Russball, Folge 68: Rekord ein Jahr nach der Fußball-WM

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Wie war er, der Fußball-Mai in Russland? Fangen wir mit einem Bild an, getwittert vom offiziellen Account der Premjer-Liga. „Rekord“, das erste Wort über der Zahl, kann man sich vielleicht auch ohne Russischkenntnisse zusammenreimen:

Tatsächlich sind in dieser Saison, der ersten nach der Fußball-Weltmeisterschaft, so viele Leute zu den Erstliga-Spielen gekommen wie nie zuvor, nämlich eben diese 4036196. „Danke an jeden! Ihr seid die Besten“, twittert der Liga-Account. Im Schnitt kamen zu jedem Spiel 16817 Zuschauer, das sind gut 20 Prozent mehr als in der Saison davor.

Klar, wir wissen alle, da wurde mancherorts ordentlich angeschoben mit Freikarten und anderen Manövern. Trotzdem: Damit allein bekommt man keine vier Millionen Menschen ins Stadion.

Und sonst so?

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⚽  Eventuell ist Zenit St. Petersburg Meister geworden. Die Feierei – nur mal kurz mit dem Boot durch die Stadt und dann noch mal mit dem Bus – war so dezent und voller Understatement, man kann da nicht ganz sicher sein. Eventuell gab’s auch ein winziges Feuerwerk.

Russian Football News porträtiert Sergei Semak, der erst letztes Jahr als Trainer zu Zenit gekommen ist und direkt mal für den ersten Meistertitel seit 2015 gesorgt hat. Spannend, denn der Mann ist zwar früherer Zenit-Spieler, war als Trainer aber noch recht unerfahren. Championat wiederum hat einen Überblick über allerlei Leute, die im Hintergrund an diesem Meistertitel mitgewirkt haben, unter anderem Michail Birjukow. Er war an allen sechs Meistertiteln von Zenit beteiligt – 1984, noch zu Sowjetzeiten, als Torwart, außerdem 2007, 2010, 2012, 2015 und 2019 als Torwarttrainer. Und dann hat eventuell noch jemand ganz leise die jubelnden Fans gefragt: Кто чемпион? Wer ist Meister?

⚽ Vizemeister ist Lokomotive Moskau geworden, dafür hat das Team einen anderen Titel klar gemacht und im Pokal gesiegt. Mitten in der Sommerpause, am 6. Juli, wird es also ein Spiel zwischen Zenit und Lokomotive um den russischen Supercup geben. Wer alles wie international spielt, muss ich ja nicht aufdröseln, das kann man alles auf einen Blick hier sehen.

⚽ Tambow und Sotschi sind die beiden Aufsteiger in Russlands Premjer-Liga. Sotschi ist ja bekanntlich sowas Ähnliches wie der von Erich Kästner ausgedachte Gustav mit der Hupe: Der hatte erst nur eine Hupe und später dann das passende „Motorfahrrad“ dazu. Übertragen auf den Fußball heißt das: Sotschi hatte erst das großartige Stadion, das halt von der WM noch da stand.

Nun hat es der Verein auf ein Niveau geschafft, wo es auch nicht mehr so verschenkt wirkt, wenn er und seine Gegner in dieser Spitzenarena antreten. Bei Tambow wiederum muss ich, fernab von jeglichem Fußball, immer an „Tambow’s got Talent“ denken und an diese Geschichte hier. (Eh einer fragt: Ja, wir sind immer noch Facebookfreunde.)

⚽  Kurze Gedenkminute an dieser Stelle für Anschi Machatschkala. Nicht nur, weil sie per Relegation aus der Premjer-Liga abgestiegen sind, nein: Die finanziellen Probleme, um die es hier ja in den letzten Monaten immer wieder ging, haben den Verein eingeholt. Ergebnis: zu viele Schulden (darunter einiges an Spielergehältern) für eine Lizenz, Anschi darf nicht mal mehr in der zweiten Liga spielen.

Der Club steht damit vor seinem Ende. Die Regierung von Dagestan hätte helfen können, ist aber nicht zugunsten des Vereins eingeschritten – was ihr Magomed Adijew in einer seiner letzten Äußerungen als Anschi-Trainer hörbar nachträgt: „Ich habe mehr von der Regierung Dagestans erwartet. Alle haben gesehen und verstanden, dass der Präsident des Clubs nicht damit zurechtkommt, dass er bestimmte Probleme hat, aber die Regierung von Dagestan hat nichts getan.“ Der Fernsehsender Match TV sendet unterdessen schon mal einen Nachruf: „Darüber, wie ein weiterer russischer Fußballclub stirbt. Noch eine Region, in der es bald keinen hochklassigen Fußball mehr geben könnte.“

⚽ Legt man den Begriff „Region“ etwas großzügiger aus, bleibt auch nach dem wahrscheinlichen Ende von Anschi ja immer noch Achmat Grosny. Eine Teilrepublik weiter, von Dagestan nach Tschetschenien, und schon sind wir im Achmat-Gebiet. Den Futbolgrad-Text dazu kann ich nicht uneingeschränkt empfehlen – diese Passage à la „es gibt Berichte, dass Schwule verfolgt werden, aber hey, rund ums Stadion stehen freundliche Männer mit AK47s, die Sicherheitslage ist also top“ ist bestenfalls unreflektiert, schlimmstenfalls dumm.

Was der Text aber gut veranschaulicht, ist, wie ein Fußballverein, der nach dem Vater von Präsident Ramsan Kadyrow heißt, als PR-Instrument für ebendiesen Präsidenten eingesetzt wird: „Der FC Achmat, gesponsert von der Achmat-Stiftung, trägt seine Heimspiele in der Achmat-Arena aus, während die Fans ‚Achmat sila‘ (Achmat ist stark) rufen.“

⚽ Gianni Infantino war in Moskau, als ihm auffiel, dass das linke Revers seines Anzugs irgendwie leer wirkte. Schmucklos halt. Nackt geradezu. Aber gut, das lässt sich ändern, und so war Infantino im Kreml und hat sich von Wladimir Putin den Freundschaftsorden verleihen lassen. Der beißt sich farblich zwar ein wenig mit der Krawatte, aber gut, was will man machen. Auch Alexej Sorokin, Sportminister und einst Generaldirektor des WM-Organistations-Komitees, bekam die Auszeichnung. Im Gegenzug hat Infantino dann noch mal wiederholt, was er schon öfter gesagt hat: „Das war die beste Weltmeisterschaft aller Zeiten. Das sage nicht ich, sondern das sagt die ganze Welt.“ Der weiß halt, wie man sich bedankt.

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⚽  Da haben uns Alexander Kokorin und Pawel Mamajew durch so viele Russball-Folgen begleitet, und das soll nun ein Ende haben? Das Urteil gegen die beiden Fußballer ist gefällt, anderthalb Jahre Haft für Kokorin, ein Monat weniger für Mamajew, es ging um Prügeleien und das, was in Russland Hooliganismus heißt – mittelschwere Verstöße gegen die öffentliche Ordnung (genauere Definition hier). Falls sich jemand so richtig in den Fall vertiefen will, hier eine Chronologie/Themenseite dazu.

Das Strafmaß entspricht fast exakt den Forderungen der Staatsanwaltschaft. Die stellvertretende Chefin der Moskauer Gefängnisaufsicht hat unterdessen schon mal angekündigt, die beiden Spieler könnten ja im Gefängnis junge Fußballer trainieren. Ach so, und da Kokorin ja weiterhin bei Zenit unter Vertrag ist, ist er in der Haft Meister geworden und bekommt genau wie seine Kollegen, die auf freiem Fuß sind, eine entsprechende Medaille. Ob es bei den Haftstrafen bleibt, entscheidet sich dann Mitte Juni: Verteidigung wie Staatsanwaltschaft haben Einspruch eingelegt.

⚽ Tomas Zorn ist neuer Generaldirektor bei Spartak – ein Name, der mir bisher nichts sagte. Ein wenig Recherche ergibt: Der Mann ist gebürtiger Moskauer, der als Kind nach Deutschland kam und da aufwuchs. Nach eigenen Angaben vertritt er neben russischen Fußballern auch eine Reihe deutscher U17- und U19-Spieler. Hertha-Fans kennen seinen Namen vielleicht, weil er bis vor ein paar Monaten der Berater von Jordan Torunarigha war. Bombardir verweist unterdessen darauf, dass Zorn bereits mit Stanislaw Tschertschessow zusammengearbeitet hat. Das könne, heißt es dort, Gerüchte befeuern, dass Tschertschessow als Trainer zu Spartak zurückkehrt. Ob Spieler, die nach Russland wollen oder russische Spieler auf der Suche nach Engagements im Ausland, Zorn scheint gut vernetzt zu sein.

Interessant ist auch ein Artikel aus der Süddeutschen Zeitung, der schon ein paar Jahre alt ist: Damals ging es um die Frage, ob Zorn in eine Affäre um den bis heute mächtigen russischen Fußballfunktionär Sergej Prjadkin verwickelt ist, der als Chef von Russlands oberster Liga trotz eines Verbots gleichzeitig als Spielervermittler gearbeitet haben soll. (Mehr dazu auch hier beim Deutschlandfunk und hier bei Russian Football News). Die Nowaja Gasjeta hat die Angelegenheit 2011 gründlich untersucht und dabei sogar Hinweise dafür gefunden, dass es sich bei Zorn wahrscheinlich um Prjadkins Sohn handelt. „Wenn das so ist“, schließt der Bericht, „heißt das dann, dass quasi der gesamte russische Transfermarkt von der Familie eines Fußballfunktionärs und seiner Geschäftspartners dominiert ist?“ Nun ja.

⚽  Weil nach der Saison vor der Saison ist, hat Bombardir schon mal zusammengetragen, was sich demnächst in der Liga ändert: Der Videobeweis kommt wahrscheinlich (und kostet pro Verein offenbar 15 Millionen Rubel, also gut 200.000 Euro), die Verträge einiger prominenter Spieler laufen aus, sowas.

Wie es ständig in jeder Vorhersage über den russischen Fußball steht, fehlt auch hier nicht die Vorhersage, dass man sich nun aber endlich mal einigen wird auf eine neue Regel für Legionäre, also für die Zahl ausländischer Spieler pro Mannschaft. Oder doch pro Verein? Seit Jahren wird jetzt auf diesem Thema rumgedacht, allerlei Prominente geben O-Töne dazu ab. Wenn 2019/20 wirklich die Saison der Einigung ist, wäre das recht bemerkenswert.

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Als Rausschmeißer ein Blick nicht nach Russland, sondern etwas weiter westlich in die Republik Moldau, an die Grenze zur Ukraine. Dort liegt Transnistrien, das sich seit Anfang der Neunziger als eigenen Staat betrachtet – eine Sichtweise, der sich bisher kein anderes Land der Welt angeschlossen hat. Wer den Begriff „frozen conflict“ googelt, stößt schnell auf diese Region.

Vieles trennt die Menschen in Transnistrien und im Rest von Moldau, doch der Fußball vereint sie: Es gibt weiterhin eine gemeinsame Liga, Moldauer Meister war in den vergangenen zwei Jahrzehnten fast durchgängig der transnistrische FC Sheriff Tiraspol. Robert O’Connor berichtet im Calvert Journal über „eines der (…) bemerkenswertesten Beispiele für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen zwei kriegführenden Staaten“.



 

Russball, Folge 66: Wie man in Deutschland Spiele der Premjer-Liga guckt

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Ja gut, sicher. Leicht verspätet, diese Märzausgabe. Aber zwischen Kistenauspacken und Ämterkram und neuem Job und 11mm-Filmfestival war der März in etwa so voll wie Moskaus dunkelblaue Metrolinie um 9 Uhr morgens. Andererseits hat diese Verspätung auch einen Vorteil: Man kann den ganzen russischen Fußball abbilden, ohne dass sich jemand beim Lesen fragt: Hm, ist das jetzt echt oder ein Aprilscherz?

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⚽ Überhaupt, Aprilscherze – können wir das nicht so langsam mal lassen? Diese Nummer mit der Tagesschau und dem Volksparkstadion… Naja, lassen wir’s. Ich fände es jedenfalls gut, wenn es alle in Zukunft so machen wie die russische Nationalmannschaft. Die hat einfach das veröffentlicht, was bei Fernsehserien Outtakes, Gag Reel oder Bloopers heißt. Also eine Sammlung lustiger Momente rund um die Mannschaft. Besonders hübsch: Wie Guus Hiddink während der WM beim Training vorbeischaut, ein paar Worte sagt und Stanislaw Tschertschessow die gut gelaunt und absichtlich falsch ins Russische übersetzt.

Hiddink: „Jungs, erst einmal: Ich bin froh, hier zu sein, ich wollte nicht…“ – wahrscheinlich wollte er sowas sagen wie „stören“ oder „ablenken“, aber Teschertschessow grätscht flott dazwischen: „Er sagt: ‚Ich wollte euch nicht sehen, aber euer Trainer hat mich mitgenommen.'“. Hiddink: „Bisher schlagt ihr euch sehr gut, für mich überraschend, also, ein bisschen überraschend, aber…“ Tschertschessow: „Er sagt: ‚Mit mir als Trainer wärt ihr besser gewesen, aber da habt ihr halt Pech gehabt und müsst jetzt ihn hier ertragen…‘.“ Hiddink war ja selbst vor ein paar Jahren mal russischer Nationaltrainer. Um so lässiger, wie Tschertschessow da gleichzeitig ihn und sich selbst auf die Schippe nimmt.

⚽ Pawel Pogrebnjak war mal russischer Nationalspieler und gehört heute zum Kader des FK Ural Oblast Swerdlowsk in Jekaterinburg. Mitte März hat er in einem Interview über Einbürgerungen im russischen Fußball gesprochen, was man gut mal tun kann: Die offizielle Linie der vergangenen Jahre, ausländische Spieler einzubürgern, um die Nationalmannschaft zu stärken, kann man durchaus kritisieren – etwa, weil es nachhaltiger wäre, Geld in die Nachwuchsarbeit zu stecken. Die ist in Russland ja arg ausbaufähig.

Pogrebnjaks Kritik allerdings äußerte sich eher in Sätzen wie „Es ist komisch, wenn ein schwarzer Spieler für Russland antritt“, „Ich verstehe nicht, warum Ari einen russischen Pass bekommen hat“ oder „Man hätte (in der Nationalmannschaft) auch ohne Ausländer auskommen können“. (Warum er Ari als Beispiel erwähnt und nicht, sagen wir mal, Roman Neustädter oder Konstantin Rausch? Na gut, die sind zwar auch eingebürgert, aber weiß, da stören sie Pogrebnjak vielleicht nicht ganz so akut.) Das Ethik-Komitee des russischen Fußballverbandes hat Pogrebnjak jedenfalls zu einer Geldstrafe von rund 3400 Euro verurteilt, wenn er sich noch einmal ähnlich äußert, kann er für den Rest der Saison suspendiert werden. Inzwischen hat er sich entschuldigt, er habe niemanden beleidigen wollen.

⚽  Das ist mal ein kluger Schritt: Alle Spiele der russischen Premjer-Liga kann man künftig im Ausland kostenlos bei Youtube gucken – offenbar erst mal bis Ende der aktuellen Saison. Keine schlechte Idee, wenn man will, dass die eigene Liga endlich auch im Ausland populärer wird. Ganz zu schweigen von den viele Russen oder Menschen mit Russland-Bezug, die anderswo leben, aber sich schon jetzt dafür interessieren, wie Anschi Machatschkala dieses Wochenende gegen Dynamo Moskau spielt oder Rubin Kasan gegen Arsenal Tula. Zum Youtube-Kanal der Premjer-Liga geht es hier.

⚽ Wie war das, nichts hat so lange Bestand wie ein Provisorium? Bei den außen ans Stadion drangebauten Zuschauertribünen in Jekaterinburg ist es inzwischen mehr als ein halbes Jahr außerplanmäiger Existentz. Eigentlich sollten sie nach der Weltmeisterschaft weg, aber nein: Sie stehen, und auf ihnen die Fans. (Hatte ich übrigens schon am Tag nach der WM so ähnlich vorhergesagt, hüstel.)

⚽ Und wo wir schon bei der Weltmeisterschaft und ihren Spätfolgen sind: Was sich offenbar ausgezählt hat war die Entscheidung, WM-Besucher mit ihrer Fan-ID bis Ende 2018 visafrei nach Russland einreisen zu lassen. Jeder zehnte ausländische Fan hat diese Möglichkeit genutzt und ist zwischen August und Dezember noch einmal nach Russland gekommen, schreibt Wedomosti. 1,3 Milliarden Euro gaben die Reisenden während ihres Aufenthalts aus.

Interessante Erkenntnis am Rande: Wedomosti hat auch Zahlen dazu, wer rund um das Turnier welche Ecken des Landes bereist hat. Die Top Fünf sind keine Überraschung, die meisten Leute kamen nach Moskau, St. Petersburg, ins Moskauer Umland, in die Region Krasnodar (dort liegt Sotschi) und in die Republik Tatarstan (dort liegt Kasan). Blickt man aber mal anders auf die Zahlen, dann kommt heraus, dass es tatsächlich Nationalitäten gibt, die zur WM alle 83 russischen Regionen besucht haben, nämlich die Brasilianer und die US-Amerikaner. In diesem Ranking kommen deutsche Fußballfans direkt als nächstes: Sie haben immerhin 82 von 83 Regionen besucht, und man fragt sich schon, welche wohl die eine, einsame unbesuchte ist? Der Autonome Kreis der Jamal-Nenzen? Karatschai-Tscherkessien? Oder doch die Republik Adygeja?

⚽ Eine ganz andere Geschichte zur Fan-ID: Es gibt auch Leute, die sie genutzt haben um nach Russland einzureisen und dort dann zu bleiben, auf der Suche nach Arbeit. Alle paar Wochen hört man sie mal wieder, diese Geschichten von Menschen, die gehofft hatten, in Russland bleiben zu dürfen, vielleicht mit Asyl – dabei ist die Zahl der Fälle, in denen jemand in Russland erfolgreich Asyl beantragt hat, extrem niedrig.

Von Regierungsseite gibt es immer wieder Zwischenmeldungen à la „so viele haben wir schon abgeschoben“ und „bis zu Termin X werden wir alle abgeschoben haben.“ Zuletzt sollte das bis Ende März geschehen. AFP hat mit vier Menschen, die mit Fan-ID eingereist und geblieben sind, über ihre ungewisse Zukunft gesprochen.

⚽ Nach der WM ist vor der EM, die Qualifikationsspiele haben begonnen. Für Russland eher durchwachsen – eine Niederlage gegen Belgien, dann ein Sieg über Kasachstan. Bemerkenswert ist daran, dass das zweite Spiel nicht wie geplant in Astana stattfand. Nicht, weil der Rasen unbespielbar gewesen wäre, das Stadion baufällig, nein: alles, wie es sein soll.

Nur eben nicht mehr in Astana. Denn kurz zuvor war Kasachstans Präsident zurückgetreten, nach mehr als 30 Jahren an der Macht. Und wie man das so tut als autoritärer Staatschef, der sicherheitshalber Opposition und Medien unterdrückt, weil er halt ungern irgendwas dem Zufall überlässt: Natürlich hat sich Nursultan Nasarbajew seinen Nachfolger selber ausgesucht. Und natürlich hat der wiederum stante pede angeregt, dass die Hauptstadt doch nun nach dem Ex-Präsidenten heißen könnte. Weshalb Russlands Nationalmannschaft also nicht in Astana antrat, sondern in Nursultan. (Einiges an Nasarbajews Abgang gilt übrigens als mögliches Vorbild für Wladimir Putin – mehr dazu hier, hier und hier.)

Wie die Lage im Land nach dem Machtwechsel ist, sieht man schon daran, dass die Polizei aus den seltsamsten Gründen Menschen festnimmt. Hier: Das Tragen einer Fahne des FC Qairat Almaty. Ein kleines Gedicht dazu, das sich leider nur auf Russisch reimt, hat Peter Leonard getwittert: „In einem Jahr oder zwei spielt Qairat in der Uefa. In zwei Jahren oder drei komme ich aus dem Gefängnis raus.“

⚽ Was nicht funktionieren wird, ist eine EM ohne Freiwillige. (Wie deren Engagement und Begeisterung schon beim Confed Cup 2017 andere Probleme ausgeglichen haben, hab ich damals hier hingebloggt.) Die EM 2020 ist ja die, die in einer ganzen Reihe europäischer Städte ausgetragen wird, vier Spiele auch in Russland, in St. Petersburg. Vier Spiele, was braucht man da so an freiwilligen Helfern? Och, so 1500 bis 2000, heißt es in Russlands zweitgrößter Stadt. Zum Vergleich: Bei der WM waren es 2000 feste Volunteers und 300, die bei Bedarf einspringen konnten. Auf jeden Platz hatten sich 2018 drei Leute bewroben – mal sehen, wie das Interesse zur Europameisterschaft ist.

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Na komm, wir waren schon bis in Kasachstan – dann ist es auch okay, wenn wir hier zum Schluss noch einmal nach Großbritannien rüberschlenkern. Stimmt schon, die haben da gerade ganz andere Probleme als Fußball. Aber dem Fußballclub Tadcaster Albion in Yorkshire hat es jetzt zum zweiten Mal das Spielfeld überschwemmt und vieles an Ausrüstung zerstört. Sie brauchen 5000 Pfund, um das hinzubekommen – es ist ein kleiner Verein. Vielleicht mögt ihr ja auch helfen, das geht hier. Als Dankeschön gibt es auch ein GIF zum Thema Nachwuchs im russischen Frauenfußball – macht’s gut!



 

Russball, Folge 65: Fußball im Butyrka-Gefängnis

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Dinge, um die es in dieser Russball-Folge nicht gehen wird: Dass Russlands Nationalmannschaft im FIFA-Ranking zwei Plätze abgerutscht ist, dass das mit dem Video-Schiri noch ein bisschen länger dauert oder dass Gianni Infantino von Putin einen Orden verliehen bekommen hat. Stattdessen reden wir heute über einen 14-jährigen Profifußballer und über Fußball im Knast als PR-Aktion.

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⚽ Wenn dich 63 Gruppierungen, die zum russischen Fußballverband gehören, als dessen neuen Chef vorschlagen, dann ist es eventuell keine allzu große Überraschung, wenn du dann auch gewählt wirst. So geschehen mit Alexander Djukow, Nachfolger von Witali Mutko als Präsident des russischen Fußballverbandes RFS. „Ganz einfach, per Handzeichen, wie im römischen Senat“, twitterte Sport Express. Und hat da jemand „Gazprom“ oder gar „Klüngel“ gesagt?

Was hat er also vor, der Djukow? Er will sich dafür einsetzen, dass im Stadion bald Bier verkauft werden darf – schließlich sollen sich die Fans möglichst lange im Stadion aufhalten, das ist lukrativer, als wenn sie anderswo vorglühen und erst kurz vor Anpfiff auf ihrem Platz sitzen. Damit trotz russischem Winter Nachwuchsspieler das ganze Jahr lang trainieren können, sollen mehr Sporthallen gebaut werden. Die WM-Stadien sollen seiner Meinung nach an Fußballvereine übergeben werden, die dann dafür verantwortlich sind, damit Gewinne zu erwirtschaften. Auch die Frage, wie viele ausländische Spieler russische Profimannschaften gleichzeitig aufstellen dürfen, kommt sicher noch mal auf den Tisch.

⚽ Ich hab’s wirklich versucht: Aus den diversen Übersichten der Winter-Transfers in der Premjer-Liga die beste, übersichtlichste, nützlichste zu finden. Bei Sport Express gibt es eine riesige Tabelle mit Ab- und Zugängen, dazu noch alle Testspiele der Winterpause. Die Clubs sortiert nach Tabellenplatz, leiderleider ohne jegliche Suchfunktion. Bei Championat muss man sich erst mal durch eine große Übersicht aktueller Spiele scrollen, eher man zu den Transfers kommt. Dafür kann man immerhin einzelne Vereine aufrufen und findet dort auch nach ein wenig Suchen die Übersicht der Transfers – allerdings nicht immer auf aktuellem Stand. Sports.ru hat vielleicht die beste Lösung: oben die Transfers nach Datum, mit Vereinssuche – aber dann, darunter, dieser Wust an winzigen Links zu den einzelnen Transfer-Meldungen…

Ganz ehrlich: Paredes hat Zenit verlassen und spielt jetzt bei Paris Saint-Germain, das ist wichtig. Und über den Rest reden wir dann, wenn es einen interessanten Grund dafür gibt, ja?

⚽ Europa-League-Jubel in Krasnodar: Der Verein schafft es, zufällig am elften Jahrestag seiner Gründung, mit einem Tor gegen Bayer Leverkusen in die nächste Runde und gehört damit zu den letzten 16 Teams im Wettbewerb. Torschütze war Magomed-Schapi Sulejmanow, und wenn der Name nun jemandem bekannt vorkommt, dann liegt das wahrscheinlich daran, dass er hier vor anderthalb Jahren schon mal vorkam: als Beispiel dafür, wie sich Krasnodars Nachwuchsarbeit auszahlt. Mehr über den Mann, den sie „Schapi“ rufen, auch hier: Ones To Watch – Magomed-Shapi Suleymanov.

Ebenfalls weiter ist Zenit St. Petersburg, wo es vor dem Spiel gegen Fenerbahce eine ziemlich spektakuläre Fan-Aktion gab:

In der nächsten Runde der Europa League tritt Zenit gegen den FC Villarreal an, Krasnodar spielt gegen Valencia. Russland gegen Spanien, da war doch was…

⚽ Auch Tschertanowo Moskau profitiert mal wieder von seiner guten Nachwuchsarbeit: Der Verein, der in Russlands zweiter Liga spielt, will dazu künftig auch Sergej Pinjajew aufstellen. Er ist Stürmer und Jahrgang 2004, Tschertanowo setzt also auf einen 14-Jährigen. Kein Wunder, wenn man Tore wie dieses hier sieht:

Vor ein paar Wochen hatte Pinjajew bereits mit einem anderen Tor auf sich aufmerksam gemacht, damals war er noch 13 Jahre alt. Das ist sogar den Scouts von Manchester United aufgefallen. Sollte Pinjajew in der laufenden Saison tatsächlich für Tschertanowo aufgestellt werden und spielen, würde er einen neuen Rekord als jüngster Spieler seiner Liga aufstellen.

⚽ Erinnert ihr euch, damals, als Moskau WM-hübsch gemacht wurde und jemand fand, das Zelt für die Obdachlosen am Platz mit den drei Bahnhöfen störe nur? Zeitweilig sollte die Anlaufstelle verlegt werden, weit weg vom Stadtzentrum. Acht Monate sind seitdem vergangen, und wer überrascht ist, dass das Zelt nie wieder aufgebaut wurde – nun ja, die WM ist vorbei, das internationale Interesse am Leben in Russland ist geschwunden, aber die Mächtigen, die sind geblieben.

Kein Zelt mehr für die Obdachlosen, und das im russischen Winter. „Es bedeutet, dass vielen Leuten nun kein Essen mehr haben und keine Möglichkeit, sich aufzuwärmen“, heißt es in einer Petition für den Wiederaufbau des Zelts am Dreibahnhofsplatz, die Moskauer Stadtregierung vernachlässige genau die Menschen, für deren Schutz sie verantwortlich sei. Wie der Alltag dieser Menschen nun aussieht, im Winter nach der WM, berichtet die Nowaja Gaseta.

⚽  Alexander Kokorin und Pawel Mamajew bleiben weiter hinter Gittern. Den beiden Profifußballer, die randalierten und daraufhin festgenommen wurden, sollen nach einer Anhörung nun bis Anfang April in Haft bleiben. Zuvor hatte sich Kokorin in einem offenen Brief bei seinen Fans entschuldigt – ohne Ergebnis.

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(Foto: Stanislav Kozlovskiy, Butyrka prison, CC BY-SA 3.0)

Mamajew wiederum machte einige Tage nach der Entscheidung bei einer PR-Aktion mit, die nicht nur ihn gut aussehen lässt, sondern auch das Butyrka-Gefängnis, in dem er sitzt: Dort trat er bei einem fototauglich inszenierten Fußballspiel an. Zwei mal zwanzig Minuten, Mamajew erst in der einen, dann der anderen Mannschaft. Ob’s was geholfen hat, zeigt sich wohl frühestens im April.

⚽ Am 23. Februar wird in Russland der „Tag des Vaterlandsverteidigers“ gefeiert. Männer werden mit stereotypen Männerglückwunschkarten beschenkt, bekommen Socken, Rasierschaum und andere klischeemäßige Männerdinge. Umgangssprachlich ist oft einfach vom „Männertag“ die Rede: Jeder Mann ist schließlich ein Soldat, irgendwie und potentiell, auch wenn viele russische Familien nach dem Schulabschluss alles dafür tun, dass ihre Söhne nicht zum Militär müssen, wo brutale Übergriffe auf junge Rekruten Alltag sind. Aber hey, Soldaten, Militär, Heldengeschichten – da will natürlich auch Russlands Nationalmannschaft mitspielen und gratuliert entsprechend:

Hübsch haarspalterig übrigens ein Kommentar darunter, dessen Verfasser sich sorgt, die Stürmer im Team könnten sich am „Tag des Vaterlandsverteidigers“ ungeliebt und vergessen fühlen: „Und was ist mit dem Tag des Vaterlandsangreifers?“

⚽ Am 10. März soll ja nun endlich das erste Spiel im neuen Dynamo-Stadion in Moskau stattfinden (immer vorausgesetzt, die kriegen das mit dem Rasen bis dahin geregelt – einfach hier mal klicken und dann zum zweiten Bild scrollen). Kevin Kuranyi, selbst ehemaliger Dynamo-Spieler, hat schon mal gesagt, dass er gerne zum Eröffnungsmatch kommt, wenn man ihn denn einlädt. Um seine Chancen zu steigern, lässt er sich direkt noch mit einer positiven Prognose zitieren: Das Spiel gegen Spartak wird selbstverständlich Dynamo gewinnen.

⚽ Zu José Mourinho gab es diesen Monat ja so diverse Meldungen. Erstens muss er trotz Steuerhinterziehung nicht ins Gefängnis, sondern zahlt stattdessen eine Geldstrafe. Zweitens durfte er beim Eishockeyspiel zwischen Avangard Omsk und SKA Petersburg den ersten Puck ins Spiel bringen und schaffte es dabei, sich auf dem roten Teppich langzumachen. Und weil er damit offenbar noch nicht tief genug gefallen war, entschied er sich als nächsten Karriereschritt hierfür:

Wer die Anspielung mit Balashika (deutsch: Balaschicha) nicht versteht: Bitte hier entlang.

⚽ Das hier wollte ich letzten Monat schon verlinken, aber dann hatte Russian Football News Technikprobleme und die Seite war offline. Jetzt aber kann man den Text wieder lesen, der einem eine Vorstellung davon gibt, wie riesig das Gebiet ist, dass Russlands Liga-Fußballer Woche für Woche bereisen müssen. Denn der Artikel präsentiert ein Gedankenspiel: Stell dir vor, London wäre Moskau. In welche anderen Städte müsste man von dort aus zu Auswärtsspielen reisen, um genau so große Strecken zurückzulegen wie Russlands Fußballer? Einmal nachgerechnet, und schon spielen Vereine aus Aberdeen, Neapel, Barcelona, Wolfsburg, Warschau und Wien alle in derselben Liga. Und jedes Wochenende muss die Hälfte der Clubs reisen.

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Zum Schluss ein Buchtipp. Barney Ronay war für den Guardian bei der Fußball-WM in Russland. In „How Football (Nearly) Came Home“ erzählt er, wie sich die englische Mannschaft dort geschlagen hat (überraschend gut), wie der russische Sommer für ihn so war (überraschend heiß) und wie die Menschen in England auf den Erfolg ihres Teams reagiert haben (überrascht).

kscheib barney ronay buchcover

Was mir besonders gefällt: Da schreibt nicht der Journalist (jeder hat ihn schon mal erlebt), der für vier Wochen in ein Land eingeflogen wurde und nun natürlich Experte für dieses Land ist. Ronay macht stattdessen zum Thema, was Russland mit ihm macht, konkret zum Beispiel die Sommerhitze von Nischni-Nowgorod: “It was ludicrously hot outside, heat that makes you want to stop and say OK, but seriously, what’s the actual, how’s the, when does it, this can’t be.”

Interessant auch sein beiläufiger Kommentar zum Zusammenhang zwischen British Empire und englischem Fußball: „Rather than threatening to bestride the world, England have instead been relentlessly baffled by it. The issue of ‚abroad‘, its otherness, its refusal to lie down or give ground or know its place has been the central note of confusion in England’s largely non-illustrious footballing history.“



 

Russball, Folge 59: Warten auf Schalke

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Sie haben die Heizung eingeschaltet in Moskau. Ein wichtiger Schritt, denn das geschieht hier zentral – ehe bei der Stadt nicht jemand zum Schluss kommt, dass es ausreichend kalt ist, kann bei sich daheim niemand heizen. Aber gut, vor ein paar Tagen gab es den ersten Hagel, daraufhin hat sich wohl jemand erbarmt.

Das mit dem Herbst geht hier immer schnell, letzte Woche konnte man noch Wäsche auf dem Balkon trocknen. Da hingen sie nebeneinander, ein blau-weißes Trikot und ein blau-weißer Schal, die demnächst hier Großes vorhaben: Es geht in die RZD-Arena, das einzige der großen Moskauer Stadien, in denen ich noch kein Spiel gesehen habe. RZD ist die Abkürzung für Russlands Eisenbahnunternehmen, es ist also nur folgerichtig, dass dort Lokomotive Moskau spielt. Und am 3. Oktober bekommt der Verein Besuch aus Deutschland: Schalke kommt.

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⚽ Das Champions-League-Spiel zwischen Schalke und Loko ist nicht nur für diesen einen Moskauer Schalke-Fan-Haushalt interessant, zu dem ich gehöre. Beide Vereine stehen deutlich schlechter da als vergangene Saison und brauchen dringend ein Erfolgserlebnis: Lokomotive, russischer Meister der vergangenen Saison, steht nur auf dem 6. Tabellenplatz, Schalke ist sogar noch tiefer gefallen, from Vizevorjahresmeister zum aktuell Vizetabellenletzten.

Besonders spannend wird das Spiel durch die, sagen wir mal, personellen Verbindungen zwischen Schalke und Loko. Der Sportdirektor (und Ex-Schalker) Erik Stoffelshaus hat Benedikt Höwedes nach Moskau geholt, Jefferson Farfan spielt schon seit 2017 bei Lokomotive. Ein kleines Nest an früheren Schalkern also. Wie sich das für die drei anfühlt, hat Stoffelshaus in einem Interview mit Transfermarkt umrissen. Höwedes selbst kommt bisher in Moskau nur selten zum Einsatz und muss mit Kommentaren wie diesem leben: „Höwedes mag Weltmeister sein, aber er ist ein Pilot, der nicht abhebt.“

Wie blickt Russlands Sportpresse auf das Spiel am 3. Oktober? „Schalke ist schrecklich in die Bundesliga gestartet, Loko muss gewinnen“, schreibt Bombardir, Sports.ru veröffentlicht eine tiefgehende Analyse, was bei Schalke derzeit alles schief läuft – kommt aber letztlich zu dem Fazit, dass Tedesco dennoch der richtige Trainer für den Verein ist. Und, auch wichtig: Lokomotive muss gegen Schalke auf einen großen Namen verzichten, nachdem Fjodor Smolow sich an der Schulter verletzt hat.

⚽ Wen man mal im Auge behalten sollte: Maxim Warnawskij. Er ist 16 Jahre alt, spielt für den FK Kuban und hat dort gerade dieses Zückerchen hier geliefert:

⚽  Die Geschichte mit Pjotr Wersilow habt ihr in den vergangenen Tagen sicherlich verfolgt. Der Pussy-Riot-Aktivist, der als einer von vier Flitzern (bei russischen Fußballfunktionären scheint da eine gewisse Unklarheit über die Anzahl zu herrschen, aber lassen wir das mal beiseite) beim WM-Finale gegen Polizeigewalt protestiert hatte, wurde allem Anschein nach vergiftet und daraufhin zur Behandlung nach Deutschland gebracht. Inzwischen geht es ihm langsam wieder besser.

Bemerkenswert ist, dass er nur wenige Tage zuvor ein Interview zur Frage gegeben hat, wie sich das Verhalten der russischen Polizei verändert hat – jetzt, wo die Weltmeisterschaft vorbei ist, das Interesse der Welt an Russland nachgelassen hat und die Inszenierung von fröhlichem Alltag mit nachsichtig-entspannten Ordnungshütern keine Priorität mehr hat. Daraus entstand ein Text, den zu lesen sich lohnt: „Two months after World Cup final, Russian police no longer relaxed“.

⚽ Wie das so ist im Pokal: Da muss man selbst als halbwegs etablierter Verein plötzlich an entlegene Orte fahren, wo man sonst nie hinkäme. Für den FK Jenissei Krasnojarsk war es diesen Monat Welikije Luki, das musste ich auch erst mal googlen – und dann ordentlich rauszoomen, um zu sehen, wo diese Stadt liegt: Wer auf die Idee kommt, mit dem Auto von Moskau Richtung Lettland zu fahren, der stößt irgendwann auf Welikije Luki. (Ich hatte sehr gehofft, dass der Name „Große Zwiebeln“ bedeutet, aber wenn man sich das Stadtwappen ansieht, ist hier wohl eher die zweite Bedeutung von „Luki“ gemeint, nämlich Bögen. Schade.)

Das Spiel in Welikije Luki jedenfalls bedeutet für die Jenissei-Spieler: erst der Flug nach Moskau, von dort aus dann fast acht Stunden weiter mit dem Zug. Die Tweets von der Zugfahrt umweht ein Hauch von Klassenfahrt, vor allem einer von ihnen spiegelt sehr genau wieder, mit welcher logistischen Souveränität Russen solche langen Zugfahrten antreten: „Wir haben ein Hähnchen in Alufolie, wir haben hartgekochte Eier, wir haben Doschirak gekauft. Fehlt noch was?“ Doschirak ist die Marke, unter der hir allerlei Nudelsnacks verkauft werden, die man nur noch mit heißem Wasser aufgießen muss. Das nämlich kann man in vielen russischen Langstreckenzügen bequem aus einer Art Riesen-Samowar im Gang zapfen.

⚽ Zwei, vielleicht drei Tage nach dem Umzug nach Russland Anfang 2014 muss das gewesen sein, als mir diese Meldung hier begegnete: Ein Streit zwischen zwei Freunden darüber, was besser ist, Dichtung oder Prosa, dazu Alkohol, der Streit eskaliert – am Ende ist der Freund, der Gedichte kritisiert hatte, tot, der andere wird später zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.

Mir wurde also halbwegs flau, als ich hörte, dass zwei Spartak-Spieler in einen Streit um ein Gedicht verwickelt waren. Die Wahrheit war hier dann aber gottseidank etwas weniger dramatisch: Denis Gluschakow und Andrey Yeshchenko sollen beide ein Instagram-Video geliked haben, in dem der Schauspieler Dmitri Nasarow ein Spottgedicht über Massimo Carrera aufsagt. Kleiner Haken: Der Mann ist Trainer bei Spartaak, Gluschakow und Yeshchenko haben also dem eigenen Coach ans Bein geliked. Ergebnis: Alle Beteiligten noch am Leben, aber die beiden durften nicht mit zum Spiel gegen Rapid Wien.

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⚽ Lang keine Debatte mehr gehabt über Reformbedarf im russischen Fußball, da hat die Gute-Laune-WM tatsächlich mal für ein paar Wochen verhältnismäßige Ruhe gesorgt. Aber jetzt geht’s wieder los, diesmal kommt der Impuls von Leonid Fedun, dem Präsidenten von Spartak Moskau. „Ohne Reformen ist unser Fußball dazu verdammt, dahinzuvegetieren“, sagt er und fragt: Wie kann man den Schwung der erfolgreichen WM nun mitnehmen, so dass er dauerhaft dem Fußball in Russland verbessert?

Mehr Geld für die Vereine aus Fernsehrechten wünscht sich Fedun zum Beispiel, aber seine Kritik ist sehr viel grundlegender. Weil in Russland immer noch viele Vereine im Besitz des Staates oder von Staatsunternehmen sind, fehle „in 95 Prozent der Fälle ein Zusammenhang zwischen dem finanziellen Wohlstand und dem sportlichen Erfolg der russischen Profi-Clubs.“ Das müsse sich dringend ändern, als Erfolgsanreiz. Feduns weitere Ideen (wie etwa den Vorschlag, nur diejenigen Vereine in die Premjer Liga zu lassen, deren Stadion mindestens Platz für 20.000 Fans bietet – sorry, Orenburg! Sorry, Ufa! Knapp Schwein gehabt, Tula!) könnt ihr hier nachlesen.

⚽ Was machst du, wenn du in der Nationalmannschaft spielst und deinem Trainer, dem ollen Schnauzbartträger, für den WM-Erfolg danken willst? Klar, kommste auch mit Schnäuzer zum Training. In diesem Sinne: Heiner-Brand-Gedächtnispreis für die russischen Spieler, und bravo, Stanislaw Tschertschessow!

⚽ Wer kann langfristig von der Fußball-WM in Russland profitieren und wer nicht? Den kleineren Vereinen, die plötzlich in schicken neuen Stadien spielen, hat das Turnier offenbar mehr genutzt als den schon etablierten Spitzenclubs. AP hat dazu eine gute Analyse samt Ausblick: „The challenge now is to maintain that World Cup buzz through the winter, and to pay for the costly stadiums.“

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Als Rausschmeißer nun noch ein Video von einem dieser öffentlichen Heiratsanträge, bei denen ich mir nie ganz sicher bin, ob sie nun niedlich sind oder bloße Nötigung. (Danke an David Hagemeister für den Tipp.) Während ihr euch diesen Clip mit Torjubel und roten Rosen anseht, such ich dann schon mal die die blau-weiße Schminke raus. Wie oben ja schon ganz kurz erwähnt: Schalke kommt!



 

Russball, Folge 52: Jetzt geht’s los, jetzt geht’s los

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„Wollen Sie jetzt mit Ihrem normalen Visum einreisen oder mit der Fan-ID“, fragt die Frau an der Passkontrolle. Zuvor hab ich schon zwei Volunteers, die garantiert ein Lächeltraining durchlaufen hatten, erklären müssen, dass ich mich in der Schlange für FIFA-akkreditierte Journalisten anstellen darf. Sehr lustig, weil natürlich mal wieder russische Anarchie herrscht und sich das Ömchen vor mir, deutlich im Rentenalter und erkennbar keine ausländische Journalistin, stillschweigend in genau diese Schlange gestellt hat und nun „ich geh hier nicht weg, da müsst ihr mich schon tragen“ ausstrahlt. Es ist also alles wie immer, nur halt anders.

In der Halle neben dem Gepäckband steht ein eigener WM-Desk mit, theoretisch, vier Schaltern. Keiner von ihnen ist besetzt, stattdessen können die neu Gelandeten einen wichtigen russischen Begriff lernen: „technitscheski pererif“, technische Pause. Klingt wichtig und deckt alle Gründe ab, warum da gerade niemand sitzt. An der Straße ins Zentrum sind großflächig Werbeflächen mit allerlei FIFA-Kram belegt, auf den Brücken im Zentrum wehen Fahnen und ja, im Supermarkt bei uns in der Nähe wurden auf der Zielgeraden noch ein paar Fan-Artikel ins Sortiment genommen.

Wer immer in diesen Tagen behauptet, hier in Moskau herrsche nun endlich „WM-Fieber“, der ist wahrscheinlich Hypochonder. Schön lakonisch haben das die Kollegen von der Moscow Times in einem Facebook-Post festgehalten. Immerhin: Die ausländischen Fans sorgen hier und da für Stimmung auf der Straße, gestern saß ich in einem Café und vor der Tür lieferten sich Anhänger von Peru und Kolumbien einen Sprechchor-Wettbewerb. Sehr schön, das darf gern so bleiben.

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⚽ Schon klar, ihr wollt hier jetzt alle was über die WM lesen. Und ja, da kommen wir auch gleich noch zu, keine Bange. Aber zum Hintergrund gehört ja auch die Frage, wie es dem Fußball in Russland geht. Die Antwort ist einfach, sie hat mal wieder mit Geldmangel zu tun, und Sports.ru bringt es mit größtmöglichem Sarkasmus auf den Punkt. „Der russische Fußballsommer in einem Bild“ heißt die Überschrift, darunter drei Vereinslogos:

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„Tosno – hat dicht gemacht. Kuban – wird dicht machen. Amkar – wird dicht machen.“ Drei russische Fußballvereine, die es in der nächsten Saison nicht mehr geben wird, und ehe einer fragt: Nein, das sind nicht irgendwelche Clubs. Tosno ist der diesjährige Pokalsieger, dürfte eigentlich demnächst international spielen, aber nein: Der Verein hat sich aufgelöst, weil das Geld fehlt. Bei Amkar Perm sieht es ähnlich düster aus, Kuban schließlich soll allen Berichten nach durch einen neuen Verein namens „Uroschai“ ersetzt werden, weil der alte Club keine Lizenz mehr bekommen hat. Und mit all dem Frust, den ein Fußballfan fühlt, wenn es seine Mannschaft plötzlich nicht mehr existiert, bildet die Redaktion dazu ein Feuerwerk über der Basiliuskathedrale ab und schreibt: „Am 14. Juni beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland.“

⚽ Gute Nachrichten für Dmitry Petelin: Der Student, der wie viele seiner Komilitonen gegen die Fan-Zone unmittelbar neben dem Universitätsgebäude in den Sperlingsbergen protestiert hat, muss kein Verfahren wegen Vandalismus mehr fürchten. Petelin soll auf eine Hinweistafel zur WM die Worte „Keine Fanzone“ gesprayt haben und war daraufhin festgenommen worden, ihm drohten 65.000 Rubel Geldstrafe oder gar Haft.

Nach einer Unterschriftenaktion und nachdem sich sowohl der Uni-Rektor als auch der Menschenrechtsrat der russischen Regierung für ihn eingesetzt hatten, wurde das Verfahren nun eingestellt. Dass eine Verurteilung wegen einer solchen Bagatelle kurz vor der WM denkbar schlechte PR gewesen wäre, hat sicher auch zu dieser Entscheidung beigetragen.

Klappt allerdings auch nicht immer: Selbst alleine ein Schild hochzuhalten ist nach russischem Recht eine unangemeldete Demonstration. Ein Mann, der das zur Unterstützung Petelins getan hat, muss dafür nun 20.000 Rubel Strafe zahlen, das sind rund 280 Euro – mit dem Verweis auf einen Erlass aus dem Jahr 2017, durch den die Versammlungsfreiheit während der WM noch weiter eingeschränkt wurde, als sie es hier ohnehin schon ist.

⚽  Was man nicht so alles lernt, wenn man Berichte ausländischer Medien liest. War mir zum Beispiel neu, dass Joachim Löw mal im Nebenjob Krawatten verkauft hat. Eines von vielen Details in einem Porträt des Trainers bei Wedomosti: dass er „Adrenalin im Blut liebt und deshalb den Kilimandscharo besteigt, Fallschirm springt oder ins Casino geht.“

Dass sein Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war und zurückkam mit der Überzeugung, Russen könnten alles schaffen, wegen ihrer großen Leidensfähigkeit. Und dann, natürlich, die Anekdote, dass Löw ja mal Trainer und somit Chef von Stanislaw Tschertschessow war, Russlands heutigem Nationaltrainer. Wie oft wir diese Tatsache bis Mitte Juli wohl noch erzählt bekommen?

⚽  Ach schön, Moskaus Bürgermeister meldet sich zu Wort, von dem hört man ja sonst total selten. Hüstel. Jedefalls wendet sich Sergej Sobjanin via VKontakte an die Moskauer, oder noch genauer: an die Chefs der Moskauer.

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Erst ein paar warme Worte über die Ehre, Gastgeber sein zu dürfen, dann der Hinweis auf die vielen Staatsoberhäupter, die zur Eröffnung kommen, und dass das natürlich Straßensperrungen bedeutet. (Wie gefühlt jede Woche hier in Moskau.) Dann die Pointe: „Deshalb bitte ich die Leiter von Unternehmen und Organisationen, in diesen Tagen ihre Mitarbeiter mit maximaler Großzügigkeit zu behandeln und ihnen, wenn möglich, einen freien Tag zu geben.“ Mit der Tatsache, dass der Mann nächstes Jahr wieder zur Wahl steht, hat das natürlich nichts zu tun.

⚽ Eh das Turnier auch nur begonnen hat, wird schon mal die Schuldfrage geklärt fürs mutmaßlich schlechte Abschneiden der russischen Nationalelf. „Die russische Mannschaft ist sehr schwach, wer ist schuld?“, fragt Sports.ru und bietetzur Auswahl die Spieler, den Trainer und die staatliche Führung an. Die meisten Leser entscheiden sich aber für Option vier, „alle zusammen“, was die Macher der Website sehr schlicht mit einer russischen Fahne illustrieren. Wenn Russland schlecht Fußball spielt, ist daran Russland schuld. Haben wir das auch geklärt.

⚽  Was ist das eigentlich zwischen Ronaldo und Messi? Eine Rivalität? Eine Freundschaft? Irgendwas dazwischen? Oder sind sie einander einfach herzlich egal? Man kann dazu ja allerlei lesen, Spekulationen oder auch mal einen Interviewfetzen. Aber nun hat eine russische Twitternutzerin die Frage beantwortet: Das zwischen Messi und Ronaldo (die Russen sagen Ronaldu) ist Freundschaft.

„Druschba“, Freundschaft, heißt nämlich der Ort, durch den man kommt, wenn man vom Trainingslager der Argentinier zu dem der Portugiesen fährt oder andersrum. Respekt, das muss einem erst mal auffallen! (Übrigens haben die Argentinier drei Tonnen Essen mitgebracht zur WM. Da kann Messi seinen Freund Ronaldo ja mal zum Steak einladen.)

⚽ Darüber hatte ich bisher noch gar nicht nachgedacht: Stimmt, alle Teams, die sich ihr Mannschaftsquartier rund um St. Petersburg gesucht haben, geraten da ja voll in die Weißen Nächte. Die Zeit im Sommer also, wenn es in Russlands „nördlicher Hauptstadt“ nachts nicht mehr dunkel wird. Den Effekt kenne ich hier aus Moskau, auch wenn wir im Hochsommer immerhin noch ein paar dunkle Stunden haben. Trotzdem sitzt du manchmal aufrecht im Bett, es ist taghell – Mist, verschlafen! Du stehtst auf, schlurfst ins Bad – und stellst dort auf der Uhr fest, dass es kurz vor 3 Uhr morgens ist.

Was macht das mit Hochleistungsfußballern, die fit und ausgeschlafen sein müssen für ihr nächstes Spiel? Tragen die jetzt alle Schlafmasken? Warum hab ich das noch nirgends gelesen, das bewegt doch die Welt! Ah, schau, eine Stellungnahme aus der kroatischen Mannschaft, die im Kurhotel „Waldrhapsodie“ untergebracht ist, eine halbe Stunde außerhalb von Petersburg: „Wir haben gute Vorhänge. Das wird kein Problem sein.“ Na gut – aber wenn ihr nun nicht Weltmeister werdet, liebe Kroaten, dann sagt nicht, euch habe keiner gewarnt.

⚽ Wo eine Großveranstaltung stattfindet, gibt es immer auch Abzocker. Bei Airbnb ist mir da neulich Nikolai aufgefallen, und ich muss schon sagen: Es gibt dreist, und es gibt Nikolai-dreist. Oder wollt ihr gerne mehr als 300 Euro pro Nacht ausgeben, um in einem zugemüllten Schuppen auf einem Garagendach zu wohnen? Nein? Seltsam.

⚽ Ach, schön, eine Runde Journalistenbashing. Artjom Dsjuba, russsischer Nationalspieler, hat sich bei den Journalisten von Gasjeta.ru beschwert, sie seien immer so kritisch, mal solle doch erst mal die Mannschaft ihr Turnier abschließen lassen, sie unterstützen und sich dann eine Meinung bilden. Eventuell hat der Mann kein allzu gutes Verständnis, wie das mit der Fußball-Berichterstattung bei großen Turnieren funktioniert, und dass die Hauptaufgabe von Journalisten nicht das Anfeuern ist. Andererseits, die russische Nationalmannschaft steht so tief im FIFA-Ranking wie noch nie, da kann man schon mal nervös werden.

⚽ Große Teile meines Montagabends habe ich auf einer Moskauer Polizeiwache verbracht, zusammen mit einem jungen Ägpter, der hier in Russland studiert. Es war einer der absurdesten Abende, die ich in Russland erlebt habe. Und wir haben so viel Smalltalk über Mo Salah gemacht, dass selbst mich jetzt Tweets wie dieser hier interessieren und ich nickend vor dem Rechner sitze:

Die Fotos von Salah mit Ramsan Kadyrow allerdings, dem tschetschenischen Machthaber, unter dem dort Schwule verfolgt und Menschenrechte komplett ignoriert werden – da kann ich nur den Kopf schütteln. Mehrfach.

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Was bleibt noch, eh sie beginnt, diese Weltmeisterschaft? Ein Dank an alle, die seit einem Jahr hier mitlesen über Russlands WM-Vorbereitungen und den Fußball hier im Lande. An die, die von Anfang an dabei sind und an die, die nach und nach dazugekommen sind. Und nein, das ist kein Abschied, natürlich gibt es auch während der WM jede Woche eine Russball-Folge. Aber eh es morgen trubelig wird, wollte ich halt einmal danke sagen. Ich hab mich in diesem Jahr über jeden Leser und jeden Kommentar gefreut.

Und jetzt wären wir dann soweit, wertes DFB-Team. Here’s looking at you. Kann losgehen!



 

Russball, Folge 48: Bau mir ein Stadion, du kriegst auch was zu Essen!

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Übers Wochenende war ich ein mit Freunden in St. Petersburg und habe, klar, zwischen Eremitage und Kneipentour auch die Augen offen gehalten in Sachen WM-Vorbereitungen. Zwei Dinge sind mir aufgefallen: Am Kiosk gibt es, erstens, inzwischen Unmengen an Süßigkeiten, die mit dem Maskottchen Sabiwaka bedruckt sind – Pfefferminztabletten, Weingummis, Tictacs, Kaugummis, Bonbons.

Zweitens sind die Wegweiser auf Russisch und Englisch nicht nur aufgestellt, sondern auch bereits mit Tags verziert, will sagen: Sie fügen sich harmonisch ein in das Stadtbild dieser Metropole, die im Vergleich zu Moskau weniger geleckt, weniger hochglanzig ist und dafür ein bisschen schmuddeliger und ein bisschen unkonventioneller. Ich mag das ja.

Ein Wegweiser zu einer Metrostation

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⚽  So kann’s gehen: Zwischen „Ich fange mal an, an der neuen Russball-Folge zu arbeiten“ und „Heute muss die neue Folge aber endlich fertig werden“ hat sich die komplette Geschichte rund um Hajo Seppelt abgespielt. Russland verweigert ihm das Visum, weil er nach seiner Doping-Berichterstattung auf einer „Persona non grata“-Liste steht. Die ARD protestiert, die Bundesregierung protestiert. Russlands berühmtester Fußballkommentator kritisiert die Entscheidung, man spiele damit Menschen in die Hände, die von Skandalen lebten. Der Vorsitzende des russischen Journalistenverbands sagt, Seppelts Arbeit sei reine Propaganda, aber man solle ihm dennoch ein Visum geben. Sport Express veröffentlich eine lange Kritik an Seppelt und seiner Berichterstattung unter der ziemlich unfassbaren Überschrift: „Man hat die WM von Seppelt erlöst, das ist eine Hygienemaßnahme“.

Inzwischen hat sich rausgestellt, dass Seppelt nun doch ein Visum bekommen wird. Reist er allerdings nach Russland ein, will ihn das Staatliche Ermittlungskomitee zu seinen Doping-Recherchen vernehmen. Ob Seppelt das tut, kann man – Stichwort Informantenschutz – bezweifeln. Wer weiß, vielleicht gibt es zwischen Dienstag Abend, wo ich hier sitze und diese Zeilen tippe, und Mittwoch früh, wenn der Newsletter in eure Inbox plumpst, ja schon die nächste Entwicklung, zum Beispiel: Seppelt sagt Russland-Reise ab.

⚽ Wie eventuell der ein oder andere mitbekommen hat, steht ja seit gestern der vorläufige deutsche WM-Kader fest. Ich hab mir mal die Mühe gemacht und alle Nationalspieler russlandtauglich gemacht, indem ich ihnen einen Vatersnamen verpasst habe. Nur einer fehlt – falls jemand weiß, wie der Vater von Kevin Trapp mit Vornamen heißt, sagt doch bitte Bescheid! Anschließend hatte sich der DFB noch was ausgedacht: Ein Interview mit Russlands Nationaltrainer Tschertschessow, der als Hologramm mit auf der Bühne saß. Doch, wirklich:

Tschertschessow hat gerade erst selbst seine vorläufige WM-Auswahl präsentiert, wobei zu der sehr viel mehr Spieler gehören als zur deutschen. Eindampfen müssen beide bis Anfang Juni, Russlands schönster Schnäuz und der Bundesjogi. Warum es sich Tschertschessow so viel schwerer gemacht hat, und was er in den paar Tagen noch über seine Spieler rausfinden will, was er bisher noch nicht weiß – keine Ahnung. Hier ist jedenfalls seine Liste, außerdem gibt es noch sieben potenzielle Nachrücker.

⚽ Stell dir vor, die WM rückt näher und dein Stadion ist immer noch nicht fertig. In Nischni Nowgorod haben sie im April offenbar versucht, dieses Problem kreativ zu lösen: Einem Reuters-Bericht zufolge verschickte der städtische Sportminister einen Brief, in dem er Menschen zum kostenlosen Arbeitseinsatz auf der Stadionbaustelle aufrief. Immerhin: Drei warme Mahlzeiten am Tag und eine Unterkunft sollte es geben, Werkzeug, heißt es in dem Schreiben, werde gestellt. Na immerhin.

⚽ „Was Bayern zur Feier seines sechsten Meistertitels verkauft“ ist ein Artikel von Sports.ru überschrieben. Es folgen das Bayern-Grillset, Bayern-Weingummi, eine Bayern-Tasse mit dem Kommentar, seltsamerweise gebe es kein Bayern-Bierglas. Alles eher unspektakulär, warum also erwähne ich es hier? Wegen des Kommentars, den ein Leser unter dem Artikel hinterlassen hat, und den die anderen Leser zum besten Kommentar gewählt haben: „Und was verkauft ZSKA nach der Meisterschaft? Seine besten Spieler.“ Sehr hübsch.

⚽ Was kommt bei Zenit nach Roberto Mancini? In Russland wird in diesen Tagen viel über eine Liste spekuliert, die die Vereinsbosse angeblich zusammengestellt haben. Auslöser dafür war ein Tweet von Georgi Tscherdanzew, einem bekannten Fußballkommentator. Der Mann hat fast 500.000 Follower bei Twitter – kein Wunder also, dass ein Tweet wie dieser hier schnell die Runde macht:

„Hundertprozentiges Insiderwissen von @zenit_spb: Es gibt schon eine Liste mit fünf Trainern, die auf Mancini folgen könnten. Fortsetzung folgt 😉“. Auch in der Redaktion von Championat.com haben sie den Tweet gesehen und brav ihr Handwwerk gemacht, indem sie beim Verein nachgefragt haben, ob das denn auch alles so stimmt. Antwort von Pressesprecher Anton Makarenko: „Ja.“ Wer sind also die fünf Kandidaten? Championat nennt Sergei Semak, Siniša Mihajlović, Miodrag Boschowitsch, Maurizio Sarri und Dick Advocaat, aber kaum ist die Geschichte veröffentlicht, haut Kommentator Tscherdanzew seinen nächsten Tweet raus:

„Hundertprozentiges Insiderwissen von @zenit_spb: Auf der Liste mit fünf Trainern, die auf Mancini folgen könnten, stehen russische Spezialisten. Dick Advocaat steht nicht auf der Liste. Fortsetzung folgt 🔥“.

⚽ Eine Meldung aus der Reihe „Offensichtliches“: Kreml-Sprecher Peskow hat bestätigt, dass Wladimir Putin sich das Eröffnungsspiel der Fußball-Weltmeisterschaft zwischen Russland und Saudi-Arabien ansehen wird, Ria Nowosti ist das eine eigene Meldung wert. Mit angehaltenem Atem warten wir nun auf weitere Peskow-Statements: „In Russland wird während der WM mit Rubeln bezahlt“, „Nawalny wird bei der nächsten Demo verhaftet“ und „Im Winter rechnen wir mit Schnee, vor allem in Sibirien.“

⚽ Ihn hier wollte ich schon öfter mal erwähnen, hatte aber nie einen guten Text zur Hand. Nun hab ich dieses Porträt gefunden: „Jacob Gardiner-Smith: The Englishman who plays for Zenit“. Aufgefallen war er mir nicht nur durch seine Tweets, sondern auch, weil der Nachname „Gardiner“ bei mir sofort allerlei urenglische Assoziationen weckt, von Jane Austen bis Proms.

Im Fall von Jacob Gardiner-Smith sind die passenderen Asoziationen aber dann doch sein Opa John, ein erfolgreicher Fußballer, der 1936 in Berlin für Großbritannien spielte und sein Vater Barry, ein Labour-Abgeordneter. Interessant jedenfalls, wie Jacob mit 17 schon nach Russland gegangen ist, und warum er anderen zu einem ähnlichen Schritt raten würde – auch, wenn das bedeutet, das vertraute, einfache Leben daheim hinter sich zu lassen.

⚽ Fehlt noch der Hinweis auf ein Medium, das ich hier bisher noch nie verlinkt habe. Doch wenn WM im eigenen Land ist, dann heben selbst Frauenzeitschriften plötzlich Fußballer aufs Cover. So geschehen bei der russischen Vogue, deren Heft zum Thema „Fußball und Mode“ ab heute verkauft wird. Auf dem Titel: Nationalspieler Fjodor Smolow, der als leichte Trainingseinheit das Model Natalja Wodjanowa huckepack durchs Bild trägt. Kann man einfach mal auf sich wirken lassen.

Beim Shooting war Smolow übrigens nicht der einzige Fußballprofi: Auch Julian Draxler machte mit, das sieht dann so aus:

Вперёд, Россия!🇷🇺 Встречайте нашу июньскую обложку, приуроченную к Чемпионату мира по футболу, который пройдёт в России в июне: русская супермодель Наталья Водянова вместе с футболистами Фёдором Смоловым, Юлианом Дракслером и Даниэлом Алвес да Силва предстала в объективе звездного дуэта фотографов Луиджи Мурену и Янго Хенци – в продаже с 16 мая!/ As FIFA World Cup in Moscow approaches, meet our June cover starring @natasupernova @smolovfedor_10 @draxlerofficial @danialves. Photo: @luigiandiango Style: @patrickmackieinsta Hair: @luigimurenu Makeup: @mariaduhart

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Zum Schluss noch ein kleiner Nachtrag zur letzten Russball-Folge. Da hatte ich einen Artikel verlinkt, in dem es darum ging, warum Nachwuchsfußballer, die im Dezember geboren sind, es in Russland schwer haben. Schon da war erwähnt, dass es in Deutschland ein ähnliches Problem gibt. Seitdem haben mir mehrere Leute diesen Artikel hier erreicht, der dem Phänomen auf den Grund geht: Dezemberkinder werden selten Fußballstars. Danke für den Hinweis – und bis nächste Woche!



 

Russball, Folge 46: Dieser Bär steht jetzt für den russischen Fußball

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Fasst man’s denn? Das WM-Stadion in Samara ist nach unendlich vielen Verzögerungen eröffnet worden, nur sechs Wochen vor Turnierbeginn. Ab sofort rechne ich also täglich mit der Fertigstellung des Flughafens in Berlin! Ansonsten habe ich neulich den möglicherweise absurdesten Text meiner jüngeren journalistischen Karriere verfasst, über ein Festival, das hier in Russland parallel zur Weltmeisterschaft stattfindet und bei dem der gemeinen Gurke in all ihren Inkarnationen gehuldigt wird. Was sonst noch los war:

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⚽ Zeit, mit der Hand durch die Sofaritze zu fahren und zu gucken, ob man noch ein bisschen Kleingeld findet. Mal zählen…ach guck, das sind ja genau 1656 Euro und 6 Cent. Wie praktisch, denn dafür kann man rund um die Spielübertragungen der Fußball-Weltmeisterschaft eine Werbesekunde im russischen Fernsehen kaufen. Gemeint sind damit natürlich nur Werbeplätze bei den Sendern Perwy Kanal, Rossija 1 und Match, die die Spiele übertragen. Die Sekunde für rund 1700 Euro, das entspricht einem Minutenpreis von 7,5 Millionen Rubel.

Ist das nun viel oder wenig? Die Redaktion von RBK zählt auf: Im Vergleich zur WM vor vier Jahren in Brasilien ist der Werbepreis konstant, damals verlangten die russischen Sender mit den Übertragungsrechten 7,538 Millionen pro Minute. Womit ich nicht gerechnet hätte, ist, dass dagegen bei der Europameisterschaft 2012 die Werbepreise der russischen Sender deutlich höher lagen. Warum, erklärt ebenfalls RBK: Damals „galt Russland als der Favorit in seiner Gruppe, die Zuschauer (…) erwarteten mindestens ein Überstehen der Gruppenphase, doch dazu kam es nicht.“

⚽ Wie sagte der zehnjährige Besuch aus dem Rheinland diese Woche: „Ihr habt hier echt überall Springbrunnen!“ Und ja, der Anlass war einer mitten im Einkaufszentrum, direkt neben dem Starbucks, aber die Beobachtung stimmt auch für Freiluftmoskau. Sachen abends schön beleuchten und im Sommer Springbrunnen sprudeln lassen, das sind zwei große Stärken der Stadtplaner hier.

Im vergangenen Sommer waren es 594 Brunnen in Moskau, diesmal kommt mindestens noch einer hinzu: Auf dem Gelände rund ums Luschniki-Stadion soll ein sogenannter „trockener Brunnen“ entstehen, also einer, zu dem kein mit Wasser gefülltes Becken gehört. Nur Wasser, das aus dem Boden schießt, in vielen kleinen Strahlen. Hinter der neuen Tretjakowgalerie gibt es sowas hier schon, und wenn im Sommer 30 Grad und mehr sind, ist das einer der kühlsten, angenehmsten Plätze in der Stadt: Einfach ein paar Schritte durch den Brunnen gehen, von den Fontänen links und rechts nassgemacht werden und sich dann zum Trocknen schön in die Sonne setzen. Das können Fußballfans demnächst also auch tun, wenn sie sich vor dem Stadionbesuch ein wenig abkühlen wollen – oder danach ihre Tränen verbergen. Was, ich, am heulen? Alter, das ist bloß Springbrunnenwasser!

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⚽ Interessante Reihe, da bei Sports.ru: Im Blog „Futbol auf Deutsch“ porträtiert Konstantin Andrejew seit einem guten Jahr Nachwuchsfußballer, die außerhalb Russlands leben, aber russischer Abstammung sind und somit möglicherweise mal für die russische Nationalmannschaft spielen könnten. (Der Subtext wird ironisch angedeutet: Wir sind doch hier so großzügig mit russischen Pässen, wenn wir einen ausländischen Spieler sehen, der den Fußball bei uns im Land voranbringen könnte. Und jetzt schaut mal, bei dem Jung hier wäre es so einfach!)

Das sind keine Namen, die ich jemals zuvor gehört hatte, aber die Porträts lesen sich interessant. Maximilan Lebedev zum Beispiel aus dem U17-Kader von Bayern München. Die Brüder Konstantin und Andreas Schiler, die aktuell für den SV Sandhausen in der U19 spielen. Und ganz abgesehen davon, ob es nun für eine Profikarriere reicht, ob die bis zur Nationalelf führt und welche Nationalelf es dann ist – interessant sind auch die Fragen zum Alltag der jungen Männer, von Russisch-Sprachkenntnissen über Familie bis hin zum Lieblingsessen. Lesen lohnt sich!

⚽ Das ist mir letzte Woche komplett durchgegangen: Russlands Premjer-Liga hat ein neues Logo – ein Bärenkopf in den Russlandfarben, mit Augen, die entfernt an den Terminator erinnern. Entworfen vom Studio Art.Lebedev, das hier in Russland schon so einige Großaufträge wegdesignt hat: Der aktuelle Metroplan ist dort entstanden, die Sitzpolster im Bus, selbst Moskaus Gullydeckel. Wer bei der Fußball-WM im Sommer auf dem alten Moskauer Olympiagelände unterwegs ist, orientiert sich an Schildern von Art.Lebedev. Und nun also dieses Logo.

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Wie kommt es an? So mittel. Natürlich kursieren allerlei Photoshop-Witzchen – mit der russischen Version von „Pu der Bär“, mit Elch, mit Mutko. Manchen Leuten ist der Bär zu nah am Russlandklischee, sie frotzeln, da fehlten doch noch Balalaika und Wodkaflasche. Nationalspieler Denis Gluschakow wurde nach seiner Meinung gefragt und rettete sich in ein höfliches „interessant“. Und dann war da noch ein Hinweis auf einen hippen Barbershop in Moskau, und ja: Dessen Logo sieht tatsächlich aus, als könnte es das Vorbild fürs Ligalogo gewesen sein. Trotzdem verstehe ich den Backlash nicht so richtig. Im Vergleich zu dem kleinteiligen, unaufgeräumten bisherigen Logo ist der Bär mit den roten Laseraugen ein echter Fortschritt:

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⚽  „Westi“, die Nachrichtensendung des russischen Staatssenders „Rossija 1“, hat durchgerechnet, was russische Fußballfans so investieren müssen, wenn sie alle drei Vorrundenspiele ihrer Mannschaft sehen wollen, also in Moskau, St. Petersburg und Samara. Das Ganze ist nicht immer akkurat gerechnet und ein wenig schief konzipiert (einerseits fehlen die Kosten für die Anreise nach Moskau, als lebe der typische Fan dort, andererseits werden aber auch in Moskau Hotelkosten mit eingepreist), dennoch ist die Liste im Kern ganz anschaulich: Wenn man davon ausgeht, dass Iwan Musterfan jeweils die billigste Ticketkategorie nimmt, dann kommt er für einen WM-Aufenthalt in Moskau auf 29.000 Rubel, in Petersburg auf auf 19.000 und in Samara auf 17.000 Rubel, dazu kommen noch Fahrtkosten.

Zusammen sind das mehr als zwei Durchschnittsgehälter, und man könnte an dieser Stelle des Berichts einen Schlussstrich ziehen. Aber als Staatsmedium ist man nun mal in der Pflicht, man hat für WM-Begeisterung und Hurrapatriotismus zu sorgen. Weshalb der Bericht von „Westi“ nicht mit dem Fazit endet, das sei ja nun recht viel Geld, selbst wenn man sparsam lebe. Nein, hinten wurden schön noch zwei Sätze drangedengelt: „Aber wenn unsere Mannschaft sich gegen alle Gegener gut schlägt und es über die Gruppenphase hinaus schafft, werden unsere positiven Emotionen diese Kosten ganz klar ausgleichen. Wir sind für unser Team!“

⚽  Über den Jahreswechsel 2017/2018 waren wir oben in Murmansk, es war knackig kalt und eine ganz großartige Reise. Nordlicht gesehen, den Eisbrecher Lenin besichtig, Markus hat für den Weltspiegel einen kleinen Film drüber gemacht. Daran musste ich diese Woche wieder denken, als Zenit St. Petersburg diese Bilder twitterte: Die Arbeiter, die gerade an einem neuen Eisbrecher für die russische Flotte bauen, scheinen allesamt Zenit-Fans zu sein:

⚽  Angeklickt und erst mal enttäuscht gewesen: „Das Tschertschessow-Kreuzworträtsel“ hieß es in der Überschrift und ich freute mich schon, allerlei Fragen zu Russlands Nationaltrainer zu beantworten: „Sieben Buchstaben, beginnt mit D: deutsche Stadt, in der Tschertschessow von 1993 bis 1995 als Spieler aktiv war.“ Aber nein, leider kein Rätsel, aber doch ein langes, tiefgehendes Porträt des Glatzenmanns, der die Russen so aufstellen soll, dass sie es vor heimischem Publikum über die Gruppenphase hinaus schaffen.

Ein bisschen sehr chronologisch ist der Artikel, das bremst ihn manchmal. Aber sonst liest er sich gut und anekdotenreich – einschließlich der Begebenheit, wie Tschertschessow 2001 Torwart beim FC Tirol Insbruck war und der Verein einen neuen Trainer bekam, der den gesundheitlich angeschlagenen Tschertschessow erst mal für ein paar Spiele auf die Bank setzte, bis er auskuriert war und sich vor dem Neuen beweisen konnte. Der hieß übrigens Joachim Löw.

⚽ Kennt ihr eigentlich den „Soviet Art Bot“ bei Twitter? Nein? Solltet ihr aber – nicht nur für Fußballbilder wie dieses hier:

⚽ Das ist mal ne Ansage: „Ohne die Fußball-Weltmeisterschaft gäbe es in Russland derzeit kein Wirtschaftswachstum.“ Gesagt hat das Arkadi Dworkowitsch, und der muss es wissen: Dworkowitsch ist Wirtschaftswissenschaftler und seit 2012 einer von Russlands stellvertretenden Premierministern. Mehr zu seiner außergewöhnlichen Rechnung hier.

⚽ Ein paar Woche ist es her, dass ich mich mit Mascha getroffen habe. Sie schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit, liebt das Rumstöbern in Archiven und kann sich für alte Dokumente begeistern. Wir sind rund um die Lomonossow-Universität spazierengegangen und sie hat mir gezeigt: Hier in dem Turm ist mein Wohnheimzimmer, da vorne ist der Haupteingang zum Unigebäude – und da, nicht weit weg, soll die Fanzone gebaut werden. Der zentrale Ort, wo in Moskau all die Fußballfans zusammen feiern können, die keine Karten fürs Stadion bekommen haben.

Mascha und ihre Kommilitonen haben Angst, nicht vor den Fans, sondern vor dem Krach bis spät in die Nacht, mitten in der Prüfungszeit. Wie sie ihren Protest dagegen sichtbar machen, und wie die FIFA, der Uni-Rektor und die Stadt Moskau mit diesem Protest umgehen, habe ich für die Berliner Zeitung aufgeschrieben. Am Tag, nachdem der Artikel im Blatt war, war ich abends mit dem Moskau-Besuch noch mal oben in den Sperlingsbergen, und siehe da: Baustellenlärm, Kipplaster, Bagger, Staubschwaden wehen hoch und verschleiern den Blick aufs Unigebäude. Es sieht nicht gut aus mit den Erfolgschancen für den Studentenprotest.

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⚽ Dass Niko Kovac neuer Bayern-Trainer wird, inspiriert nicht nur deutsche Dichter, es beschäftigt auch die russische Fachpresse. Sowetski Sport kritisiert zum Beispiel, Kovac habe keine Champions-League-Erfahrungen und als Trainer noch keinen einzigen Titel geholt, was er wohl auch im DFB-Pokalfinale am 19. Mai nicht schaffen werde.

Bei Sports.ru gbt es sogar eine umfangreiche Analyse all der Gründe, warum der neue Trainer scheitern muss, unter der Überschrift: „Niko Kovac wird neuer Bayern-Trainer – es scheint, als ob das nicht die beste Idee ist.“ Begründung hier: Kovac sei es gewohnt, seinen Kopf duchsetzen zu können – das werde ihm bei Hoeneß und Rumenigge nicht gelingen. Seine Lieblingsaufstellung bei der Eintracht lasse sich nicht auf die Bayern übertragen, und überhaupt habe Kovac den Job ja nur bekommen, weil Tuchel ihn nicht wollte.

⚽ Die tunesische Nationalmannschaft wird während der WM im Moskauer Vorort Seljatino untergebracht, gerade war der Moskauer Sportminister auf Inspektionstour dort. Ein Reporter von Championat.com ist mitgelaufen und berichtet: ein paar schiefe Kacheln und seltsam verlegte Rohre, Rasen im schlechten Zustand, an der Hotelrezeption gibt’s noch keine tunesische Fahne. Alles Sachen, die sich bis Turnierbeginn noch regeln lassen. Besonders hübsch fand ich die Bemerkung des Reporters, eine „Motivation nach deutscher Art“ sei für die Tunesier leider nicht möglich: Die örtliche Bierbar ist derzeit leider geschlossen.

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Zum Abschluss noch ein Text, der nichts mit Russland zu tun hat, dafür aber mit Fußball, mit Familie, mit einem Fan – und einem der noch sucht, ob es eine Mannschaft gibt, deren Fan er sein möchte. Auf die Gefahr hin, dass euch in den letzten Tagen auch andere Leute diesen Text nahegelegt haben – er verdient es auch, mehrfach empfohlen zu werden: „Papsi, ich bin doch gar kein Fan“. Bis nächste Woche!



 

Russball, Folge 45: Warum Deutschland eventuell nicht Weltmeister wird

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Zurück aus dem Urlaub, das heißt: Sie haben uns nach Usbekistan rein- und hinterher auch wieder rausgelassen. Und weil die letzte Russball-Folge ja eine hintergründige war mit Reisetipps für die WM-Städte, konnte ich für diese hier aus dem Vollen schöpfen: Material aus zwei Wochen, eingedampft und ausformuliert zu diesem formschönen Newsletter. Los geht’s.

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⚽ Die Sache mit dem dressierten Bären, der bei einem Fußballspiel als Unterhaltungsprogramm herhalten musste, habt ihr sicher mitbekommen. Das hat ja große Wellen geschlagen, und zu Recht: Nein, das ist nicht lustig. Ja, das ist Tierquälerei. Nur, dass das geklärt ist.

Was ihr vielleicht nicht mitbekommen habt, ist ein anderer Vorfall, auch der mit einem Tier. Ein Fan von Lutsch-Energija Wladiwostok hat einen Hahn mit zum Spiel gebracht und versucht, ihn auf Trainer Alexander Grigrojan zu werfen (der Hahn drehte in der Luft ab in eine andere Richtung). Dass das wohl keine Geste des Wohlwollens und der Unterstützung war, ist auf den ersten Blick klar. Wie perfide die Aktion wirklich war, versteht man allerdings erst, wenn man weiß, dass „petuch“, das russische Wort für Hahn, hier auch ein Schimpfwort für „schwul“ ist. Ein homophober Angriff auf Grigorjan also, zusätzlich zur Tierquälerei. Dazu passen Meldungen wie diese in der New York Times, wonach das schwulenfeindliche Klima in Russland einige Fans davon abhält, zur WM zu reisen. (Kurz nach dem Vorfall hat sich der Club übrigens vom Trainer getrennt.)

⚽ Wenn das mal keine Entscheidung aus der Reihe „Was habt ihr euch denn dabei gedacht?“ wird: Bei WM-Spielen in Rostow am Don sollen rund 200 Kosaken als Sicherheitskräfte eingesetzt werden, 30 von ihnen zu Pferd. Das mag für deutsche Ohren jetzt vielleicht ganz nostalgisch nach Chorgesang oder nach „Moskau“ von Dschinghis Khan klingen – „Kosaken hey, hey, hey hebt die Gläser!“ Tatsächlich aber stehen die Kosaken im heutigen Russland für etwas anderes, die Nachrichtenagentur AP bringt es auf den Punkt: „Kosaken, eine paramilitärische Gruppe mit Wurzeln in der Zarenzeit (…). Ihnen wurde oft vorgeworfen, ihre Zuständigkeiten zu überschreiten und während ihrer Arbeit Gewalt einzusetzen.“

Vielleicht erinnert sich der ein oder andere noch an den Vorfall bei den Olympischen Spielen in Sotschi, als eine Gruppe Kosaken-Wachleute die Peitschen, die zur traditionellen Kosakentracht gehören, nutzten, um auf Mitglieder von Pussy Riot einzuprügeln. In Rostow sollen die Kosaken nach offiziellen Angaben nun also sowohl für Sicherheit sorgen als auch das „Kosakentum als Visitenkarte der Region“ präsentieren – „schließlich sind sie eines der Symbole der Don-Region mit dem höchsten Wiedererkennunsgwert.“ Bleibt die Frage, ob man bei der WM auch ihr Verhalten gegenüber friedlichem Protest in Sotschi wiedererkennen wird nach dem Prinzip: Kosaken, hey, hey, hey, hebt die Peitsche.

⚽ Zufällig bin ich dann noch auf einen Link gestoßen, der die beiden vorherigen Themen verbindet. Es geht um eine Meinungsumfrage, die schon ein paar Monate alt ist, sie wurde im vergangenen Dezember veröffentlicht. Und ja, man muss sie sicher mit einem Körnchen Salz nehmen, denn die Zahl der Befragten (2500) klingt erst mal groß, aber verteilt auf elf Gastgeberstädte sind es dann eben doch nur noch rund 230 pro Stadt. Doch die grundsätzliche Tendenz ist schon erwähnenswert: Mit welchem Gefühl sie ausländischen Fußballfans gegenüberstehen, die LGBT sind, wurden also 2500 Russen gefragt. Der Mehrheit war das ziemlich egal, 13 Prozent antworteten allerdings mit „verärgert“ und weitere 11 mit „reserviert“.

Wenn man die Zahlen ein bisschen weiter aufdröselt, kommt man zu zwei Ergebnissen. Wer beim WM-Besuch homophoben Menschen ausweichen will, der sollte sich erstens tendenziell von älteren Männern fernhalten – sie gaben überdurchschnittlich oft „verärgert“ an. Zweitens ist man geografisch am besten in Sotschi und Kasan – beides Vorrundenspielorte der deutschen Nationalelf – aufgehoben. Am deutlichsten gegen schwule und lesbische Fans eingestellt sind die Menschen in Wolgograd und Rostow am Don, beides Städte mit starkem Kosakenerbe und allem, was da an traditionellen, nationalistischen Wertvorstellungen dranhängt.

⚽ Was hat Arsène Wengers Abschied von Arsenal in einem Newsletter zu Fußball und Russland zu suchen? Die Antwort gibt Sport.ru mit dem lustigsten, lässigsten Tweet, den ich zu Wengers Abgang gesehen habe:

„Wenger verlässt Arsenal – wie es aussieht, kann man selbst nach 22 Jahren an der Macht abtreten.“ Beiläufiger Sarkasmus ist halt immer noch der beste Sarkasmus.

⚽ Ihr müsst jetzt sehr stark sein: Es gibt eine kleine Chance, dass Deutschland dieses Jahr seinen Titel als Fußball-Weltmeister nicht verteidigen wird. Die Quelle für diese Nachricht ist nicht das Petersburger Katzenorakel, sondern Stanislaw Tschertschessow, Trainer der russischen Nationalelf. Der Mann spricht fließend Deutsch, kennt sich im internationalen Fußball gut aus und war neulich zu Gast bei einer deutsch-russischen Podiumsdiskussion rund um die WM. Mit auf der Bühne, auf den beiden Seiten des Coaches: der deutsche Ex-Nationalspieler Cacau und Erik Stoffelshaus, sportlicher Direktor von Lokomotive Moskau.

Zunächst sollte Tschertschessow verraten, welchen deutschen Spieler er gerne für die russische Nationalmannschaft borgen würde. Spielverderber-Antwort: „Die deutschen Spieler stehen für mich nicht zur Verfügung, also denke ich da auch nicht drüber nach. (…) Löw hat seine Fußballer und ich meine.“ Um eine Antwort auf die Frage, wer denn nun Weltmeister wird, drückte sich der Nationaltrainer dann komplett – allerdings auf eine Art, die durchblicken ließ: Deutschland jedenfalls nicht. „Dazu sage ich nichts, weil hier auf beiden Seiten von mir Deutsche sitzen.“ Autsch! (Eine Umfrage unter russischen Fußballfans hat übrigens ergeben, dass nur vier Prozent von ihnen damit rechnen, dass ihre Mannschaft Weltmeister wird.)

⚽ Dass einem zwei Monate vor der WM öfter mal Namen deutscher Fußballer in russischen Medien begegne, ist klar. Dass zu diesen Namen aber auch Julian Pollersbeck gehört, hat mich dann doch überrascht: Championat.com widmet dem Torwart des HSV eine große Analyse und beschreibt, wie sehr er auch außerhalb seines Torraumes aktiv ist – das zeigt auch eine beeindruckende Heatmap. „Sieht aus, als ginge es um zwei verschiedene Spieler“, kommentiert Championat das Bild, „aber nein: Er schafft es, die Aufgaben des Torwarts mit denen eines Verteidigers zu kombinieren.“

⚽ Ist die Wurzel allen Übels im russischen Fußball ein Mangel an bespielbaren Plätzen? Anton Michaschenok ist davon überzeugt. Der Sportjournalist hat vor kurzem selber einen Fußballverein gegründet, den FK Gorki, und berichtet nun aus dem Trainingsalltag: „In unserer Stadt mit 500.000 Einwohnern gibt es nur zwei Kunstrasenplätze, auf denen man derzeit trainieren kann,“ zwei weitere Plätze existierten, seien aber unbespielbar. So trainiert der FK Gorki derzeit eben dann, wenn einer der Plätze frei ist – abends um acht, bei schlechtem Licht, so dass man den Ball kaum sieht.

Ehe das jetzt nach dem Gemopper eines Einzelnen klingt: Michaschenok zählt viele solche Fälle auf – von Fußballern in anderen großen Städten, für die erst um neun oder zehn Uhr abends ein Trainingsplatz frei wird, oft bei noch schlechterer Beleuchtung. Von einem Platz, der gebaut werden sollte, aber das Geld kam aus drei verschiedenen Töpfen und einer davon war leer. Von einem Platz, der fertig ist, auf dem aber niemand spielt, weil die dazugehörige Schule noch nicht eröffnet wurde. Wie soll da Fußballnachwuchs heranwachsen, wenn er nirgends spielen kann? Fazit: „Um eine Fußballnation zu werden, müssen wir erst einmal lernen, wie man Fußballplätze baut und instand hält.“

⚽ Apropos Fußballplätze: Zum Schluss noch ein Blick auf drei WM-Stadien, bei allen gab es aktuelle Entwicklungen. Sowohl in Saransk als auch in Wolgograd haben die Eröffnungsspiele stattgefunden. Alles hat soweit gut geklappt, auch wenn mich die Bilder vom fertigen Wologograder Stadion immer noch daran erinnern, wie großzügig da jemand Ideen geklaut hat was das für eine architektonische Hommage ist an Pekings Olympiastadion, das Vogelnest. Nur mal so zum Vergleich das zweite Bild in diesem Tweet:

Und hier ein Foto aus Peking:

Den größten Fortschritt bei den WM-Vorbereitungen gab es allerdings weder in Wolgograd noch in Saransk, sondern in Samara. Wir erinnern uns: das ist das Stadion, das neulich Ärger mit der FIFA bekam wegen massiver Verzögerungen. Nicht mal ein Rasen lag da bisher, und genau das hat sich nun geändert: Habemus caespitem, wie der Lateiner sagt. Okay, das frisch ausgerollte Gras hat jetzt nur noch zwei Monate Zeit, um auch anständig anzuwachsen. Aber darüber reden wir dann, wenn in Samara das erste Spiel angepfiffen wird.

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Wir können uns nicht verabschieden, ohne noch kurz über Kasachstan zu reden. Ein Bild von dort macht hier in Russland seit ein paar Tagen die Runde: Im Achtelfinale des dortigen Pokals sollte ein Spieler des FK Maktaaral eingewechselt werden, musste vorher aber dringend noch mal schnell ums Eck, in diesem Fall wörtlich: Erst suchte er sich ein Pinkelplätzchen hinter der Ersatzbank, dann hinter einem Banner – alles nur, um Sekunden später mit dem Spieler, der für ihn vom Platz ging, abzuklatschen. Aber natürlich hat er zwischendurch sicherlich Sagrotan benutzt, das hat die Kamera nur nicht eingefangen. So möchte ich mir das jedenfalls vorstellen. Bis nächste Woche!



 

Russball, Folge 41: Ein russischer Blick auf die „sentimentalen Deutschen“

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Eine fleißige Woche war das. Mit Max vom Rasenfunk-Podcast habe ich angesichts der nahenden WM über Witali Mutko, Hooligans und Rassismus in Russland gesprochen, das Ergebnis könnt ihr hier hören. Außerdem habe ich dem Projekt „Handelsblatt macht Schule“ ein paar Fragen beantwortet, zum Beispiel: „Warum steht es um den russischen Fußball so schlecht, obwohl es Geld genug gibt?“

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⚽ Die Wahl in Russland ist vorbei, und mit ihr auch all die offiziellen Anstrengungen, die Wahlbeteiligung möglichst weit nach oben zu treiben, um dem alten, neuen Präsidenten seine Legitimation zu sichern. Auch Russlands Fußball-Nationalmannschaft trug ihren Teil bei mit einem „Wir fahren jetzt abstimmen“-Tweet, samt Foto. Die Twitter-Follower waren wenig beeindruckt, unter dem Tweet sammeln sich spöttische Kommentare. Einer der kürzesten ist auch gleichzeitig der lustigste, in seiner ganzen Süffisanz: „Hauptsache, ihr trefft die Urne.“

⚽ Direkt noch ein politisches Thema: Nach dem Giftanschlag auf den Spion Sergei Skripal hört man immer wieder Forderungen nach einem Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft. Eine ganze Reihe von Redaktionen hat dazu Kommentare veröffentlicht, zwei möchte ich hier verlinken: In der Welt argumentiert Ralf-Dieter Brunowsky, der Anschlag sei eine Attacke auf die gesamte Nato, „der Westen sollte auf eine robustere Widerstandslinie und härtere Sanktionen einschwenken.“ Solch einen Boykott, argumentiert er weiter, könnten die einzelnen Regierungen auch gegen den Willen der jeweiligen Fußballverbände beschließen.

Gesine Dornblüth hält im Deutschlandfunk dagegen und listet fünf Gründe auf, warum ein solcher Boykott unwirksam, unnötig oder sogar kontraproduktiv wäre. Besonders einleuchtend finde ich ihre Argumentation, wonach Putin ja gerade davon lebt, dass er sich als Verteidiger eines Landes inszenieren kann, dass das Opfer ungerechtfertigter Aggressionen und Schuldzuweisungen aus anderen Ländern. Ein Boykott würde ihm da ein weiteres Argument liefern. Ihre Zusammenfassung daher: „Für einen Boykott der Fußball-WM gibt es gute Argumente; die besseren sprechen dagegen.“

⚽ Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß: Nun fällt schon der dritte russische Nationalspieler bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land aus, und in allen drei Fällen ist eine Knieverletzung schuld. Im Januar war es Georgi Dschikija, im Februar Wiktor Wassin und nun, im März, Alexander Kokorin. Alle drei werden sie wegen eines Kreuzbandrisses nicht bei der WM antreten können.

Vor allem bei Stürmer Kokorin gibt es nun allerlei Spekulationen, wer ihn beim Turnier ersetzen könnte. Wie sieht eine russische Aufstellung aus ohne ihn im Angriff? Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow lässt beiläufig fallen, dass Denis Tscheryschew ja ein ganz ähnlicher Spielertyp sei wie Kokorin. Der langjähriger Trainer Anatoli Byschowez verweist auf Fjodor Smolow und Anton Sabolotni, und dann sind da ja auch noch die Mirantschuk-Brüder. Hauptsache, von all denen verletzt sich jetzt keiner mehr.

⚽ Kurz vor der WM wird der deutsche Astronaut Alexander Gerst zur ISS fliegen, um deren neuer Kommandant zu werden. Im Moment macht er sich gerade Gedanken darüber, was alles in sein Gepäck soll – und hat da mal eine Frage an den DFB:

⚽ Die Zeitung „Moskowski Komsomolez“ möchte ihren Lesern erklären, „Warum sie in Deutschland RB Leipzig hassen“. Von Plastikvereinen ist da die Rede, von Leverkusen und Wolfsburg, die als Werkselfs ebenfalls unpopulär sind, aber dann doch nicht so verhasst wie Leipzig. Es gibt einen Einblick in Besitzstrukturen deutscher Bundesligavereine und eine beiläufige Erwähnung der Fan-Szene von St. Pauli als „Ableger der Reeperbahn“. Ein guter Überblick, aber am besten gefallen hat mir das Fazit der Analyse: „Bei allen Stereotypen über ihre trockene, pragmatische Art sind die Deutschen eigentlich sehr sentimental.“

⚽ Das Leben genießen in vollen Zügen: Mit der Fan-ID kann man ja während der WM im Sommer kostenlos mit dem Zug von einem WM-Austragungsort zum anderen fahren. Klingt so, als würde das ziemlich voll da im Abteil: Bisher haben schon mehr als 100.000 Fans solche Gratis-Tickets gebucht, besonders populär sind sie bei WM-Reisenden aus Kolumbien, China und den USA.

⚽ Ohne Abkürzungen wäre das Leben in Russland sehr viel langsamer. Man müsste zum Beispiel jedes Mal „Federalnaja sluschba po nadsoru w sferje swjasi, informationnich technologii i massowich kommunikazii“ sagen statt einfach „Roskomnadsor“. Diese russische Medienaufsicht hat nun bekanntgegeben, dass sie auf 858 Internetseiten gefälschte WM-Tickets entdeckt hat. 822 Seiten haben diese Angebote auf Anweisung von Roskomnadsor gelöscht, 8 Seiten weigerten sich und wurden blockiert, bei 28 steht ihre Reaktion noch aus.

⚽  Und noch eine Zahlenmeldung: 20 Prozent aller Isländer haben sich auf WM-Tickets beworben. 20 Prozent! Das ist, auf Deutschland übertragen, als wollten ganz Hessen und ganz Baden-Württemberg geschlossen zur WM fahren. Das große Fußball-Interesse ihrer Landsleute feiern zwei Journalisten der Reykjavik Grapevine mit einem Artikel, den ich mir nur so erklären kann, dass er unter Schlafentzug, viel Alkohol und permanentem Anhören von Björks „Utopia“ zustande gekommen ist: „Smite The Kremlin: 20% Of All Icelanders Form A Russia-Sacking Football Horde“.

⚽ Mit Interesse verfolgt habe ich in den letzten Tagen die Debatte rund um die „Datei Gewalttäter Sport“. Rund 10.000 Namen stehen dort drauf, umgangssprachlich ist oft von einer „Hooliganliste“ die Rede. Nun ist nicht nur die Liste an sich problematisch, im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft bekommt sie eine zusätzliche Brisanz.

Denn die Bundesregierung tauscht die Daten auf der Liste mit den russischen Behörden aus, also mit offiziellen Einrichtungen eines autoritär regierten Staates, der Bürgerrechte und Datenschutz nicht allzu wichtig nimmt. (Von den Menschen, die auf der russischen „Hooligan-Liste“ stehen, kann zum Beispiel jedermann Name, Geburtstagdatum und andere persönliche Daten online einsehen.) Kritiker sehen im Verhalten der Bundesregierung eine „rechtswidrige Datenweitergabe an ein autoritäres Regime“, die Bundesregierung argumentiert, Russland müsse als Mitglied des Europarates grundlegende Datenschutzregeln einhalten, in Einzelfällen sei die Weitergabe von Personendaten also in Ordnung.

⚽ „Don’t quit your day job“ sagt man auf Englisch, wenn sich jemand an etwas versucht und richtig schlecht darin ist – ein Gegenstück zu der Redensart mit dem Schuster und seinen Leisten. Gianni Infantino ist so ein Kandidat, dem das auch mal jemand sagen müsste: Der Wechsel ins Comedy-Fach ist derzeit keine Option.

Infantino nämlich hat bei einer Pressekonferenz betont, dass alle Dopingproben des russischen Nationalmannschaft bei den letzten drei internationalen Turnieren negativ waren. „Würden die Spieler dopen, dann wäre ihre Leistung vielleicht besser“, kommentierte er die Ergebnisse im Labor und auf dem Platz. Ha. Haha. Hahaha. Ha.

⚽ Zum Schluss noch eine Meldung, die im Baltikum spielt, aber dennoch hierher gehört. Im Moment gibt es jeden Tag zwei Züge zwischen Kaliningrad und dem Rest von Russland; die Strecke führt quer durch Litauen. Dieses ganze Konstrukt rund um Kaliningrad ist ohnehin schon faszinierend – eine Exklave, umringt von EU-Ländern und doch zutiefst russisch. Eine Stadt, in der deutsche, russische und europäische Geschichte in jedem Haus, in jedem Straßennamen stecken.

Kaliningrad gehört zu den Gastgeberstädten der Fußball-WM, unter anderem hat England eines seiner Spiele dort. Damit Fans gut von Kaliningrad nach Restrussland kommen und zurück, haben sich die Regierungen in Vilnius und in Moskau nun geeinigt: Während der WM wird es täglich sechs Züge geben statt zwei. Einziger Haken: In Kaliningrad spielen auch Marokko und Nigeria – und deren Fans dürfen die Züge nur benutzen, wenn sie für den Transit durch Litauen ein Schengenvisum haben.

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Nächste Woche müsst ihr übrigens ohne Russball-Folge auskommen, weil ich mich in Schottland rumtreibe. Alle Tipps, was man in Edinburgh anstellen sollte, wenn man schon ein paar Jahre nicht mehr da war, gerne an mich. Danke, macht’s gut und bis in zwei Wochen!

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Russball, Folge 40: Zenits Trainer pöbelt bei Instagram zurück

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Diese Russball-Folge entsteht, während im Browser-Tab nebenan ein Wartebalken von links nach rechts kriecht. Die letzte Phase des Kartenverkaufs für die Fußball-Weltmeisterschaft hat begonnen, diesmal nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, kauft zuerst“. Spätestens jetzt muss es also klappen – kann doch nicht sein, dass in meiner Stadt WM ist und ich geh nicht hin! Also, falls ihr in diesem Text Tippfehler, unnötige Wiederholugnen oder Tippfehler findet, dann seht es mir nach. Ich bin ein bisschen abgelenkt.

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⚽ Letzte Woche Spekulation, diese Woche Tatsache: Leonid Sluzky wird neuer Trainer bei Vitesse Arnheim. So ein russischer Trainer im europäischen Ausland ist durchaus eine Rarität – um so bemerkenswerter also, dass Sluzky nach Hull nun schon seine zweite solche Station in kurzer Zeit antritt. (Und wie hübsch: Auf Niederländisch schreiben ihn einige Medien dort ‚Sloetski‘.)

⚽ Zenit St. Petersburg steht auf Tabellenplatz 5, das sah schon mal deutlich besser aus. Auch beim Spiel gegen Leipzig neulich kam Zenit nicht wie ein allzu bedrohlicher Gegner rüber, am Ende gewann Leipzig 2:1. Entsprechend sauer sind die Fans derzeit, vor allem Trainer Roberto Mancini steht in der Kritik: „@mrmancini10 Va fa’n’culo!“, schrieb ein wütender Zenit-Fan unter sein Instagram-Foto, was nichts anderes als „Fick dich“ bedeutet.

Nun ist @mrmancini10 der Instagram-Name von Roberto Mancini. Aber der Trainer ist ja Profi, auch im Umgang mit der Öffentlichkeit. Was wird er also tun? Den Post ignorieren? Zur Sachlichkeit aufrufen? Äh, nein. Der Trainer reagierte auf die Pöbelei unter dem Foto höchstselbst, und im selben Ton: „Tu e tua sorella“, antwortete er dem Fan, „Dich und deine Schwester.“ Nun ja.

kscheib zenit mancini instagram

⚽ Russlands Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow hat sich im brasilianischen Fernsehen zu den Themen Rassismus und Hooligans in Russland geäußert. Leider bewegt sich seine Äußerung auf dem Niveau von Franz „Ich hab noch nicht einen einz’gen Sklaven in Katar g’sehn“ Beckenbauer: Das mit dem Rassismus ist gar nicht so schlimm, und das mit den Hooligans ebenfalls alles halb so wild. (Warum ich das anders sehe, steht hier.)

⚽ So, das muss aber jetzt erst mal reichen an Trainer-Geschichten. Reden wir vom Titan: Die Iswestija hat Oliver Kahn ein paar Fragen gestellt, zum Einstieg geht es um Russlands Rolle als WM-Gastgeberland, die Antworten sind alle freundlich-unverbindlich. Interessanter fand ich, was Kahn zum russischen Fußball zu sagen hat, genau genommen zu Igor Akinfejew.

kscheib russball oliver kahn

Der Mann ist, was Kahn auch mal war: Torwart und Kapitän der Nationalmannschaft. Kahn hält, das kommt bei dem Interview gut raus, große Stücke auf Akinfejew und ist selbst verwundert, dass dem der internationale Durchbruch noch nicht gelungen ist. Von einem Torwart zum anderen rät er ihm darum, sein Glück außerhalb des russischen Vereinsfußballs zu suchen: „Er muss sich die Frage stellen, wie weit er im russischen Fußball sein Potenzial realisieren kann. Um sich völlig zu entwickeln, muss er raus aus seiner Komfortzone.“

⚽ Twitter und FOX haben sich zur gemeinsamen WM-Berichterstattung zusammengetan, täglich soll es bei Twitter eine halbstündige Livesendung mit Highlights des Turniers geben. Gedacht ist das Angebot allerdings für Zuschauer in den USA – Twitter-Nutzer in Europa brauchen also vermutlich ein VPN, um mitgucken zu können. Das Studio zur Sendung soll übrigens mitten auf dem Roten Platz stehen – mal sehen, ob das bei den Moskauern auf ähnlich viel Gegenliebe stößt wie vor ein paar Jahren der Louis-Vuitton-Koffer.

⚽ Schlimm: Dass immer noch Leute Überschriften nach dem Prinzip „From Russia with XY“ (oder auf deutsch „XY-Grüße aus Moskau“) machen. Dann doch bitte besser so schmerzhaft kalauernd, aber immerhin originell, wie hier. (Ja, ich musste mir das auch laut vorlesen. Wenn das nicht reicht, hilft dieser Clip euch vielleicht auf die Sprünge.)

⚽ Das „Mannschaft Magazin“ kannte ich bisher nicht, begegnet ist es mir nun durch einen langen Artikel über die Situation schwuler Fußballfans in Russland, der im Gegensatz zu vielen anderen über die bloße Bestandsaufnahme hinausgeht. In der interessantesten Passage des Textes kommt Ale­xander Agapow zu Wort, der Präsident des russischen LGBT-Sportverbandes.

Er berichtet aus der Praxis, wie schwierig es ist, Mitstreiter im Kampf gegen Homophobie zu finden, und wie schwer sich schwule und lesbische Sportfans mobilisieren lassen: „Sie akzeptieren ihre Situation und glauben, sie seien machtlos. Sie sehen nicht, dass ihre Teilnahme etwas bewirken könnte,“ kritisiert Agapow.

⚽ Zwei prominente russische Fußballer haben auf ihren Social-Media-Accounts dazu aufgerufen, am kommenden Wochenende wählen zu gehen – klingt erst mal nicht besonders interessant. Doch Sports.ru hat da etwas beobachtet: Es sind schon ziemlich auffällig ähnliche Bilder, die die beiden Nationalspieler Artjom Rebrow und Alexander Kokorin da gepostet haben, beide mit denselben Hashtags, beide mit abgeschalteter Kommentarfunktion.

Neben den beiden Nationalspielern haben auch andere Promis solche Motive veröffentlicht. Und das, wo jedem klar ist, dass Wladimir Putin die Präsidentschaftswahl ohnehin gewinnen wird – womit die Wahlbeteiligung der eigentliche Gradmesser für seinen Rückhalt in der Bevölkerung ist.

Haben sich die beiden also anwerben lassen für eine Promokampagne, die Putin die erhoffte hohe Wahlbeteiligung bescheren soll? (Schließlich machen die Behörden hier gerade jede Menge Wellen, um Wähler anzulocken – man kann sogar ein Auto gewinnen.) Kokorin hat auf Anrufe von Sports.ru nicht reagiert, und das kurze Interview mit Rebrow ist in all seiner Schlichtheit ziemlich deutlich:

– Ach, lassen Sie uns darüber nicht diskutieren. Das ist doch ein politischer Moment. Kein Kommentar.

– Haben Sie selbst entschieden, das zu posten, oder hat Sie jemand darum gebeten?

– Ich sagte doch: Da reden wir nicht drüber. Das ist doch nicht die Frage. Mit Sport hat das nichts zu tun, stimmt’s? Und über Politik diskutiere ich nicht.

– Aber Sie sind Sportler.

– Aber über Politik rede ich nicht. Zum Thema Sport beantworte ich alle Fragen.

– Sie wollen also überhaupt nichts dazu sagen? Kokorin hat heute einen ähnlichen Post veröffentlicht.

– Genau, da will ich gar nichts zu sagen.

Was Sports.ru noch über die mögliche Kampagne herausgefunden hat, steht hier.

⚽ Schon seit einigen Wochen protestieren Studierende an Moskaus wichtigster Uni gegen Pläne der FIFA, bei ihnen rund ums Gebäude eine Fan-Zone einzurichten. Die Studentinnen und Studenten der Lomonossow-Universität haben Angst, das 40.000 feiernde Fußballfans den Unibetrieb durcheinanderbringen können – das sorgt nicht nur diejenigen, bei denen im Sommer Prüfungen anstehen.

Nachdem von der FIFA niemand auf die Proteste reagiert hat, hoffen sie nun auf Unterstützung von Wissenschaftlern und Studenten aus aller Welt, um endlich Gehör zu finden. Warum sich die FIFA nicht bewegt, dazu haben sie jedenfalls eine simple These: “Vielleicht ignoriert sie das Problem aufgrund ihrer Sponsoren, die ja gute Bilder für ihre Fernsehberichterstattung brauchen.“ Das Unigebäude ist ein Prunkstück der Moskauer Architektur, eignet sich also in der Tat gut als TV-tauglicher Hintergrund für Bilder feiernder Menschen.

⚽ Der Fall Sergei Skripal geht in die zweite Woche, und nein, ich hätte nicht gedacht, dass sich da ein fußballerischer Aspekt dran finden lässt. Aber das Team der BBC-Nachrichtensatireshow „Have I got News For You“ hat sich Mühe gegeben und dann doch einen entdeckt: „England stellt neues Auswärtstrikot für WM in Russland vor“.

⚽ So sehr es sich manchmal anfühlt, als laufe im Fußball im Moment alles nur auf die Weltmeisterschaft hin: Es gibt ein Leben nach der WM, sogar ein fußballerisches. Ja, stimmt, erst mal reist die deutsche Nationalmannschaft im Sommer nach Russland, aus bekannten Gründen. Aber Mitte November gibt es dann einen Gegenbesuch: Russland schickt seine Elf zum Länderspiel nach Deutschland, genau genommen nach Leipzig. Könnt ihr euch ja schon mal in den Kalender eintragen.

⚽ Und dann noch eine Kleinigkeit, die nur indirekt mit Fußball zu tun hat: Seit kurzem bin ich Besitzerin eines Stapels alter Fußballbücher. Design aus der Sowjetzeit, seien es Werbeplakate, Alltagsgegenstände oder Schnittmuster, ist ein Faible von mir.
In dem Bücherstapel ist auch sicher einiges an künftigem Blogmaterial enthalten, aber im Moment bin ich noch perplex und begeistert von drei Fundstücken, die zwischen den Seiten lagen: Olympia-Andenken aus dem Jahr 1980.

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So. Russball ist fertig, bloß der doofe Wartebalken hat es noch nicht mal bis zur Hälfte des Bildschirms geschafft. Vier Stunden lang regelmäßiges Gucken auf diese Info, einschließlich Tippfehler.

kscheib fifa wartebildschirm

Vier Stunden das Gefühl, dass „more than an hour“ mindestens Schönfärberei ist, vielleicht auch einfach Spott. Mal sehen, ob sich in den nächsten vier Stunden was tut, aber so lange müsst ihr ja nicht warten – wir sprechen uns in einer Woche wieder. Bis dann!