Weltraum gelandet.

⚽ Moskau. Dass Moskau die einzige Gastgeberstadt ist, in der WM-Spiele gleich in zwei Stadien ausgetragen werden, hat der eine oder andere vermutlich schon gehört, vielleicht auch, wie sich die Moskauer Begegnungen auf die beiden Spielorte verteilen und warum das Spartak-Stadion ein Chamäleon ist. Russian Football News hat außerdem einen guten Überblick über die vielen Moskauer Fußballvereine: Dynamo, Lokomotive, Spartak, Torpedo und ZSKA.

Kreml, Roter Platz, Basiliuskathedrale – die Klassikeer muss man hier ja kaum noch erwähnen. Der offizielle FIFA-Guide legt Besuchern neben dem Hotel Ukraina und dem Museum „Garage“ auch das Alte Telegrafenamt ans Herz, vergisst zu letzterem allerdings den Profitipp: Wer seitlich in den Gasjetnij Pereulok abbiegt, am Eingang irgendwas von „Coworking Space“ nuschelt und dann forsch in den Aufzug steigt, kann das Gebäude auch von innen besichtigen. Es ist noch Zeit übrig für einen Tagesausflug ins Umland? Außer dem Goldenen Ring bietet sich auch der Kunstpark in Nikola-Leniwets an.

Das Hotel Ukraina, im Hintergrund das Weiße Haus, Sitz der russischen Regierung
Das Hotel Ukraina, im Hintergrund das Weiße Haus, Sitz der russischen Regierung

⚽ Saransk. Die Hauptstadt von Mordwinien, das klingt erst mal nach Herr der Ringe. Tatsächlich liegt die eher kleine Stadt Stadt östlich von Moskau, ihr im Ausland bekanntester Einwohner ist Gérard Depardieu, der sich ja vor einigen Jahren nach Russland hat einbürgern lassen, der Steuern halber. Der Mann hat dort inzwischen sein eigenes Kulturzentrum. Die Liste der örtlichen Sehenswürdigkeiten ist kurz, zu ihnen gehört sicherlich das Museum für mordwinische Nationalkultur. Wenn das jetzt alles eher enttäuschend klingt, dann soll hier das Calvert Journal zitiert sein: „Saransk ist (…) eine Elegie an Billigbauten mit krass präsentierten farbigen Glasplatten und leuchtend buntem Stuck. Hier kann man die Kontraste, den Irrsinn und die Gastfreundschaft der russischen Provinz in ihrer Bestform erleben.“

Was das Stadion angeht, finden sich in diversen Quellen sehr unterschiedliche Einschätzungen. Während die offizielle FIFA-Seite poetisch textet, der Bau solle „Sonne, Wärme, Offenheit und Gastfreundschaft“ symbolisieren, sieht der Guardian die Vorzüge der Mordwinien-Arena eher nüchtern: Sie „liegt nah genug am Bahnhof wie auch am frisch fertiggestellten Flughafen für alle Fußballfans, denen eher nach Großstadtleben ist.“

⚽ Sotschi. Eigentlich müsste man immer vorweg schicken, dass „Sotschi“ hier nur so halb stimmt – wir reden von Adler, jedenfalls wenn es darum geht, wo die WM-Spiele stattfinden. Der Vorort liegt eine gute halbe Stunde von Sotschis Stadtzentrum entfernt, das kann man gut mit dem Bus fahren oder, für kleines Geld, auch mit dem Taxi. Andererseits, und das ist für anreisende Fans dann wieder sehr praktisch, liegt der Flughafen in Adler, das sorgt für kurze Wege zu vielen Hotels und ins Fischt-Stadion, das tagsüber sehenswert ist und bei Nacht erst recht. Wo kann man schon mal in der Halbzeitpause aufs Meer blicken?

Sotschi selbst ist ein seit Jahrzehnten populärer Bade- und Kurort, nach Restaurants und Cafés muss man also nicht lange suchen. Auch sonst ist die Stadt, sagen wir mal: touristisch durchaus entwickelt. Oder, etwas drastischer formuliert: „Sotschi ist ein heruntergekommenes Paradies mit Neonschildern, seltsamen Geschäften und sonderbaren Kuranwendungen, hat sich aber trotzdem einen gewissen Charme erhalten.“ Zwischen all dem Geblinke und der Musikbeschallung empfiehlt sich ein Besuch im Dendrarium, einer Art botanischen Garten, der am Hang mit Blick aufs Wasser liegt. Kühl, schattig, halbwegs leise – der perfekte Ort an einem heißen Sommertag.

Auf dem Weg ins Fischt-Stadion in Adler
Auf dem Weg ins Fischt-Stadion in Adler

⚽ Wolgograd. Das Stadion – 45.000 Plätze, ab 2014 ohne größere Zwischenfälle gebaut – liegt in Sichtweite der wichtigsten Wolgograder Sehenswürdigkeit: Auf dem Mamajew-Hügel erinnern eine riesige Frauenstatue und eine Gedenkhalle mit ewiger Flamme an die Opfer der Schlacht von Stalingrad. Selbst bei den Vorbereitungen für den Stadionbau wurden nicht explodierte Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden. An neun Tagen im Jahr heißt die Stadt im Gedenken immer noch „Stalingrad“ statt „Wolgograd“.

Wer in Wolgograd lecker essen gehen will, orientiert sich am besten am „Foodball“-Blog, das Wolgograder Sprachstudenten auf Deutsch, Englisch und Russisch betreiben. Und biegt danach vielleicht noch Richtung „Alaska Bar“ ab – dort soll es Wassermelonenbier geben. Wenn das kein Alleinstellungsmerkmal ist.

⚽ Sankt Petersburg. Hier hat der russische Fußball seine Wurzeln, hier wurde selbst während der Belagerung im Zweiten Weltkrieg noch Fußball gespielt, um die Moral in der Bevölkerung zu unterstützen. Natürlich schaut man sich hier die Eremitage, den Newski-Prospekt und die Isaakskathedrale und die Admiralität an, dazu die Auferstehungskirche und und und… ihr seht das Problem, es gibt einfach verdammt viel zu sehen. Schließlich war das hier lange Zeit die russische Hauptstadt. Auch eine Fahrt mit der Metro lohnt sich wegen zahlreicher prächtiger Stationen (wie das Metrofahren funktioniert, steht hier). Und wenn man mit der Stadt durch ist, gibt es ja auch noch die ganzen Ziele im Umland wie den Lagodasee.

Am Stadion wurde rund zehn Jahre gebaut, manchmal leckt das Dach. Passend zur Größe der Stadt und des Topvereins Zenits ist die Arena hier auch deutlich größer, sie fasst rund 64.000 Zuschauer. Das ist schon ein ziemlich spektakuläres Bauwerk geworden – jetzt, wo es endlich fertig ist. Und überhaupt, zur Frage, warum das alles so lang gedauert hat, gibt es doch eine ganz leicht nachvollziehbare Antwort:

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Das Foto der Weißen Moschee ist von Ramil Photo360 unter CC BY-SA 4.0, das QWERTY-Foto ist von Kristina Wienand – vielen Dank! Nächste Woche bin ich dann wieder in Moskau und schreibe von da die nächste reguläre Russland-Folge. Bis dahin, macht’s gut!



 

Russball, Folge 39: Komm, wir spielen Find-den-Ball!

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Worum es diese Woche nicht geht: Darum, auf welche Handgepäckregeln sich deutsche Fans einstellen müssen, wenn sie im Sommer mit Aeroflot nach Russland fliegen wollen. Das Thema ist zwar interessant, aber zu komplex, um es in zwei, drei Absätzen aufzuschreiben. Mehr dazu also hier, und schon geht’s los!

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⚽ Ihr kennt das Gefühl: Vom Einkaufen für die Party nach Hause kommen, in der Küche stehend die Tüten auspacken – und dann, beim Blick in den Kühlschrank, der Geistesblitz: Mist, ich hab vergessen, Bier zu kaufen! So ging das am Wochenende auch beim Lokalderby zwischen Lokomotive Moskau und Spartak Moskau, bloß nicht mit Bier. Es hatte ziemlich geschneit, frischer Schnee ist für gewöhnlich weiß – da hat es sich eingebürgert, anstelle eines schwarz-weißen Balles einen roten Ball zu nehmen.

Auf den offiziellen Nahaufnahmen ist der Ball meist zu sehen. Von der Tribüne aus sah das ganz anders aus. (Foto: Lokomotive Moskau)
Auf den offiziellen Nahaufnahmen ist der Ball meist zu sehen. Von der Tribüne aus sah das ganz anders aus. (Foto: Lokomotive Moskau)

Den hatte bloß leider niemand besorgt – offizielle Sprachregelung: Der Sponsor stellt leider nur weiße und gelbe Bälle zur Verfügung. „Wir konnten vor lauter Schnee den Ball nicht sehen“, berichtet eine Freundin, die im Stadion war. „Wie kann man vergessen, sich um rote Bälle zu kümmern in einem Land, wo es im Winter fast permanent schneit?“ Sie ist nicht der einzige genervte Fan – erst recht nicht unter denen, die zwei Stunden im Stadion in der Kälte standen, ohne das Spiel richtig verfolgen zu können. Aber immerhin, ein schönes Spott-Format ist aus dem Fußball-Fail entstanden: „Finde den Ball“ bei Sports.ru – meine Lieblingslösung, wenn auch nicht die richtige, ist Nummer 3.

⚽ Dieser Text ist mir durchgegangen, als er im Februar veröffentlicht wurde, aber er hat sich gut genug gehalten, um ihn auch heute noch zu verlinken. Okay, die letzten vier Absätze fühlen sich etwas seltsam und drangeklatscht an. Aber der restliche Artikel wirft einen gründlichen Blick auf mögliche Gewalttaten russischer Hooligans bei der Fußball-Weltmeisterschaft.

Die Einschätzung von Autor Marc Bennetts in kurz: Hooligan-Attacken bei der WM sind nicht auszuschließen, aber zumindest im großen Maßstab doch eher unwahrscheinlich. Weil nun mal bei solch einem Renommierprojekt mit massiver Innen- und Außenwirkung ganz genau darauf geachtet wird, dass niemand die schöne Inszenierung ramponiert.

⚽ Was macht eigentlich Miroslav Klose? Er passt, mit Umweg über Thomas Brolin, zu Wladimir Putin, der darauf hin zu Gianni Infantino passt. Klingt nach Fiebertraum, ist aber das offizielle FIFA-Video anlässlich von nur noch 100 Tagen bis zur Fußball-Weltmeisterschaft.

Ein Fußball spielender Putin, das ist eher selten in der präsidialen Selbstinszenierung. Normalerweise zeigt er sich lieber beim Judo oder beim Eishockey.

⚽ Stanislaw Tschertschessow ist der Joachim Löw von Russland, Anfang des Jahrtausends waren sie sogar mal beim gleichen Verein, Tschertschessow allerdings damals noch als Spieler. Noch heute spricht Russlands Nationaltrainer super Deutsch, was er neulich genutzt hat, um mit Löw ein bisschen über die Probleme zu frotzeln, die man als deutscher oder als russischer Coach vor der WM so hat.

„Wir haben die gleichen Symptome, aber die Diagnose ist eine andere: Er hat zu viele Spieler, ich habe zu wenige“, hat Tschertschessow das Gespräch in einem dpa-Interview zusammengefasst. Ein rundum lesenswertes Stück, in dem es auch um die Chancen von Roman Neustädter und Konstantin Rausch geht, bei der Weltmeisterschaft für Russland auflaufen zu dürfen.

⚽ Ach komm, dann direkt noch ein Update zu einem anderen russischen Trainer: Leonid Sluzki, letztes Jahr ehrenhaft bei Hull City gescheitert, könnte bald schon in die Niederlande wechseln, genau genommen nach Gelderland. Vitesse Arnheim hat bestätigt, dass Sluzki sein Lieblingskandidat ist, um Henk Fraser abzulösen. Der Club ist aktuell Tabellensechster in der Eredivisie, also der obersten Liga. Sluzkis Kalkül, sich mit dem Job in Hull für andere internationale Positionen zu empfehlen, scheint also aufzugehen.

⚽ So, jetzt denke ich mal an einen Moskauer Fußballverein und ihr ratet, an welchen, okay? Als kleinen Tipp gibt es hier das Logo.

kscheib russball logo tschertanowo

Okay, das ist erkennbar weder Lokomotive noch Spartak oder ZSKA – zu wenig Rot. Von den Farben her könnte es Dynamo sein, aber deren Logo sieht auch anders aus. Torpedo also? Nein, nein, nein, falsch, falsch, falsch. Der Verein, zu dem die Raute mit den Teufelshörnern gehört, ist Tschertanowo Moskau.

Wenn euch das nichts sagt: Das ging mir bis vor ein paar Tagen genau so. Dann las ich dieses Vereinsporträt und erfuhr: Tschertanowo stellt prinzipiell ausschließlich Spieler auf, die an der eigenen Fußball-Akademie ausgebildet wurden. Kommt man so in die oberen Ligen? Bisher nicht. Ist es ein interesanter Ansatz in einem Land, das bei der Nachwuchsförderung der internationalen Konkurrenz hinterherhinkt? Ganz bestimmt.

⚽ „Ich werde eine große Mauer bauen – und niemand baut Mauern besser als ich, glauben Sie mir – und ich baue sie sehr kostengünstig. Ich werde eine große, große Mauer (…) bauen und ich werde Russland für diese Mauer bezahlen lassen.

Okay, das ist jetzt ein bisschen überspitzt, war aber das erste, was mir zu dieser Meldung hier einfiel: „England Requests 6-Meter Wall Around Training Pitch for World Cup in Russia“. Wohlgemerkt: Eine Zwei-Meter-Mauer gibt es schon (Fotos hier zum Blättern), die ist den Engländern bloß nicht hoch genug.

In Moskau kann einem die englische Nationalmannschaft dieser Tage schon mal auf der Straße begegnen, während der WM will sie sich aber mit einer hohen Mauer abgrenzen
In Moskau kann einem die englische Nationalmannschaft dieser Tage schon mal auf der Straße begegnen, während der WM will sie sich aber mit einer hohen Mauer abgrenzen

⚽ Gibt es Gesetze in diesem Land, die Schwule und Lesben diskriminieren? Sind Pride-Paraden verboten? Herrscht in der Bevölkerung schwulenfeindliche Stimmung? And diesen und anderen Fragen orientieren sich die Macher des Gay Travel Index. In der gerade veröffentlichten Ausgabe für 2018 schneidet Kanada am besten ab, Deutschland ist eines von mehreren Ländern auf Platz drei.

Wer Russland finden will, muss auf die vorletzte Seite der Liste runterscrollen – dahin, wo die Ländernamen rot hinterlegt sind. Da kann Alexei Smertin noch so sehr betonen, dass LGBT-Fußballfans ohne Sorgen zur WM kommen können. Solange hier so viele Fans schwulenfeindlich sind und Fußball-Offizielle unwidersprochen Hass-Sprüche raushauen können, hat Russland seinen 157. Platz leider verdient.

⚽ Zum Schluss noch ein bisschen Wolfscontent: Alma lebt im Zoo der WM-Gastgeberstadt Rostow am Don, und neulich haben die Tierpfleger ihr einen Fußball ins Gehege gelegt. Das Ergebnis macht großen Spaß zu gucken, jedenfalls, wenn man das penetrante Musikbett ausschaltet.

Etwas gehässig verkauft das Video TV Swesda, der offizielle Fernsehsender des russischen Verteidigungsministeriums. (Doch. Wirklich. Ja. Ich weiß.) „Wölfin zeigt russischer Nationalmannschaft, wie man richtig Fußball spielt“, heißt dort die Überschrift.

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Eh wir uns verabschieden noch schnell die Lösung für ein Problem, das euch sicherlich auch schon länger beschäftigt: Russball gibt es bekanntlich nur einmal in der Woche, das reicht natürlich nicht, wenn man jeden Tag was Neues über das Fußball-Land Russland lesen will.

Darum blogge ich ab sofort für die Kollegen drüben bei n-tv einen täglichen WM-Countdown – ein Format, auf das ich mich schon deshalb freue, weil man da auch mal etwas mehr in die Tiefe gehen kann als in einem Newsletter. Was wir mit dem Countdown genau vorhaben, steht hier, die erste richtige Folge erscheint dann im Laufe des Mittwochs hier.

Wenn es Themen gibt, zu denen ihr dort etwas lesen wollt: Sagt gerne Bescheid!



 

Russball, Folge 38: Fußball bei eisigen Temperaturen

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Was man so macht bei einer Kältewelle in Russland: Erst mal angrillen. Neben dem Gefühl, zu den ganz Harten zu gehören, nehme ich auch eine Erkenntnis mit: Irgendwann ist es so kalt, da beginnt sogar der russische Supergrillanzünder (Mit Kirscharoma! Und ner halbnackten Frau auf der Flasche!), langsam zu gefrieren. Wer den so entstandenen Slushie auf die Kohle kippt, läuft Gefahr, mit Grillanzünder das Feuer zu löschen – und damit die Ironieschallmauer zu durchbrechen.

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⚽ Was das mit Fußball zu tun hat? Viel, denn an diesem Wochenende ist nach 80 langen Tagen die russische Winterpause vorbei. Endlich wieder Liga-Fußball! Glückliche Fans rennen in die Stadien – am Sonntag bei vorhergesagten 6 Grad unter null zum Beispiel zum Lokalderby zwischen Lokomotive Moskau und Spartak. Für die Begegnung versprach Loko-Präsident Ilja Gerkus gestern schon einen Rekord mit Ansage: „Fünf Tage vor dem Spiel (…) sind mehr als 85 Prozent der Eintrittskarten verkauft. Wir können schon jetzt sagen, dass wir bei den Einnahmen aus diesem Spiel einen neuen Vereinsrekord aufstellen werden.“

Loyale Fans in Ehren, ganz unumstritten sind Fußballspiele bei Minusgraden in Russland aber nicht. Lutsch-Energija Wladiwostok zum Beispiel muss heute Abend gegen den FK Tosno ran, auch das voraussichtlich bei Temperaturen deutlich unter null. Für Trainer Aleksandr Grigoryan bedeutet das nichts anderes, als willentlich die Gesundheit von Spielern und Fans aufs Spiel zu setzen. „Was ist das für ein Fußball, wenn sich die Leute die Zehen abfrieren? (…) Fußball soll Freude bringen und keine Folter sein.“ Irgendwann, ist sich Grigoryan sicher, werde ein Spieler sich schwer verletzen oder erkranken, und dann müsse jemand die Verantwortung übernehmen.

⚽ Apropos Winterwetter: Bei Zenit St. Petersburg hatten sie sich ja ein schönes Trainingslager in Italien einfallen lassen. Flucht aus dem kaltfingerigen Würgegriff von Väterchen Frost, ab in den Süüüüden. Hat ja auch super geklappt. Nicht.

⚽ Wenn sie aus Italien zurück sind, müssen die Zenit-Jungs dann am 8. März gegen RB Leipzig ran. Da lohnt sich doch ein Blick darauf, was russische Fußballfans aus der örtlichen Fachpresse über den Europa-League-Gegner der Petersburger erfahren. Zenit-Trainer Roberto Mancini betreibt schon mal Erwartungsmanagement und spricht von einem „jungen Team mit viel Erfahrung“, das ein sehr schwieriger Gegner sein werde.

Alexander Bubnow von Sport FM hält dagegen: Im Vergleich zur letzten Saison sei Leipzig diesmal deutlich schwächer, mit 100 Prozent Einsatz könne Zenit das deutsche Team also schlagen. Als „gut organisierte, disziplinierte Mannschaft, die ergebnisorientiert spielt“ wird Leipzig anderswo beschrieben, für Fußballverhältnisse sei der junge Klub „noch ein richtiges Kleinkind“. Und Sport Express fasst zusammen: „Aktives Pressing (…), schneller Wechsel von der Verteidigung zum Angriff und viel Kombinationsspiel – in seiner aktuellen Form ist Leipzig sehr stark.“

⚽ Gerade ist in der Hauptstadt wieder ein großes Infrastrukturprojekt abgeschlossen worden, seit Montag hat Moskaus ohnehin riesiges Metronetz fünf neue Haltestellen. Auf diesem Bild sind sie als kurze, türkisfarbene Linie dargestellt:

kscheib russball moskau metro

Vom Delowoi Zentr, der Haltestelle unter den Hochhäusern von Moscow City, kommt man nun also schneller zu den Stationen ZSKA und Petrowski Park/Dynamo. Anders gesagt: zu zwei Moskauer Fußballstadien, in denen bei der Fußball-Weltmeisterschaft nun so gar keine Spiele stattfinden. (Dynamo ist im Moment sogar nur eine große Baustelle.) Andererseits: Einem U-Bahn-System, mit dem an Spitzentagen knapp zehn Millionen Menschen unterwegs sind, tut jede Entlastung gut – erst recht im Stadtzentrum. Und wenn das Dynamo-Stadion wirklich so schick wird, wie sich das in diesem Video andeutet, dann lohnt es sich für WM-Touristen auch, da ohne Spiel einfach mal vorbeizuschauen.

⚽ Wenn das mal keine Knaller-Überschrift ist: „Russische und ausländische Fans dürfen psychotrope Substanzen zu WM-Spielen mitnehmen“. Substanz ist dann aber genau das, was dem eigentlichen Artikel fehlt. Es geht, schlicht gesagt, um Menschen, die von ihrem Arzt zum Beispiel Cannabis verordnet beommen haben. Die dürfen, wenn sie einen beglaubigten Schrieb vom Arzt dabei haben, dieses Cannabis auch im Stadion dabeihaben, jedenfalls in einer für Medizin üblichen Menge.

Was anfängt wie eine Skandalmeldung, ist Ende für fast alle Leser egal – und für einige Menschen mit Multipler Sklerose oder chronischen Schmerzen die Möglichkeit, trotz ihrer Erkrankung ein WM-Spiel zu sehen. Aber das ist natürlich sehr viel weniger spektakulär als die urprüngliche Überschrift.

⚽ Nun findet ja jeder andere Dinge attraktiv, aber: Täusche ich mich, oder ist „durchtrainierter Fußballspieler mit ambitioniertem Bart sitzt halbnackt auf seinem zerwühlten Bett und baut an einem Modellboot“ schon eine ziemlich spezifische Nische? Championat.com besetzt sie aktuell mit einem großen Interview mit Maksim Beljajew, der sich ansonsten vor allem über seine Liebe zu Büchern auslässt und in Moskaus größtem Buchladen fotografiert wurde.

Beljajew, der seine Karriere bei Lokomotive Moskau begann und aktuell bei Arsenal Tula spielt, spricht über Agatha Christie, J.R.R. Tolkien, Jules Verne und die Scifi-Romanreihe „Metro 2033“. Und wenn er dazwischen so Klopper raushaut wie „Wir brauchen einen Alleinherrscher, der alles kontrolliert, sonst gibt es Chaos“, dann scrollt man halt drei Zeilen weiter: Ob er am 18. März zur Wahl gehen wird, will der Interviewer wissen – och nö, sagt Beljajew, eher nicht, da ist bestimmt irgendwas, ein Fußballspiel oder so. Aber wenn irgendwie doch, dann natürlich Putin. Ach ja. Alleinherrscher. Dann passt’s ja.

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Zum Schluss noch was für euren Kalender: Gerade hat Russlands Nationalelf ihre Länderspielplanung fürs restliche Jahr veröffentlicht. Nach der WM im eigenen Lande ist erst mal Pause bis September, dann folgen bis Jahresende sechs Begegnungen. Eine davon wollt ihr euch vielleicht schon mal notieren: Am 15. November kommen die Russen zu einem Spiel nach Deutschland.

Sobald bekanntgegeben wird, in welcher Stadt die beiden Nationalmannschaften gegeneinander antreten, erfahrt ihr’s hier. Und falls ihr Freunde habt, die das auch interessiert, können sie sich hier für den Russball-Newsletter anmelden. Bis nächste Woche, macht’s gut!



 

Russball, Folge 37: Bier, das Getränk zivilisierter Fans

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Eins gleich vorneweg: Wir halten uns diese Woche nicht auf mit Stanislaw Manajew. Ja, der Mann aus dem Kader des FK Tosno hat sich tatsächlich mit einem 5000-Rubel-Schein die Nase geputzt. Ja, das ist komplett geschmacklos, wenn man bedenkt, dass jemand, der in Russland den gesetzlichen Mindestlohn verdient, im Monat gerade mal zwei solcher Scheine zur Verfügung hat. Mehr gibt es dazu nicht sagen, höchstens noch: Wer auf dem Platz nicht von sich reden macht, muss eben andere Wege wählen.

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⚽ Der Besitzer der russischen Supermarktkette „Magnit“, Sergei Galizki, ist gerade aus dem Unternehmen ausgestiegen und hat seine Anteile an die Staatsbank VTB verkauft. Warum diese Info in einen Newsletter zum Fußball in Russland gehört? Wegen der Antwort, die Galizki auf die Frage gab, was denn nun für ihn kommt: „Ich werde in Krasnodar leben und mich wohl dort um den Kinder- und Jugendfußball kümmern. Das ist alles, denke ich.“

Der FK Krasnodar gehört zu den Top-Vereinen der Premjer-Liga, Galizki selbst hat ihn vor zehn Jahren gegründet und ist noch heute sein Präsident. Und der Verein ist bemerkenswert, weil er sehr viel mehr Wert auf Nachwuchsförderung legt als seine Mitbewerber (mehr dazu hier). Darum ist der Ausstieg eines Supermarkt-Magnaten aus seinem Unternehmen eben auch ein Thema für Russlands Sportjournalisten: „Das Leben der Nachwuchsspieler des FK Krasnodar wird noch besser“, heißt einer der Kommentare.

⚽ Nicht nur fußballerisch ist die Zeit zwischen dem Confed-Cup im vergangenen Sommer und der WM in diesem Jahr eine Durststrecke, sondern auch ganz wortwörtlich: Abseits solcher großen Turniere darf in Russland kein Alkohol im Stadion verkauft werden, was die Fans naturgemäßig wenig begeistert. Sergej Prjadkin, Chef der obersten russischen Liga, hat darum jetzt mal einen Testballon steigen lassen.

Budweiser oder Klinskoje? In solchen Bechern wurde beim Confed-Cup Bier in den russischen Stadien verkauft.
Budweiser oder Klinskoje? In solchen Bechern wurde beim Confed-Cup Bier in den russischen Stadien verkauft.

Ja, der Kampf gegen den Alkoholismus sei weiter wichtig, so Prjadkin – aber Bierhersteller seien eben auch eine mögliche neue Einnahmequelle für die Fußballvereine. Die Premjer-Liga arbeite deshalb daran, dass Bier im Stadion und Biermarken als Sponsoren bald erlaubt sind. Schließlich, so Prjadkin, ist Bier „ein normales Getränk zivilisierter Fans“. Und die Fußballseite „Bombardir“ weist darauf hin, dass in Deutschland das Stadionbier eine lange Tradition hat. Randale, heißt es dort, werde mit Überwachungskameras verhindert.

⚽ Wo wir gerade beim Alkohol sind: Пробка, gesprochen [PROBka], hieß mal eine Fußballkneipe bei uns um die Ecke. Fußballfans trinken gerne, пробка bedeutet Korken, die Logik war halbwegs einleuchtend. Im übertragenen Sinne ist eine пробка aber auch ein Stau – der Korken also, der verhindert, dass der Verkehr fließt.

An das Themenfeld zwischen Korken knallen lassen und im Stau stehen musste ich bei dieser Meldung hier denken: Damit trotz Moskaus legendär verstopfter Straßen alle WM-Spiele pünktlich anfangen, dürfen die Mannnschaftsbusse auf den Spezialspuren fahren, die auch der ÖPNV in Moskau nutzt. Auch offizielle Delegationen und Journalisten bekommen dieses Privileg – vorausgesetzt, sie sind in Shuttlebussen unterwegs. (Die Regelung gilt auch in den anderen Gastgeberstädten, Details hier.)

⚽ Als Rheinländerin in Russland ist mir das Prinzip, dass vor der Fastenzeit eine Figur verbrannt wird, vertraut. In Köln stirbt für unsere Sünden der Nubbel in den Flammen. In Russland ist – nach den „Masleniza“-Tagen, in denen man so viele Pfannkuchen wie möglich isst – eine große Strohfigur fällig. Traditionell ist das meist eine Frauenfigur in traditioneller Tracht, die als „Frau Masleniza“ für den hoffentlich bald beendeten Winter steht.

In der Stadt Perm haben sich einige Menschen in diesem Jahr auf ein populäres Feindbild geeinigt: Sie zündeten eine Strohpuppe an, der sie das Gesicht von Grigori Rodschenkow angesteckt hatten, dem Doping-Whistleblower. Damit keine Missverständnisse aufkommen, hat der Puppe auch noch jemand ein „WADA“-Schild ans Hemd geheftet.

kscheib russball perm maslenitsa

Einen lebenden Menschen symbolisch verbrennen und dann um die brennende Figur tanzen. Wo ist das Facepalm-Emoji, wenn man es braucht?

⚽ Welcher russische Verein erreicht in der Europa League die nächste Runde? Sergei Andrejew, sowjetischer Nationalspieler und heute Trainer, macht sich wenig Illusionen: Spartak, Zenit und ZSKA sind nach seiner Einschätzung alle chancenlos, bloß Lokomotive Moskau kommt weiter. So weit, so offensichtlich – Loko ist der einzige Verein, der sein Hinrundenspiel gewonnen hat.

Als ich mir zu Andrejew ein wenig Hintergrund anlesen wollte, bin ich auf ein interessantes Detail gestoßen: Der Mann ist einer von knapp 75 russischen Fußballern im Grigori-Fedotow-Klub. Nun ist das nicht die Sorte Verein, deren Mitglieder sich einmal im Jahr treffen und bei Mineralwasser die Tagesordnung abnicken und den Vorstand endlasten.

Der Fedotow-Klub ist eher eine Liste, eine Art Hall of Fame. Alle russischen Spieler, die in ihrer Profikarriere mindestens 100 Tore geschossen haben, gehören dazu. (Wer Spaß an sowas hat, findet im Kleingedruckten viel Unterhaltsames: So zählen zum Beispiel Tore in der Liga, in der Nationalmannschaft und bei Spartakiaden. Für russische Spieler im Ausland gilt: Tore in der ersten Bundesliga zählen, in der zweiten leider nicht.)

⚽ Nicht ausgestrahlt wird die Fußball-WM in der Ukraine, aus politischen Gründen und vielleicht auch als als Reaktion darauf, dass der Eurovision Song Contest in Kiew nicht im russischen Fernsehen gezeigt wurde.

Für ukrainische Fußballfans dürfte das allerdings kein großes Problem sein – und das nicht nur, weil ihre Mannschaft sich nicht qualifiziert hat. Schließlich sind viele russische TV-Sender zwar in der Ukraine geblockt. Aber wie geübt die Menschen darin sind, solche Blockaden zu umgehen, hat gerade erst diese Statistik gezeigt: VK, Odnoklassniki, Yandex – alle offiziell gesperrt und trotzdem weiterhin unter den populärsten Websites in der Ukraine. Heißt für die WM: Was der Fernseher nicht liefert, liefern halt VPN und Livestream.

⚽ Fünf WM-Spiele werden in Rostow am Don stattfinden, nun lässt sich der stellvertretende Gouverneur dort ins Portemonnaie gucken und zählt auf: 38 Milliarden Rubel für den schicken neuen Flughafen, 18 Milliarden fürs Stadion, dazu noch diverse Brücken- und Straßenbauprojekte, Insgesamt hat die Stadt so laut eigenen Angaben mehr als 100 Milliarden Rubel investiert, um sich weltmeisterschaftstauglich zu machen. Umgerechnet sind das rund 1,4 Milliarden Euro.

⚽ Zum Abschluss noch eine kleine Übersicht, mit welchen neuen Gesetzen sich die russische Regierung auf die WM vorbereitet. Zum einen läuft bis Ende Mai ein Pilotversuch zum steuerfreien Einkaufen für Touristen – bei Erfolg soll es im Anschluss direkt auf alle WM-Austragungsorte ausgedehnt werden. Damit bekämt ihr also die Mehrwertsteuer auf eure WM-Handyhüllen und WM-Hoodies und WM-Federmäppchen und WM-Teekannen zurück (ja, das gibt’s alles wirklich).

Der Verkehrsminister möchte unterdessen bitte ein Gesetz bewilligt bekommen, wonach er (vermutlich nicht persönlich) während des Turniers Drohnen abschießen lassen darf, die zum Beispiel ohne Erlaubnis über ein Stadion fliegen. Es ist nicht die einzige Akte mit WM-Vermerk auf dem Schreibtisch des Ministers: Gerade hat er auch ein Bauunternehmen verklagt, das für zwei der Stadien zuständig war. Knackpunkt ist offenbar die Frage, warum die Projekte so viel teurer wurden als geplant: Lag’s, wie die Firma sagt, an der Inflation? Oder ist da doch der ein oder andere Rubel, na, sagen wir mal: versickert?

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Ein Update gibt es noch nachzureichen zur Russball-Folge 34 – das war die mit der Liste russischer Hotels, die versuchen, WM-Reisende mit überhöhten Preisen abzuzocken. Gerade wurde bekannt, dass sie dafür insgesamt rund 88.000 Euro an Bußgeldern zahlen mussten. Guckt man allerdings genauer, verteilt sich diese Strafe auf fast 400 Hotels bzw. Hotelbesitzer. Im Schnitt also vielleicht 250 Euro pro Fall. Ob das irgendeine abschreckende Wirkung hat?



 

Russball, Folge 28: Homophobie unter russischen Fußballfans

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Willkommen zu Russball, wo euch versprochenerweise diese Woche niemand frohe Weihnachten wünschen wird – schließlich ist das kommende Wochenende hier in Russland ein ganz normales und Weihnachten erst im Januar. Stattdessen eine Quizfrage: Was dauert in Spanien zehn Tage, in Frankreich 14, in Italien 16, in Deutschland 22 und in Russland 80 Tage? Könnt ihr ja beim Lesen mal im Hinterkopf draufrumdenken.

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⚽ Watutinki – ein Name, den man sich merken muss, und dessen Herkunft die Süddeutsche hier erklärt. In Watutinki also wird die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ihr WM-Quartier haben. Kein Strandleben in Sotschi, leiderleider, stattdessen ein Hotelkomplex in einem Moskauer Vorort mit rund zehntausend Einwohnern. Rund zwei Monate vor WM-Anpfiff soll dort ein neuer Gebäudetrakt fertig werden und, wenn man sich die DFB-Bilder anschaut, ziemlich schick aussehen.

Aktuell hat der „Watutinki Hotel Spa Complex“ noch einen, sagen wir mal, eher traditionellen Charme: dunkles Holz, Blumenmuster, bodenlange Gardinen, hier und da glänzt mal ein Kofferständer oder eine Stehlampe aus Metall. Gelsenkirchener Barock trifft Neunzigerjahre-Jugendzimmer.

kscheib russbal watutinki einzelzimmer

Die Fifa zeigt in ihrer Übersicht auch noch diesen weitgehend tageslichtfreien Besprechungsraum. Aber wie gesagt, das ist der Ist-Zustand – nicht die Hotelvision, die da ab April hoffentlich wahr wird. Ob im neuen Flügel dann wohl dieselben Preise gelten wie im alten? Dann können sich die Fußballspieler schon mal auf taschengeldtaugliche Behandlungen freuen: Laut Hotelpreisliste gibt es im Spa- und Therapiebereich ein EKG schon für 500 Rubel (7 Euro), zehn Minuten Whirlpoolbad für die Beine kosten sogar nur 250 Rubel, und wer sich mal richtig was gönnt, bekommt für 1000 Rubel eine halbe Stunde den Rücken massiert, „vom siebten Halswirbel bis zum Steißbein“. Ist das auch geklärt.

⚽  Apropos DFB und Hotels: Letzte Woche hatte ich ja hier erwähnt, dass die Werbung für das Fan-Camp am Nordrand von Moskau mit einer sehr viel besseren ÖPNV-Anbindung lockt, als tatsächlich existiert. Das scheint allerdings die Fans nicht vom Buchen abzuhalten: Eines von vier möglichen Paketen ist bereits komplett ausverkauft.

⚽  Und wenn hier eh gerade so eine Art DFB-Themenschwerpunkt entsteht, dann noch eine Information, die zwar nichts mit Russland zu tun hat, mir aber am Herzen liegt: Nachdem ein Unterstützer der Initiative „Sleeping Giants“ bei Twitter darauf hingewiesen hat, wirbt der DFB seit ein paar Tagen nicht mehr auf der Hetzseite Breitbart. Eine höfliche Beschwerde, und schon wieder ein Werbekunde weniger für Rassisten. Es geht voran.

⚽ Die Fußball-App „Forza Football“ hat sich mit Stonewall UK zusammengetan, um Fußballfans zu ihrer Haltung zu Schwulen und Bisexuellen zu befragen. „Would you feel comfortable if a player in your national team came out as gay or bisexual?“, heißt die Hauptfrage, auf die weltweit 76 Prozent aller Befragten mit „ja“ geantwortet haben. Für Russland liegt die Zahl der Umfrage zufolge bei 47 Prozent, das sei eine deutlich höhere Akzeptanz als noch vor drei Jahren (21 Prozent).

Klingt gut, aber hält es dem Realitätstest stand? Gerne hätte ich mal einen Blick auf die Methodik der Homophobie-Umfrage geworfen – wie viele der insgesamt „mehr als 50.000 Befragten auf fünf Kontinenten“ kamen denn aus Russland? Leider stand niemand für eine Stellungnahme zur Verfügung.

Aus dem Bauch heraus kommt mir so viel Akzeptanz unter russischen Fußballfans eher unwahrscheinlich vor, und siehe da: Sports.ru hat seinen Lesern dieselbe Frage gestellt. Ergebnis bei knapp 45.000 Stimmabgaben russischer Leser: Rund 70 Prozent würden negativ auf das Coming-Out eines schwulen oder bisexuellen Spielers in der russischen Nationalmannschaft reagieren.

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⚽ Rechtlich gehört die Krim zur Ukraine, faktisch hat Russland sie annektiert. Nun berichtet ein Newsportal mit Sitz auf der Krim, dass man von dort aus keine Karten für die Fußball-Weltmeisterschaft im Internet kaufen könne – egal, ob man angibt, in Russland oder in der Ukraine zu leben.

Die FIFA erklärt,sie habe keine geographischen Beschränkungen einbauen lassen, wollen nun aber schnell dafür sorgen, dass das Problem gelöst wird. Menschen auf der Krim, die dennoch Probleme beim Buchen haben, können unterdessen tricksen: Wer mobil und mit russischer SIM-Karte auf die Seite geht, kann ganz normal seine Karten aussuchen.

⚽ Moskau macht seinen Taxiunternehmen Auflagen, wenn sie eine Lizenz für die Dauer der WM bekommen wollen. Dazu gehört nicht nur, dass die Fahrer keine ausstehenden Knöllchen haben dürfen. Sie bekommen auch alle eine Broschüre ausgehändigt, um ihr Englisch zu verbessern.

Maxim Lixutow, Moskaus stellvertretender Bürgermeister und Transportchef, zählt auf: „Sie sollten zum Beispiel ausländischen Touristen die Tarife erklären können, (….) die Fahrtdauer oder die beste Route zum Ziel benennen.“ Das Wichtigste sei, dass niemand vom Taxifahrer übers Ohr gehauen werde (im Gegensatz zu damals beim Confed-Cup.

⚽ In der großen Tradition von Paul dem Oktopus wirft die BBC einen Blick auf die russischen WM-Orakeltiere. Was soll ich sagen, es ist ein Erdmännchen dabei, und das ist exakt so niedlich, wie ihr es euch gerade vorstellt. Hier geht’s zum Video.

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⚽ Was man halt so an Ideen hat, wenn ein neues Jahr vor der Türe steht: Leonid Fedun möchte den russischen Fußball revolutionieren. Der Mann hat durchaus ein eigenes Interesse an Russlands Fußballzukunft, immerhin gehört ihm Spartak Moskau. Nun schlägt er beispielsweise vor, die Begegnungen in der Liga nicht mehr komplett auszulosen. Stattdessen sollen einige Vereine gesetzt werden, so dass die Spiele im November und März in den milderen Regionen des Landes ausgetragen werden statt im Schneegestöber.

Auch zur Zahl der Teams in Russlands höchster Liga hat Fedun eine klare Vorstellung: In der RFPL sollen künftiger nur noch Mannschaften spielen, die mindestens 15.000 Fans ins Stadion locken, alles andere rechne sich einfach nicht. (Interessanter Nebenaspekt: Spartak nimmt Fedun zufolge pro Spiel zwischen 50 und 60 Millionen Rubel ein, also unter einer Million Euro.) Nach dieser Regel gäbe es also weniger Klubs als bisher in der Liga, sie sollten dafür aber öfter spielen, um eben mehr Geld reinzuholen. Feduns ganzen Revolutionsplan, auch zum russischen Pokal und zum Umgang mit Nachwuchsspielern, dokumentiert Sport Express.

⚽ Zwei Monate ist es her, dass Lokomotive Moskau einen englischsprachigen Twitteraccount gestartet hat. Alles mit Hilfe von Google Translate, witzelte der Verein in seinem ersten Tweet. Knapp 300 Tweets später, und was als Witz gedacht war, scheint wie eine plausible Alternative zu dem Sprachmurks, der da regelmäßig rausgehauen wird.

Was lernen wir daraus? Erstens: Muttersprachler engagieren lohnt sich. Und zweitens: Solange das so wenige Russen glauben, wird es bei der Fußball-WM garantiert genau so viele unterhaltsame Fehlübersetzungen geben wie 2014 bei den Winterspielen in Sotschi.

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Zum Schluss noch ein kleiner Servicehinweis für alle, die erwägen, sich während der WM in Russland mit dem Zug fortzubewegen. РЖД, Russlands Eisenbahn-Staatskonzern, hat eine Frage beantwortet, die regelmäßig für Streit zwischen Passagieren führt: Wer im Langstrecken-Liegewagen die obere Liege gebucht hat, darf nicht einfach auf die untere umziehen. Auch der Stauraum unter der unteren Liege und das Tischchen, an das man sich zum Essen setzen kann, gehören dem Passagier, der die untere Liege gebucht hat. Also, ihr seid gewarnt.

Ach so, und das mit den 22 Tagen in Deutschland und 80 in Russland? Ist natürlich die Winterpause der obersten Fußball-Liga. Macht’s gut, bis nächste Woche – und keine frohe Weihnachten!



 

Russball, Folge 26: Moskau, Kasan, Sotschi

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Das war eine fleißige Woche seit der letzten Russball-Folge: Am Mittwoch haben Max-Jacob Ost und ich uns für seinen Rasenfunk-Podcast über den Fußball in Russland und vor allem die Vorbereitungen auf die Weltmeisterschaft im kommenden Sommer unterhalten: Russland vor der WM 2018 – Kurzpass 044.

Freitag dann die WM-Auslosung (dazu unten mehr), und am Montag hat VICE ein Interview gebracht, für das René Bosch und ich vor allem über Tipps für deutsche Fußball-Fans gesprochen haben, die nach Russland reisen wollen: Hotelpreise, Sprachkenntnisse, Visum, die wichtigsten Apps, die man vorher runterladen sollte. Und um meinen Lieblingsitaliener hier in Moskau ging’s auch: Was erwartet Fans in Russland?

Sowohl Max als auch René verdanke ich auch einige neue Blog-Leser, Twitter-Follower, Newsletter-Abonnenten – wie schön, herzlich willkommen! Heute geht’s fast ausschließlich um die WM, zum Start mit einem Blick auf die drei Städte, in denen die deutsche Mannschaft ihre Gruppenspiele austrägt.

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⚽ Muss ich Moskau überhaupt noch erklären? Kommt doch ständig vor hier, bei Russball und in den anderen Blogposts. Es ist die Stadt, wo die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in jedem Bus mitfahren. Wo man das Leitungswasser besser nicht trinkt. Wo man im Sommer so schön Boot fahren kann oder sogar segeln. Die Stadt, wo du in der Metro-Station hoch gucken und die Liebe sehen kannst. Alles Dinge, die man hier als Fan erleben kann.

Was muss man fußballtechnisch über die Stadt wissen? Sie ist schuld daran, dass an der WM zwar zwölf Stadien, aber nur elf Städte beteiligt sind. Moskau darf zweimal ran, mit dem Luschniki-Stadion und dem von Spartak. Passt aber irgendwie ins Bild, schließlich hat diese Stadt auch gleich fünf große Fußballvereine hervorgebracht: Lokomotive Moskau, Dynamo Moskau, Spartak Moskau und ZSKA Moskau spielen in der ersten Liga, Torpedo Moskau in der dritten. Und wo wir schon mit Zahlen hantieren: Bei Lokomotive sind Russlands Fußballzwillinge beschäftigt, Alexei und Anton Miranchuk, beide auch Nationalspieler.

⚽ Dann also Kasan. Ich war da immer nur im Winter – das Erlebnis, mit Eisfischern ins Gespräch zu kommen, werden die deutschen Fußballer und ihre Fans im Juni wohl nicht haben. Dafür kann, wer immer hierher reist, eine russische Stadt erleben, in der Islam und Orthodoxes Christentum gleich stark vertreten sind – im örtlichen Kreml stehen die Mariä-Verkündigungs-Kathedrale und die Kul-Scharif-Moschee nicht weit voneinander entfernt. (Hier sieht man die Moschee bei Google Arts & Culture.)

Interessant an Kasan ist auch, dass Lenin hier studiert hat – einen Seminarraum, in dem er damals saß, kann man immer noch im Originalzustand besichtigen. Direkt vor dem Uni-Gebäude steht außerdem eine Lenin-Statue, die man aber kaum als Lenin erkennt. Keine Halbglatze, kein Bart, kein visionär ausgestreckter Arm. Der Kasaner Lenin sieht halb nach Babyspeck aus und halb nach Boygroup. Ist halt noch Student.

Ich wollte hier jetzt eigentlich noch was über die Kasan-Arena schreiben (laut WM-Werbung „das einzige Fußballstadion der Welt, in dem zwölf Schwimm-Weltrekorde aufgestellt wurden“). Dann habe ich einen Freund, der Sportreporter ist und bei ebendiesem Schwimm-Turnier war, gefragt, was potentielle WM-Reisende noch über Kasan wissen sollten. Er möchte ungenannt bleiben, weist aber darauf hin, dass es an der Bauman-Straße – Kasans Fußgängerzone – den Club „Coyote Ugly“ gibt. Dort tanzen Damen mit viel Energie und wenig Kleidung auf dem Tresen, und wenn, sagen wir mal, ein deutscher Sportreporter den Raum betritt, wird er zu einem besonderen Ritual genötigt: Man setzt ihm einen Bauarbeiterhelm auf, dann klopft ihm eine der Tänzerinnen kräftig mit einem Baseballschläger auf den Kopf. Anschließend muss er einen Wodka auf Ex trinken, und dann wird geschaut, was passiert. Kostet 15 Euro, umgerechnet.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er die Geschichte als Warnung oder als Empfehlung gemeint hat.

⚽ Sotschi schließlich ist die dritte Stadt, in der die deutsche Nationalelf eines ihrer Gruppenspiele austragen wird. „Man kann den Fußballfans in Sotschi nur gratulieren zu dieser ausgezeichneten Auswahl an Teams“, schreibt eine lokale Nachrichtenseite. Interessant wird jetzt auch, ob sich das DFB-Team daraufhin nun entscheidet, wie während des Confed-Cups wieder in Sotschi zu wohnen. In den Worten von Leon Goretzka: „Es ist nicht das Verkehrteste auf der Welt, beim Frühstück aufs Meer zu blicken.“ Wer von Sotschi spricht, meint übrigens meist Adler, den etwas abseits gelegenen Vorort, in dem die olympischen Sportstätten wie auch das Fischt-Stadion liegen.

Die Gebäude des Olympischen Dorfs sind heute Hotels, es gibt also genug Unterkünfte der Kategorie „einfach, aber sauber“. Allerdings wohnt man dort dann ziemlich in der Pampa: links Hotel, rechts Hotel, kaum Busse. Selbst, wenn man sich mit dem Taxi in die Nähe vom Stadion bringen lässt, kann es gut noch mal 30 bis 45 Minuten Fußweg bedeuten, bis man am richtigen Eingang ist. Aber vielleicht gibt es während der WM ja einen Shuttle-Service.

Wer die Dreiviertelstunde nach Sotschi fährt – auf der Strecke gibt es einiges an Busverbindungen, mit teils recht drastisch argumentierenden Busfahrern – kann dort nicht nur im Hafen Wladimir Putins offizielle Yacht liegen sehen. Es lohnt sich auch unbedingt, in den botanischen Garten zu gehen. Vor zwei Jahren ist mein Moskauer Chor im Hochsommer bei einem Musikwettbewerb in Sotschi angetreten, und dieser Garten war so ziemlich der einzige Ort, wo man tagsüber gleichzeitig draußen und trotzdem im halbwegs Kühlen sein konnte.

⚽ Erst mal nicht in Sotschi spielen darf die Mannschaft von Brasilien – sie tritt in der Gruppenphase in Moskau, St. Petersburg und Rostow an. Dumm nur, dass die Brasilianer schon vor der Auslosung ihr WM-Quartier in Sotschi gebucht haben. Da löst das Moppern des Trainers über lange Anreisen dann nicht mehr ganz so viel Mitleid aus. Ähnlich sieht es auch bei den Engländern aus, die sich ja schon vor einigen Wochen für eine sowjetisch angehauchte Unterkunft irgendwo hinter Petersburg entschieden haben. Ihnen stehen nun folgende Anreisen zu den Gruppenspielen bevor:

Und überhaupt, wer sich jetzt über lange Anreisen beschwert, hat sich vermutlich vorher nicht allzu intensiv mit russischer Geographie befasst. Dabei sind Wladiwostok, Omsk, Irkutsk nicht mal Austragungsorte, der östlichste ist Jekaterinburg, was auf einer West-Ost-Achse durch Russland nicht mal auf halber Strecke liegt. Die Teams der russischen Liga müssen da für ihre Spiele um die Meisterschaft ganz andere Distanzen zurücklegen, in der zweiten Liga sind sie sogar noch länger unterwegs.

⚽ RBK hat Wirtschaftsexperten gefragt, was die Fußball-WM Russland wohl an Geld bringen wird. Das Ergebnis ist ernüchternd: „Aller Wahrscheinlichkeit nach ein Verlustgeschäft“ erwartet ein Analyst der Raiffeisenbank, ein anderer Fachmann sieht die Auswirkungen auf Russlands Wirtschaftswachstum „im Bereich…..“. Alles, was da kurzfristig an neuen Jobs in Hotels, Restaurants usw. geschaffen werde, breche quasi Mitte Juli wieder weg.

Unterm Strich sagt RBK daher 0,2 Prozent Wirtschaftswachstum durch die WM voraus – trotz Prognosen, wonach angereiste Fans hier rund 3 Milliarden Dollar ausgeben werden. Dmitri Peskow, Sprecher von Präsident Putin, hat auf die RBK-Analyse mit seiner eigenen Rechnung reagiert: Schließlich seien bei einer WM nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die gesellschaftlichen Auswirkungen wichtig.

⚽ Langsam wird es Zeit, einen Weihnachtswunschzettel zu schreiben. Wobei in Russland ja Väterchen Frost die Geschenke bringt, und das auch erst an Silvester, aber egal. Dieser russische Fußballfan, der hier gerade bei Instagram die Runde macht, kümmert sich rechtzeitig:

Смешно как-то 😂#чм2018 #футбол #воображение

Ein Beitrag geteilt von Марина (@marina_budakova) am

Wer immer dieses Meme getextet hat, der ist gut im Gebrauch russischer Schimpfwörter. Auf Deutsch klingt das dann in etwa so:

– „Liebes Väterchen, ich habe nur einen einzigen Wunsch: Dass unsere Nationalmannschaft bei der WM im eigenen Lande nicht völlig abkackt.“
– „Alter, bin ich ein scheiß Zauberer oder was?“

⚽ Laut „Futbol“ soll in Russlands Premjer-Liga eine Art Fan-ID eingeführt werden. Das klingt auf den ersten Blick interessant: Schon beim Confed-Cup durfte ohne Fan-ID niemand ins Stadium, genau so wird es bei der WM sein – und man muss eine ganze Menge persönlicher Daten dafür angeben. Auf den zweiten Blick reicht dann aber auch ein normaler Ausweis oder Reisepass und damit der Datensatz, den man dem Staat anvertraut hat. Einfacher gesagt: Wer ins Stadion will, muss sich in Zukunft ausweisen können.

⚽ Zur WM-Infrastruktur gehören nicht nur Stadien, Hotels, Straßen und Züge. Wenn russische und internationale Fans ihre ganzen Selfies entspannt instagrammen wollen, brauchen sie auch anständiges Internet. Allein Moskau nimmt deshalb fast 15 Millionen Dollar in die Hand, dafür sollen in der Stadt mehr als 2000 neue WLAN-Hotspots entstehen. Dabei ist Moskau im Vergleich zu deutschen Großstädten schon jetzt super aufgestellt: Kostenloses WLAN in der Metro, in Parks, in vielen Bussen und Taxen, dazu in so gut wie allen Cafés und Museen. Ach so, und mobiles Internet – LTE natürlich – für ein paar hundert Rubel im Monat hab ich schon gesagt?

⚽ Leonid Sluzki ist wieder auf dem Markt. In seinem halben Jahr bei Hull City hat Russlands früherer Nationaltrainer nur vier Siege seiner Mannschaft erlebt, das war dann doch zu wenig. Für Hull heißt das: Schon wieder einen neuen Trainer suchen, den vierten seit Sommer 2016. Und für Sluzki? Kann gut sein, dass die Episode eher für als gegen ihn zählt – Erfahrung als Trainer in England, wer hat das in Russland schon?

Die Sluzki/Hull-Bilanz von Sports.ru klingt denn auch so: „Er holte 2017 zwar nur vier Siege, aber er lernte Englisch, arrangierte sich mit Spielern und Fans, deren Mentalität ihm fremd war, und war mit einer ganz anderen Art von Leistungsdruck konfrontiert.“ Erfahrungen, so der Kommentator, die Sluzki so in Russland nicht hätte machen können und von denen er in den nächsten Karriere-Jahrzehnten profitieren könne. Kann also gut sein, dass der ein oder andere russische Verein schon die Fühler Richtung Sluzki ausstreckt. (Wer übrigens, wie ich, bisher nicht wusste, warum Sluzki seine Karriere als Profifußballer früh beenden musste: Einfach mal ans Ende von diesem Guardian-Artikel hier scrollen. Ooooohhhh!)

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Mann, das ist heute eine lange Russball-Ausgabe geworden – und ich hab sogar noch ein paar zeitlose Links aufbewahrt für nächste Woche. Zum Schluss noch zwei Artikel, zu denen man nicht viel erklären muss, die aber in den nächsten Monaten für potenzielle Russland-Reisende nützlich sein könnten: Ein Überblick über alle russischen WM-Stadien und ein zweiter über die Zeitzonen, in denen sie liegen. Wer jetzt immer noch nicht genug hat: Alle alten Russball-Folgen zum Nachlesen gibt es hier. Bis nächste Woche!



 

Russball, Folge 24: Liebeserklärung an eine alte Schachtel

Russball kscheib Suus Agnes 2 signed

Diese Woche machen wir das hier mal ein bisschen anders. Es gibt so viele kleine Meldungen rund um die kommende Fußball-Weltmeisterschaft in Russland, die aber untereinander nicht viel miteinander zu tun haben. Darum hat diese Russball-Ausgabe am Schluss einen kleinen Block mit Kurzmeldungen. Aber erst mal reden wir über die Liebe.

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⚽ Denn es ist ganz klar eine Liebeserklärung, die der Journalist Jegor Arefjew da verfasst hat. Er feiert darin das, wozu die Russen Korobka sagen, also Schachtel. Gemeint sind damit die umzäunten kleinen Plätze, oft im Innenhof russischer Wohnkomplexe, in denen nicht nur Kinder gerne Fußball spielen. „Der Boden war aus Erde, was heute eine Seltenheit ist“, erinnert sich Arefjew an die Korobka seiner Jugend. „Ein bisschen mehr Gras, und es wäre das Luschniki-Stadion im Miniformat gewesen. Unsere Zuschauer waren die Bewohner der beiden fünfgeschossigen Häuser nebenan und die Leser in der Bibliothek.“

Kaputte Knie, zerschossene Fensterscheiben im Erdgeschoss. Eine buntgemischte Subkultur mit ihren eigenen Regeln, zu der jedes Kind, jeder Jugendliche Zugang hatte. Es ist ein romantisches Bild, das Arefjew von dieser russischen Institution zeichnet. Das Calvert Journal hat vor ein paar Jahren mal ein Foto-Essay zu dem Thema zusammengestellt, das zeigt: Eine Korobka kann runtergekommen sein, mit Graffiti besprüht, mit rostigen Gittern oder Wänden aus nacktem Beton. Alles egal, es zählt, was man daraus macht. Und, schöner Zufall: Der Tagesspiegel hat auch gerade eine Hymne an die Korobka veröffentlich, in ihrer Berliner Variante. Mit dem wunderschönen ersten Satz: „Manche Menschen brauchen Käfige, um frei zu sein.“

kscheib russball korobka in bischkek

Das Foto ist in Kirgistan entstanden, bei einem abendlichen Spiel in einer Korobka in Bischkek – leicht verwischt, aber eine schöne Erinnerung. Auch unsere Wohnanlage hier in Moskau hat übrigens eine Korobka, auch wenn sie selten zum Fußballspielen genutzt wird. Dafür ist es ein untrügliches Zeichen für den Frühling, wenn die indischen Nachbarskinder darin wieder Cricket spielen.

⚽ Die Zeitschrift „Futbol“ zeichnet die Verletzungsprobleme von Manuel Neuer nach. „Ein neuer Lew Jaschin“ hätte Neuer werden können, heißt es dort in Erinnerung an die sowjetische Torwart-Legende.

Stattdessen stehe Deutschlands bester Torwart nun am Abgrund und werde auch nicht mehr zu seiner alten Form zurückfinden – da ist sich die Autorin sicher. Aber gut, das ist dieselbe Frau, die auch behauptet, im Stadion des VfL Osnabrück werde das Bier in Anderthalbliterbechern ausgeschenkt. Wäre ja schön, wenn sie in Sachen Manuel Neuer genau so falsch läge.

⚽ Keine Woche ohne Neuigkeiten zum Petersburger Krestowski-Stadion (ja, das mit der Korruption und dem undichten Dach). Laut Sports.ru wurde der Pressebereich dort so gebaut, dass sich dadurch das Spielfeld nicht mehr aus dem Stadion rausrollen lässt. Kann man ändern, kostet dann aber halt auch 300 Millionen Rubel, also 4,3 Millionen Euro.

Wenn eh gerade die Handwerker im Haus sind, kann ja vielleicht auch gerade mal jemand auf den Bot gucken, der zu jedem Spiel twittert, ob das Stadiondach offen oder zu sein wird. Der leider nämlich gerade an akuter Redundanz, will sagen: Er wiederholt sich. Oft.

⚽ Wo wir schon in Petersburg sind: Roberto Mancini legt Wert auf die Feststellung, dass er Trainer von Zenit bleiben will. Der Job als italienischer Nationaltrainer reize ihn nicht, auch wenn er nicht überrascht sei, dass sein Name als möglicher Nachfolger von Gian Piero Ventura im Gespräch sei. Der hatte den Job ja verloren, nachdem Italien in der WM-Quali gescheitert war.

„Surreal und extrem traurig“ fühle sich die Aussicht auf eine Fußball-Weltmeisterschaft ohne Italien für ihn an, sagte Manchini weiter. Er will sich aber ganz darauf konzentrieren, mit Zenit den russischen Meistertitel zu holen.

⚽ Was ich ja allmählich nicht mehr lesen kann, sind diese ganzen „Was läuft nur schief im russischen Fußball“-Artikel. Nicht, weil es da keine Probleme gäbe oder sie schwer zu benennen wären, nein – mangelnde Jugendarbeit, zu hohe Spielergehälter und Clubs, die sich nicht genug um die Fans kümmern, das sind schon alles legitime Sorgen. Aber dieses Déjà-vu, wenn jede Woche eine andere Website das grundsätzliche Lamentieren anstimmt…

Diesmal ist also Bombardir.ru dran und fragt: „Worin besteht das Hauptproblem des russischen Fußballs?“. Russian Football News hält dagegen und sammelt Zeichen dafür, dass die Mannschaft im Vorfeld der WM Fortschritte macht. Aber die vielleicht beste, weil konkreteste Bestandsaufnahme liefert Sports.ru: Wäre morgen schon WM, wie sähe dann die bestmögliche russische Nationalmannschaft aus? (Spoiler: Im Tor steht Igor Akinfejew.)

⚽ Mit zwei Instagram-Posts 20.000 Abonnenten erreichen – das schafft nicht jeder. Aber Juri Sjomin hat gerade halt auch einen Lauf. Als Trainer hat er Lokomotive Moskau auf den ersten Tabellenplatz gebracht, zuletzt gab es einen 1:0-Sieg gegen Anschi Machatschkala. (Wie die Chancen stehen, diese Position zu verteidigen, kann man hier nachlesen.)

Jetzt also auch noch Instagram. Sjomin, Jahrgang ’47, hat es klug angefangen und sich Hilfe von einem Digital Native aus der eigenen Familie geholt. Der – oder vielmehr: die – darf dann auch direkt mit aufs erste Bild: „Meine Enkelin hatte die Idee, hier einen Account zu eröffnen. Sie sagt, die Leute lesen und gucken sowas gerne, und ich hab hab was zu erzählen. Na dann mal los.“

Und jetzt, wie versprochen, noch ein paar kleine Meldungen rund um die WM:

⚽ Studenten an den WM-Austragungsorten sollen nun doch nicht aus dem Wohnheimen vertrieben werden, um Platz für Sicherheitskräfte zu schaffen. Das hat das russische Bildungsministerium versprochen. Stattdessen sollen die Nationalgardisten nur in den Zimmern derjenigen Stundenten einziehen, die zufällig genau dann, wenn an ihrem Studienort die Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet, im Urlaub sind.

⚽  1. Dezember, 16 Uhr deutscher Zeit – dann werden in Moskau die WM-Gruppen ausgelost. Mit prominentem Personal: Miroslav Klose trägt den Pokal rein, es moderieren Gary Lineker und die russische Sportjournalistin Maria Komandnaja. Sie ist auch die Frontfrau dieses virtuellen Rundgangs durchs Luschniki-Stadion:

⚽ Apropos: Die Länder, die ein Spiel in Rostow am Don zugelost bekommen, wissen schon mal, dass ihre Mannschaft und deren Fans an einem frisch gebauten Flughafen landen. Im Frühling soll er eröffnet werden, jetzt durfte schon mal ein Fernsehreporter durchs Gebäude gehen.

⚽  Noch mal apropos: Russlands Fluglinien hoffen selbstverständlich, dass die WM ihnen einen ordentlichen Gewinn beschert. Im Moment sieht es danach aus: Laut Interfax werden Flüge zwischen Moskau und St. Petersburg im kommenden Sommer 40 Prozent teurer sein als üblich. Bei Austragungsorten wie Jekaterinburg oder Sotschi ist der Anstieg nicht ganz so hoch.

⚽ Falls jemand Ambitionen hat, bis zur Weltmeisterschaft sein Russisch aufzupolieren: Sports.ru hat ein Quiz gebaut, bei dem man alle WM-Teilnehmerländer aufzählen soll. Auf Russisch natürlich, in kyrillischen Buchstaben. Wer am Laptop keine kyrillische Tastatur hat, probiert es also vielleicht am besten per Handy.

⚽ „Überall auf der Welt weihnachtet es, so auch in Langenfeld.“ So hat mir im Volontariat mal ein Redakteur erklärt, wie man große Geschichten aufs Lokale runterbricht. Nach demselben Prinzip gibt es gerade allerlei Berichte dazu, welcher Bundesliga-Verein welche Spieler zur WM nach Russland schickt – Eintracht Frankfurt zum Beispiel, Borussia Mönchengladbach oder auch der HSV und St. Pauli.

⚽ Die Doping-Proben, die bei der WM genommen werden, sollen nicht in Russland untersucht werden, sondern dafür extra ins Ausland gebracht werden. Schließlich ist die russische Anti-Doping-Agentur immer noch suspendiert, weil sie sich nicht an die Regeln der Welt-Anti-Doping-Agentur hält.

⚽ Zwölf WM-Stadien werden es kommendes Jahr sein, fünf davon bekommen ihren Rasen aus Frankreich. Der soll besonders widerstandsfährig sein, schreibt der Courrier de Russie.

⚽ Sehr schmeichelhaft, was die Leser von Lenta.ru da für die Fußball-Weltmeisterschaft vorhersagen: Rund 3000 von ihnen haben sich bisher an einer Umfrage beteiligt, wer der nächste Fußball-Weltmeister wird, und beinahe jeder zweite hat für Deutschland gestimmt. Immerhin 8 Prozent antworteten auf „Wer wird bei der WM 2018 gewinnen“ mit „Die Freundschaft“. Hach!

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Die Schlusspointe kommt in dieser Russball-Folge von Wjatscheslaw Nesterow. Er ist Illustrator und arbeitet gerade an einem satirischen Kalender, der bis ins Jahr 2120 gehen und sich komplett um Wladimir Putin drehen soll. Für jedes Jahr hat sich Nesterow außerdem eine Überschrift ausgedacht. Eine davon passt in ihrer ganzen Bosheit, die sich erst nach der Hälfte des Satzes zeigt, hier sehr hübsch rein: „2030 – die russische Fußball-Nationalmannschaft gewinnt den Hauptpreis im Sportlotto.“



 

Russball, Folge 23: Ein Rückschlag für die WM-Vorbereitung

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Mitte November und die Temperatur hier in Moskau hält sich so gerade noch im positiven Bereich: ein Grad über null. Während ich das hier tippe, sammelt sich der Schneeregen vorm Fenster in großen Pfützen. Am Wochenende soll es die ersten Minusgrade geben. Russland halt.

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⚽ Novemberfrost in Russland ist in etwa so überraschend wie die These, die Zenit-Trainer Roberto Mancini gerade in einem Interview aufgestellt hat: „Wir werden den Meistertitel holen“, sagt er mit der Selbstverständlichkeit eines Mannes, dessen Team die bisherige Saison so dominiert hat, dass es fast schon langweilig wurde. Dass aktuell Lokomotive Moskau knapp an der Tabellenspitze steht und Zenit nur auf Platz zwei, ist da schon eine willkommene Abwechslung.

Genervt von der aktuellen Saison in Russlands oberster Liga ist auch Alan Dsagojew, der für ZSKA Moskau spielt. Ein wirkliches Fußballspiel komme nur gegen Zenit, Spartak und Krasnodar zustande, gegen alle anderen sei es der reine Kampf, ließ er in einem Interview wissen. Nach längerem Nachdenken sei er daher zu dem Schluss gekommen: „Das hier ist die schlechteste Meisterschaft in den letzten zehn Jahren.“

⚽  Manche Leute halten ja „Never read the comments“ für die wichtigste Regel, um online nicht völlig zu verzweifeln. Beim folgenden Tweet, in dem Russlands Nationalmannschaft ihr neues Heimtrikot vorstellt, trifft das auf jeden Fall zu. Mir gefällt das Outfit eigentlich ganz gut, die Kommentare der russischen Fans dagegen rangieren von unzufrieden über frustriert bis gemein.

„Ein schlimmeres Trikot habe ich noch nie gesehen“, schreibt ein Fan, ein anderer ergänzt: „Wie das Spiel der Mannschaft, so auch das Trikot“ und fügt, um auf keinen Fall missverstanden zu werden, ein kotzendes Emoji hinzu.

Zu schlicht, zu retro, zu langweilig, das sind so die Hauptkritikpunkte – „da hatte Adidas wohl noch ein paar Stoffreste aus Sowjetzeiten rumliegen.“ Und während ein Fan mit einem Hilferuf an Adidas-Konkurrent Nike reagiert, herrscht bei anderen schon völliger Fatalismus: „Was macht es schon für einen Unterschied, in welchem Trikot man verliert?“

⚽ Wer bei der Wiedereröffnung von Moskaus Luschniki-Stadion eine Blamage für Russlands Nationalmannschaft befürchtet hatte, darf aufatmen: Kein öffentliches Abwatschen, die Gäste aus Argentinien gewannen das Freundschaftsspiel bloß mit 1:0. Blamabel war allerdings, was sich nach dem Abpfiff tat: Lange Wartezeiten, um aus dem Stadion herausgelassen zu werden. „Es ist furchtbar kalt! Weinende Kinder! Mütter und Väter ziehen ihre Kleidung den Kindern über, um sie zu wärmen,“ postete ein wartender Fan aus dem Stadion. Ein anderer Stadionbesucher kritisierte die „schreckliche Organisation am Luschniki-Ausgang: 80.000 Menschen und nur ein schmaler Durchgang. Wenn das bei der WM auch so wird, ist es eine Schande.“

Wer einmal draußen war, brauchte bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt bis zu zwei Stunden, um es in die warme Metro zu schaffen. Offenbar hatte die Polizei einige Straßen und Metro-Eingänge gesperrt, außerdem standen nicht genug Züge bereit, um die Fans abzutransportieren. Ärgerlich für die Fans, peinlich für die Organisatoren. Denn bei der WM sollen im frisch renovierten Luschniki-Stadion sowohl das Eröffnungsspiel als auch das Finale stattfinden.

⚽ Noch eine Geschichte dreht sich diese Woche um ein russisches Fußballstadion, diesmal in St. Petersburg. Die Liste der Skandale rund um das Krestowski-Stadion in Russlands „zweiter Hauptstadt“ ist lang: Verzögerungen, Kostenexplosion und Korruption schon in der Bauphase. Später dann immer wieder Lecks im Dach, durch die es reinregnete – an denen sollten, wir erinnern uns, spitze Vogelschnäbel schuld sein. Lustige These, stimmte aber dann doch eher nicht.

Ein tatsächlicher Schuldiger fand sich dagegen jetzt vor Gericht wieder. In diesem Fall ging es nicht um das undichte Dach, sondern um Korruption. Marat Oganessjan hat gestanden, als Vize-Gouverneur den Auftrag für eine Videowand im Stadion einem befreundeten Unternehmer zugeschustert zu haben – wohl wissend, dass der das Geld einstreichen würde, ohne dafür die bestellte Wand zu liefern. Aufgrund von Oganessjans Aussage sollen nun weitere Beteiligte an illegalen Deals beim Stadionbau verfolgt werden.

⚽ Nicht nur Luschniki ist renoviert worden, auch am Stadion von Dynamo Moskau wird gebaut. Eine Gruppe Sportmanagement-Studenten durfte jetzt die Baustelle besuchen, ein Reporter von Sport Express hat sich ihnen angeschlossen. Gemeinsam waren sie sowohl im Stadion als auch in den Katakomben unterwegs.

Genau genommen entsteht hier ein ganzer Sportkomplex, auch Eishockey- und Basketballspiele sollen auf dem Gelände ausgetragen werden. Dass die Besuchergruppe abends im Dunkeln unterwegs war, lässt die Bilder, die Sport Express zu der Reportage veröffentlicht hat, besonders eindrucksvoll wirken.

⚽ Ach komm, eins noch! Das ist dann aber auch das letzte Stadion in dieser Russball-Ausgabe: In Jekaterinburg haben sie ja, um Platz zu schaffen, eine Tribüne so weit verlängert, dass sie jetzt aus dem Stadion herausragt. Kommste raus, kannste reingucken. Dazu noch das aktuelle Winterwetter, und ein Hauch von Eiger-Nordwand umweht das Gebäude, in etwa so:

⚽  Schlaf schneller, Genosse, auf dein Bett wartet schon ein anderer: Studenten in mehreren russischen Städten sollen während der Sommersemesterferien aus dem Wohnheim ausziehen, damit dort Sicherheitskräfte für die Fußball-Weltmeisterschaft wohnen können. In Nischni Nowgorod, Samara, Saransk und Jekaterinburg – alles WM-Austragungsorte – haben die Unis laut Moscow Times auf Anweisung des russischen Bildungsministeriums bereits so umgeplant, dass das Semester früher endet.

Am 14. Mai sollen dann Mitglieder der Nationalgarde in die Studentenwohnheime ziehen. Russlands Studentenorganisation hat sich allerdings bereits mit einem Protestbrief an Regierungsschef Medwedjew gewandt. Schließlich bräuchten viele Studenten ihre Wohnheimzimmer, weil sie während der Semesterferien Praktika machen. Ein Zimmer auf dem freien Markt wäre für viele von ihnen zu teuer – erst recht, wenn die WM die Preise in die Höhe treibt. (Servicehinweis am Rande: Das Internationale Moskauer Filmfestival wird übrigens ebenfalls wegen der WM verlegt.)

⚽  Das war ein komisches Gefühl neulich im Russischunterricht: Sie habe ja nun „Joseph und seine Brüder“ von Thomas Mann endlich durch, sagte meine Lehrerin, wie ich das denn fände? Hüstel, nuschel, leider nie gelesen. Es folgte eine kurze Analyse, warum sich das dringend ändern muss, wie das Werk sich zur Josephsgeschichte der Bibel verhält und wie zu Manns Gesamtwerk. Der klassische Literaturkanon ist hier in Russland immer noch sehr wichtig, wichtiger als anderswo.

Dazu passt eine Umfrage, die Bombardir.ru neulich gemacht hat: „Was lesen russische Fußballspieler“, wollte die Website wissen. Ergebnis: Sergei Ryschikow von Rubin Kasan liebt Hemingway, Rostows Wladimir Djadjun gibt „Der Letzte Mohikaner“ als Lieblingsbuch an. Auch deutschsprachige Literatur ist gut vertreten: Jewgeni Baschkirow von Krylja Sowetow Samara nennt „Mein Name sei Gantenbein“, sein Kollege Nikita Baschenow vom FSK Dolgoprudny schwört auf den „Steppenwolf“. Je länger man durch die Liste scrollt, desto ungebildeter fühlt man sich – bis man zu Sergei Parschiwljuk kommt. Der Mann ist immerhin russischer Nationalspieler, und was hat er als Lieblingsbuch angegeben? „Der Teufel trägt Prada“. Danke!

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Zum Schluss noch eine Runde Schadenfreude? Ach kommt, ihr wollt es doch auch! „Sitz gerade“, „Nimm die Füße da runter“, „Nicht kippeln“ – na, auch gerade eure Eltern im Ohr gehabt? Die von Wasiliy Utkin haben bestimmt auch versucht, ihm das alles abzugewöhnen. Alles ohne Erfolg – der Fußballkommentator von Sport FM hat sich trotzdem bei der Arbeit so richtig schön hingefläzt, gut sichtbar im Livestream. Das konnte auf Dauer nicht gutgehen – und das tat es auch nicht, wie dieses Video zeigt.

Beeindruckend, wie Utkins Kollege erst noch versucht, weiter zu moderieren. Utkin selbst nahm die Sache mit einer großen Portion Selbstironie. Er twitterte den Clip, bei dem seine Adidas-Schuhe plötzlich ins Zentrum des Geschehens rücken, mit dem schlichten Kommentar: „Schuhwerbung. Teuer. #adidas“