Garry Kasparov bei der #rp17: Links zum Weiterlesen

Garry Kasparov bei der re:publica, das ist nur eine von vielen Sessions, bei der ich dieses Jahr gerne gewesen wäre. Aber in Kiew ist Eurovision und man kann nur eines haben. Stattdessen habe ich also, nach mehrfachen „Interessiert dich bestimmt“-Hinweisen von Freunden, den Kasparov-Auftritt bei YouTube geguckt (ab 7:19) , mehrfach genickt, ein paar mal gegrinst, und vor allem gedacht: Das reicht noch nicht.

Foto: re:publica/Jan Zappner
Foto: re:publica/Jan Zappner

Zu wenig Zeit war das, um in die Tiefe zu gehen – auch, weil er sich die Session mit Claudio Guarnieri von Amnesty International teilte, was nur so halbgut zusammen passte. Andererseits: Wie schön eigentlich, wenn eine Session endet und man sich wünscht, sie wäre noch nicht vorbei. Für alle, denen das auch so ging, habe ich einige Kasparov-Zitate ausgesucht und zu ihnen Links zum Weiterlesen zusammengestellt.

Darüber, warum mit der Verbreitung des Internets nicht auch automatisch die Meinungsfreiheit wächst:

„Many of these devices allow governments to go after people, to find those who are spreading dissenting views, and eventually to prosecute them.“

„Devices“ ist ein bisschen umständlich formuliert, konkret sieht man diesen Mechanismus in Russland in den sozialen Netzwerken. Alexander Biwschew hat das am eigenen Leib erlebt – er ist Lehrer und Dichter und wurde zu 300 Stunden Arbeit verurteilt, weil er online ein Gedicht veröffentlichte, in dem er Russlands Annektion der Krim kritisierte. Andere Fälle, in denen ihr Verhalten in sozialen Netzwerken Russen vor Gericht brachte, dokumentiert die Serie „Jailed For A Like“. Und Pavel Durov, der Gründer von VKontakte, hat das Land verlassen, der eigenen Sicherheit zuliebe. 2011 hatte er sich geweigert, die VK-Seiten von Oppositionellen zu sperren. Danach war er zunehmend ins Visier der Behörden geraten.

Darüber, welche Unternehmen sich den Internet-Regelungen autoritärer Staaten beugen:

„…the double standards in the behaviour of big corporations, that are expressing their concerns about individual privacy in the free world, but at the same time are ready to comply with draconian regulations in countries like Russia, China or elsewhere, by protecting their business and endangering, at the same time, the lives, real lives, of people who are relying on these technologies to spread their message.“

Russland versucht seit einiger Zeit, durchzusetzen, dass große Internetunternehmen die Daten ihrer Nutzer auf russischen Servern speichern. Eine Petition dagegen hat knapp 45.000 Stimmen bekommen, vor allem wegen Sorgen, dass die russische Obrigkeit dann frei auf die Daten (kritischer) Nutzer zugreifen kann. (Vielleicht sind die Behörden es leid, vergeblich bei Twitter anzufragen, wenn sie solche Nutzerdaten bekommen wollen.)

Von Facebook konnte man lesen, dass es sich diesem Anliegen verweigert hat – trotzdem ist es bis heute in Russland erreichbar. LinkedIn hingegen ist in Russland geblockt, seit es den Server-Umzug verweigerte. Google wiederum hat tatsächlich einige seiner Server nach Russland umgezogen, Apple hat ähnlich reagiert, Twitter prüft das offenbar gerade.

Über die Prioritäten im russischen Staatshaushalt.

„Putin is making cuts on social security, on housing, on education, on everything except military, security and propaganda. That’s a war budget.“

Russland spart zwar inzwischen selbst am Rüstungsbudget, es ist aber immer noch einer der großen Batzen im Etat. Die Washington Post rechnet vor: 30 Prozent des Staatshaushalts gehen an Militär und Geheimdienste, für die Gesundheitsversorgung sind nicht einmal 3 Prozent eingeplant.

Vor einem knappen Jahr blamierte sich Dimitri Medwedjew beim Versuch, einer alten Frau zu erklären, warum es bei den Renten nicht mal einen Inflationsausgleich gibt. Besonders sichtbar wird das Sparen auch bei Medikamenten für HIV-positive Patienten. Bei der Palliativmedizin ist die Situation in Russland so katastrophal, dass sich immer wieder Schwerkranke das Leben nehmen.

Über Pro-Putin-Trolle:

„…look at the ratio of investment and return: It’s much cheaper than buying tv ads, and what’s also important is a huge amount of deniability. So you do these things, but technically, you can always deny: This is not us.“

Wer sich dafür interessiert, was ein Troll so kostet: Ljudmilla Sawtschuk hat das publik gemacht. Sie hat knapp zwei Monate in einer „Troll-Fabrik“ in St. Petersburg gearbeitet, für ein Monatsgehalt zwischen 40.000 und 50.000 Rubel. Im Gespräch mit Spiegel Online hat sie berichtet, dass es noch weitere Troll-Fabriken gebe, dort würden auch Pro-Putin-Kommentare auf Deutsch verfasst.

Journalisten, die über diese Trolle berichten, riskieren, selber zum Ziel zu werden, wie Jessikka Aro erlebt hat. Und, auch wichtig: Nicht jeder, der Kommentarbereiche mit Pro-Putin-Beiträgen zuspammt, wird dafür auch aus dem russischen Machtapparat heraus bezahlt.

Gedenkmarsch für Boris Nemzow

Nemzow Gedenkmarsch

Zwei Jahre ist es heute her, dass Boris Nemzow erschossen wurde. „Auf offener Straße“ wollte ich erst schreiben, aber das wird dem Ort nicht gerecht. Nicht nur auf einer Brücke im Zentrum von Moskau, sondern sogar in unmittelbarer Nähe des Kreml – so nah, dass die Sicherheitskameras eigentlich den Mord genau im Visier gehabt hätten. Eigentlich.

Erschossen auf offenster Straße also, in der Nacht von Freitag auf Samstag. Ich erinnere mich an den Samstagmorgen vor zwei Jahren: Die Redaktion der Moscow Times ist zu klein, als dass es feste Wochenenddienste gäbe; es war also reiner Zufall, wer aus dem Team wann von Nemzows Tod erfuhr und sich des Themas annahm. Ich weiß noch, dass manche von uns unmittelbar vom Bett ans Laptop gegangen waren, als sie beim ersten Nachrichten-Quergucken auf dem Handy von Nemzows Tod erfahren hatten. Und dass irgendwann nachmittags, als die ersten Berichte veröffentlicht waren, eine Kollegin schrieb: „So, ich brauche jetzt mal ne Viertelstunde Pause zum Duschen – sitze hier noch im Schlafanzug.“ Sie war nicht allein.

Vor allem aber sind mir von diesem Tag die Trolle in Erinnerung geblieben. Dieser große Guardian-Bericht über die Petersburger „Troll-Fabrik“ war da zwar noch nicht veröffentlicht, aber die entsprechenden Facebook-Kommentare gehörten schon damals zum Alltag.

Ostukraine, Krim, Sanktionen und Flug MH17 – schon vor dem Nemzow-Mord hatte ich oft mit ihnen zu tun: den Kommentatoren mit ausgeprägt kremlfreundlicher Meinung, aber ohne Facebook-Freunde. Mit vier, fünf Kommentaren am Tag, aber seit Monaten ohne Updates auf der eigenen Facebookseite. Mit betont englischen Namen, aber strotzend von Fehlern in ihren Updates, die erklärten, dass „here in the US“ alles noch viel schlimmer sei. Am Tag nach dem Nemzow-Mord ware es oft sogar derselbe Wortlaut, in dem da immer wieder argumentiert wurde: Was soll denn Putin damit zu tun haben? Das bringt ihm doch gar nichts, Nemzow war keine ernsthafte Konkurrenz.

Ein Tag, an dem Geschwindigkeit und Masse den Troll-Teamleitern offenbar wichtiger waren als Unauffälligkeit. Vermutlich saßen sie genau so ungeduscht und zerknittert vor ihren Rechnern wie wir. (Wie einer der Petersburger Trolle diesen Tag erlebt hat, kann man hier beim Telegraph nachlesen.)

Gestern, am Sonntag, musste ich wieder an die fleißigen Trolle denken. Vom Nemzow-Trauermarsch haben viele Leute getwittert, und unter den Reaktionen waren sie dann wieder, die Kommentare mit den homogenen Argumentationsmustern: Das war doch alles vom Ausland aus gelenkt. Und überhaupt, das waren doch nur ganz wenige Leute.

Nun ja.

Coda

Coda story logo

Neuer Monat, neuer Job: Als ich vor zwei Wochen hier die Bilanz von drei Jahren bei der Moscow Times zog, hatte ich ja schon angekündigt, dass sich etwas Neues anbahnt. Nun ist es endlich auch spruchreif: Ab sofort kümmere ich mich um Social Media bei Coda – einem journalistischen Nonprofit, das sich auf hintergründigen Journalismus konzentriert, oft mit einem Blick auf die Staaten der früheren Sowjetunion.

Ziemlich genau ein Jahr ist es her, dass mir Coda zum ersten Mal aufgefallen ist. Damals war das Projekt noch ganz neu und veröffentlichte gerade die Video-Dokureihe „Transmoskva“ von Pascal Dumont. Als ersten Schwerpunkt hatte sich Coda da gerade das Thema #LGBTQCrisis rausgesucht. Seitdem sind zwei weitere Komplexe hinzugekommen – #DisinformationCrisis und #MigrationCrisis. Drei Themen, die in diesen Tagen gar nicht genug Aufmerksamkeit bekommen können – darum arbeitet Coda unter anderen mit dem Guardian, Eurasianet und Magnum Photos zusammen.

Wer wissen will, aus welchen Mythen sich Schwulenhass in Russland speist, was virale Videos mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben oder wer geflohenen Schwangeren hilft, mit der deutschen Bürokratie zurecht zu kommen, der kann das bei Coda nachlesen. Bei anderen Themen ist auch Angucken eine Option, Coda arbeitet viel mit Video und Animation.

Neue Kollegen also, in New York, in Tiflis und in Berlin. Neue Themen – allein das Einlesen in den letzten Tagen, von Armenien bis Tadschikistan, war schon faszinierend. Neue Aufgaben zum Einarbeiten: Social Media für Videos, was muss ich da noch mal wissen? Was geben wir als Redaktion uns für Regeln für Live-Tweets? Und was mache ich wohl beim Moderieren von Facebook-Kommentaren, wenn die plötzlich auf Georgisch sind?

So viel Neues, aber auch ein paar Konstanten: Weiterhin Social Media, weiterhin auf Englisch, weiterhin mit Blick auf Russland und die Region – über all das bin ich froh. Wer sich für die Arbeit von Coda interessiert, findet mehr bei der taz oder beim NiemanLab – und natürlich bei Facebook, Twitter, Instagram und was immer wir uns sonst noch so an Plattformen aussuchen.

Drei Jahre Moscow Times – sowas wie ein Fazit

moscow-times-covers-2016

Dass es hier in den letzten Wochen ruhig war, lag daran, dass ich ein bisschen was sortieren musste – erst im Kopf, dann im echten Leben. Fünf Jahre Moskau heißt der Plan, die bisherigen drei habe ich bei der Moscow Times gearbeitet. So einen Abschnitt beendet man nicht ohne Nachdenken. Aber irgendwo zwischen „gehen, wenn’s am schönsten ist“ und „gehen, solange es noch schön ist“ ist der Zeitpunkt jetzt dann doch gekommen: Ende Januar höre ich auf.

Als ich bei der Moscow Times anfing, hatte Russland gerade die Krim annektiert, Boris Nemtsow lebte noch und der Krieg in Syrien war, von Russland aus gesehen, ganz weit weg. Was habe ich seitdem nicht alles gelernt in dieser kleinen, durch und durch unwahrscheinlichen Redaktion. Allem voran, wie man (komplett ohne Budget) einen Social-Media-Auftritt aufbaut, der rund um die Welt und rund um die Uhr funktioniert. Welche Posts für die russischen, für die amerikanischen, für die indischen Leser? Welcher Dreh, welche Uhrzeit? Anfang 2014 hatte die MT keine 50.000 Facebook-Fans, nach einem Jahr waren es schon 500.000. Steiles Wachstum, hohe Motivation.

Überhaupt, die Reichweite, die man mit englischsprachigen Inhalten so erreicht. Das Interesse an Russland wächst und wächst; wer kein Russisch kann und nicht auf Staatsmedien angewiesen sein will, der liest nun einmal die Moscow Times. Solch eine internationale, politisch interessierte Leserschaft zu haben, das ist meistens faszinierend. Nur ganz gelegentlich lässt es einen in Sekundenbruchteilen erblassen. Wie an dem einen Morgen, als dem Artikel über eine Massenschlägerei in einem Krankenhaus versehentlich das „M“ am Anfang der Überschrift fehlte. Ach guck, wie nett, da twittert ein Leser, ob wir uns die Zeile mit dem „Ass Brawl“ nicht noch mal ansehen wollen. Ach guck, es ist der Präsident von Estland.

Ich habe gelernt, woran man Kreml-Trolle bei Facebook erkennt (und wie viel Arbeit es ist, das dann auch zu überprüfen und sie zu blocken). Ich habe von den Englisch-Muttersprachlern im Team so zauberhafte Wendungen gelernt wie „He’s as useful as a chocolate hairdryer“ und, in harten Zeiten, den extrem einleuchtenden Begriff des „seagull management“. Ich habe den Unterschied gelernt zwischen dem, was in der russischen Verfassung drinsteht, und dem, was sie im Alltag auch tatsächlich gewährleistet.

Ich habe gelernt, nicht öfter als dreimal pro Woche zu fragen, ob wir an dem Bild, das wir da gerade verwenden, denn wohl auch die Rechte haben. Ich habe so, so viel über die russische Sprache gelernt. Ich habe gelernt, dass der große Mailverteiler (alle Kollegen nicht nur bei der Moscow Times, sondern im ganzen Gebäude, mit Vedomosti, Cosmopolitan usw.) dazu da ist, darüber informiert zu werden, wenn es besonders günstigen Honig oder besonders günstigen Kaviar zu kaufen gibt („Hast du den Preis für Kaviar gesehen? Bei Reuters kriegen sie ihn deutlich billiger, hat X erzählt.“)

Ich habe gelernt, Rosselkhoznadzor, Roskomnadzor und Rostechnadzor auseinander zu halten. Ich habe gelernt, dass die Standard-Anrede im Newsroom „Dude“ ist und „Katrin“ von all den anderen Dudes konsequent auf der zweiten Silbe betont wird. Ich habe gelernt, wie wichtig in einem autoritären Staat mit permanentem Druck auf die wenigen unabhängigen Medien ein Chefredakteur mit Rückgrat ist – einer, der nicht sagt „das können wir nicht schreiben“, sondern nur: „Wenn du das nächste Mal sowas schreibst, sag mir vorher Bescheid, dann bin ich vorbereitet.“ Ich habe gelernt, dass man jedes Live-Blog eines Putin-Auftritts mit viel Luft planen muss. Beginn: definitiv verspätet. Ende: komplett unplanbar.

Die Moscow Times ist ein Durchlauferhitzer. Die Mehrheit meiner Kollegen ist deutlich jünger, für sie ist es einer der ersten Jobs nach der Uni, manchmal der erste überhaupt. Mit, zwei, drei Jahren MT im Lebenslauf stehen einem dann viele Türen offen: Neulich habe ich eine Twitterliste gebastelt mit Ex-MT-Leuten, und wenn man sieht, wo die inzwischen überall sind, von New York Times bis Buzz Feed, von AFP bis Washington Post, dann ist das schon ziemlich beeindruckend – und ich bin stolz, mich da einreihen zu dürfen.

Welches neue Medium in dieser Twitterliste bald hinter meinem Namen steht, muss sich finden. Ich habe nach drei Jahren mit drei Chefredakteuren erst mal nur ganz grundsätzlich beschlossen, dass es Zeit für etwas Neues ist. Neue Kollegen, so großartig die aktuellen auch sind. Neue Projekte, die aber hoffentlich weiterhin mit Journalismus und Russland zu tun haben. Ein bisschen weiß ich schon, in welche Richtung es gehen soll, anderes muss sich finden. Zwei Jahre in Moskau bleiben noch.

Die falsche Nadija Sawtschenko mit dem verifizierten Twitter-Account

Es gab eine Zeit, da landete man in Kiew am Flughafen und sah nach der Zollkontrolle als erstes eine Wand mit der Aufschrift #freesavchenko. Nadija Sawtschenko, die in einem paramilitärischen Bataillon kämpfte, war im Sommer 2014 von russsischen Truppen gefangengenommen worden. Es folgten monatelange Haft, eine Anklage wegen Mordes, ein Schuldspruch und immer wieder Hungerstreik.

22 Jahre sollte Sawtschenko in Haft bleiben, stattdessen wurde sie gegen zwei russische Soldaten ausgetauscht, die ihrerseits in der Ukraine festgenommen und zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren. Für Russland ist Sawtschenko eine verurteilte Mörderin, für die Ukraine eine Heldin, die nun an ihrer politischen Karriere feilt.

Eine Kriegsgeschichte, ernst bis düster. Insofern war es gelinde gesagt eine Überraschung, als deren Protagonistin sich gestern Abend bei Twitter zu Wort meldete. Eine Kollegin hatte mir handgeschnitzten russischen Christbaumschmuck geschenkt, ich hängte ihn an den Baum und twitterte ein Bild. Kurz darauf die Reaktion von Sawtschenko: Ganz offensichtlich gefiel ihr das weiße Häuschen mit dem blauen Dach – Herzchen-Augen-Emoji!

savchenko

„Seltsam“ war mein erster Gedanke, aber hey, der Account ist verifiziert, gehört laut Twitter also tatsächlich der Nadija Sawtschenko. Zweiter Gedanke also: „Oh Mann, die hat sich jemanden für Social Media geholt, der nicht viel Ahnung hat.“

Die Wahrheit ist, das haben die Kollegen von Meduza herausgefunden, wohl etwas komplizierter. Der Account wurde verifiziert, als er noch einer „Elena Subrakowa“ gehörte. Sie bekam das blaue Häkchen, mit dem Twitter inzwischen sehr viel freigiebiger ist als noch vor einem Jahr. Später wurde der Account dann umbenannt – fertig war die verifizierte Nadija Sawtschenko, ukrainische Volksheldin mit Faible für russische Weihnachtsdeko.

Die letzte fälschlich verifizierte Person, an die ich mich erinnere, war Wendi Deng, damals lag der Fehler klar bei Twitter. Diesmal wurde Twitter überlistet – und ist nun unter Zugzwang. Mal sehen, wie lange die falsche Sawtschenko noch online ist. Einstweilen jedenfalls twittert sie weiter, mit großer liebe für kleine Gesichter: Clown-Emoji, anyone?

(Danke an Julia Smirnova für den Meduza-Hinweis!)

Twitter, Facebook, Instagram – jeder nur einen Wunsch!

In einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, gab es halt auch noch kein Internet. Heute gibt es das Web, es gibt dort Tools ohne Ende, viele davon kostenlos – und es gibt Wünsche, die daraus entstehen. Klar, Dienste wie Google, Facebook oder YouTube sind deshalb kostenlos, weil sie aus uns Nutzern Geld machen können.

Niemand zwingt uns dazu, diese Dienste zu nutzen – außer deren Erfolg, der Sog der anderen Nutzer. Kann also sein, dass sich der kommende Post ein bisschen liest wie der Blick ins Maul eines geschenkten Gauls. Bei kostenlosen Angeboten auch noch Ansprüche entwickeln? Echt jetzt?

Ja, echt jetzt. Zumindest für diejenigen, mit denen man sich als Social-Media-Mensch jeden Tag auseinandersetzt, muss das jetzt mal sein. Ich fass mich auch kurz – nur ein Wunsch pro Tool.

Facebook

Facebook muss man nicht erklären, seine „Pages“-App aber vielleicht doch. Die ist so eine Art dienstlicher Facebook-Zugang für Leute, die dort Seiten verwalten. Der Arbeitgeber kann ein Fußballclub sein, ein Waschmittelhersteller, eine Partei oder ein Promi – oder eben, wie bei mir, ein Medienunternehmen. Uns alle verbindet, dass wir nicht nur jetzt gerade mal einen spontanen Post raushauen, sondern sie mit „Pages“ auch zur späteren Veröffentlichung planen. Bei der Moscow Times gilt das etwa für Artikel, die dann gepostet werden sollen, wenn ich schlafe – für die Leser in anderen Zeitzonen. Es gilt auch für Regularien wie unser tägliches Kalenderblatt, das Guten-Morgen-Foto oder das Literaturzitat.

Das Problem: Nutzt man Facebook im Browser, werden einem die vorgeplanten Beiträge schlicht chronologisch angezeigt – zuoberst der, der als nächster erscheint. Wer scrollt, kommt vom Freitag zum Samstag zum Sonntag, vom Juni zum Juli zum August. In der „Pages“-App dagegen sieht das so aus:

Facebook Pages App kscheib

Nach dem 17. August kommt also der 18. Juli, dann der 13., dann, oh, der 14, das ist ja sogar ausnahmsweise mal sinnvoll. Wo gucke ich, wenn ich heute, am 30. Juni, wissen will, ob ich schon ein Literaturzitat für den 1. Juli eingeplant habe? Ich hab spaßeshalber mal immer weiter nach unten gescrollt – und brauchte sechs komplette Bildschirmlängen bis der 1. Juli erschien. Zwischen dem 2. und dem 5. hatte er sich versteckt, der Schelm. Im Moment hoffe ich jedenfalls bei jedem neuen App-Update, dass Facebook diesen Bug endlich behebt.

Instagram

Wenn ihr glaubt, dass Instagram da, wo ihr euch gerade aufhaltet, eine große Nummer ist, dann empfehle ich eine Reise Richtung Osten. You ain’t seen big until you’ve seen Instagram-in-Russia big. Von den 500 Millionen Instagram-Nutzern leben gefühlte 480 Millionen in Russland, jede noch so kleine Kneipe hat hier ihren eigenen Account und fordert Dich auf, das Bier doch bitte dort mit entsprechendem Hashtag zu posten. Fällt mir eine russische Freundin ein, die nicht bei Instagram ist? Ja, aber erst nach langem Überlegen.

Für die Redaktionsarbeit macht das Instagram ideal, um den Alltag in Russland abzubilden. Den Sexismus und den Backlash dagegen. Die tagtäglichen Absurditäten. Die unersetzbare, wunderschöne, brechend volle Metro. Das alles wäre allerdings deutlich einfacher zu zeigen, wenn man nach mehr als immer nur einem einzelnen Hashtag suchen könnte.

#Moskau streut zu weit, #Metro auch, #Moskauermetro (in allen Fällen sind natürlich die russischen, kyrillisch geschriebenen Hashtags gemeint) benutzen lange nicht so viele Menschen. Bei Twitter kann man problemlos eine &-Suche machen, bei Instagram muss man sich mit Krücken wie Mixagram behelfen. Vielleicht könnte Instagram das ja einfach kaufen und integrieren?

Storify

Mit Storify kann man selbstgeschriebenen Text und Social-Media-Posts von verschiedenen Plattformen leichter zu einer Geschichte kombinieren, als das mit vielen Redaktionssystemen geht. Zuletzt haben wir es bei der MT zum Beispiel benutzt, als Russlands Premierminister mit einem ungeschickten Zitat zu Rentenerhöhungen für allerlei Memes sorgte.

Storify ist praktisch, intuitiv, sieht gut aus – und hängt sich bei einem von fünf Artikeln so katastrophal auf, dass man nicht einmal mehr speichern kann. Egal, ob in Russland oder in Deutschland, in der Redaktion oder vom Privatrechner, mit VPN oder ohne – die Verbindung wackelt. Die freundliche, aber hilflose Support-Truppe arbeitet nach US-Uhrzeiten, meldet sich also erst zurück, wenn das Problem längst auf die übliche Art gelöst ist: den Text rauskopieren, die Links zu allen Posts in separaten Tabs öffnen, ein neues Storify beginnen – und darin dann wieder von null anfangen mit dem Zusammenbauen.

Tweetdeck

Das Problem gibt es, so lange ich Tweetdeck benutze, vor über einem Jahr hab ich mir schon mal den Frust darüber vom Hals gebloggt. Geändert hat sich nichts: Wer hier einen Tweet mit Bild zur späteren Veröffentlichung plant und ihn später noch mal ändern will (einen Tippfehler weg, einen passenderen Hashtag hinzu), dem bleibt weiterhin nur: löschen und von vorne anfangen. Denn bearbeiten lassen sich nur Tweets ohne Bild.

Ein ergiebiger Bug, über den man sich jede Woche ärgern kann.

Twitter

Nicht alle Wünsche muss man detailliert erklären, der hier ist ganz einfach: Twitter, können wir uns einfach drauf einigen, dass ich keine falschen Hinweise auf neue Nutzer-Interaktionen mehr angezeigt bekomme? Ich meine sowas hier: Oh, guck, eine neue Benachrichtigung von Twitter!

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Wie interessant, was mag es sein?twitter neu 2

Wieder nur ein neuer Hinweis auf etwas Altes. Meh. twitter neu 3

Also, Twitter: Kein Phantom-Alarm mehr, bei dem sich der neue Like und Retweet dann doch nur als neue Benachrichtung über einen alten entpuppt, ja? Danke.

Falls jemand mit denselben Baustellen zu kämpfen hat oder – noch besser – einen Weg gefunden hat, sie zu umschiffen: Ich freue mich über Tipps, in den Kommentaren oder bei Twitter.

The Twitter account formerly known as @DarthPutinKGB

@DarthPutinKGB Twitter

Satire gehört zu den Dingen, die in Russland derzeit nicht gern gesehen werden – erst recht, wenn sie so populär ist wie die von @DarthPutinKGB, der für fast 60.000 Follower Wladimir Putin parodiert. Oder vielmehr parodierte, denn seit gestern ist der Account offline, gesperrt von Twitter.

Was das mit der Sprecherin des russischen Außenministeriums zu tun hat, wie mau die Grundlage für eine solche Account-Sperre ist, und wie die vielen Fans von @DarthPutinKGB nun für seine Rehabilitierung kämpfen, habe ich hier für die Moscow Times aufgeschrieben und dazu auch den Mann hinter dem populären Account interviewt.

Weil in den Artikel naturgemäß nur ein paar Zitate passen, das Interview aber rundum interessant war, poste ich es hier noch mal komplett. Auf Englisch, ausnahmsweise – damit auch die es lesen können, die sich für Russland, Twitter und Meinungsfreiheit interessieren, aber kein Deutsch sprechen.

How did you find out about the account being suspended?

@DarthPutinKGB: I had a notification where someone tweeted it. I thought „so they (the Russian Ministry of Foreign Affairs) did get me shut down after all“. Shortly after I got the note [from Twitter].

What do you think triggered the suspension? Any particular tweet you can think of?

You read when their spokeswoman went off about Euronews‘ „russophobia“ and „info war against Russia“ because they mistook [a fake] Lavrov’s account tweeting about some insignificant Italian local council saying Crimea is Russia?

Sure.

I don’t run that account, but I saw the reaction it got, and then saw it was shut down.

I think that they cannot take being laughed at. They know all this bullshit about „those are not Russian troops“ and „Euromaidan was a CIA coup“ is just that – bullshit. So given that they throw millions at the message and still get mistaken for a parody, it’s a tough situation. They know that they have to show results, hence why RT went nuts about getting caught lying about their ratings. So come budget time, other ministries will say „give us the cash, they can’t spend it properly, they look like their parodies.“

So they had to do something, and shutting all these accounts down shows the superiors they are doing something. And if they can spin it to „russophobia“, it’s an excuse. No one is going to say that’s bullshit, then everything falls apart.

So did I understand correctly that you didn’t have any advance warning from Twitter – they went straight ahead and suspended the account?

No advance warning

Are you in touch with Twitter about getting the account reinstated?

Yes. I lodged an appeal and said no one could interpret this as anything but a parody. They replied this morning saying it may be reinstated if I change the name. I guess they don’t want tweets with the name „Vladimir Putin“ being followed by „this is more accurate than what the Kremlin says“. Or „I can’t tell this from the so-called real account“. So I probably have to appear as ‚Depressed Putin‘ or something.

What do you think this suspension says about freedom of speech in Russia – and about big technology companies‘ willingness to accommodate Russian authorities?

I think freedom of speech in Russia would be a good idea.

Twitter is setting a dangerous precedent. All of the world’s repressive regimes are aware that spontaneous, organic protests have been organized through Twitter (and other platforms). They fear this greatly, hence their various attempts to control it. If a company like Twitter can be told „kill these accounts now“ and they do it, whose side are they on? The people protesting to demand accountable governance, or with those who will shoot them for doing so?

What was your motivation for putting so much effort into this account?

I don’t think I put that much effort into it. While I loathe dictatorships who use mass surveillance, fear and targeted violence to keep themselves in power while they loot the state and extort bribes from people least able to pay them, I find that most of the tweets either write themselves or just come to me.

My motivation initially was that I didn’t think anyone was parodying him very well. No one who listened to what he said or watched what he did (carpet bombing Chechnya and then shooting any journalist that investigated the place was a pretty clear sign most chose to ignore) could be surprised at the current unpleasantness. The only surprise is that so many were surprised. Except I am not surprised. Stop me if that’s too many layers…

Do you think your account would still be up if you had been less funny?

Probably. It’s hard to say. It’s important to note that I don’t actually try to be funny with many of my tweets. I’m just holding a mirror to the Kremlin hypocrisy and lies. A lot of people who claim to be doing PhDs aren’t smart enough to see that. Fortunately, most are.

Anyway, I think that’s the aspect that pisses them off. If I just tweeted pictures of him topless and nothing else, they probably wouldn’t care.

I think they were stupid to make it obvious that it was annoying them by going after so many accounts. We weren’t that important – now everyone knows they fear humor and can’t stand being the butt of a joke.

Wie @GermanAtPompey nicht nur für Deutschlerner twittert

Zeit, mal wieder einen Twitteraccount zu empfehlen. Der Außenseiter-Blick auf ein Land ist für mich ja immer schon mal grundsätzlich interessant – egal, ob ich ihn mir selber machen kann (Schottland, USA, China, Russland) oder anderswo erlese wie bei Steinbeck und Capa, Ilf und Petrow, Isherwood und Auden.

Dass mich in letzter Zeit aber auch regelmäßig der Außenblick auf Deutschland beschäftigt, das liegt an einem britischen Twitteraccount: @GermanAtPompey, wo eine Handvoll Dozenten der University of Portsmouth über den Sprachraum aus Deutschland, Österreich und der Schweiz twittern.

Was ist das Besondere daran? Das Wiedererkennen von Vertrautem, klar. Aber vor allem: Nachzuvollziehen, wie Deutschland, seine Einwohner und seine Sprache auf Menschen wirken, die dort nicht aufgewachsen und sozialisiert sind. Menschen, die sich professionell mit dem auseinandersetzen, was für mich normal ist. Und Menschen, die nicht zu meiner Journalismus-Russland-NRW-Digitales-Chormusik-Schalke-Filterblase gehören.

Einer dieser Menschen, Paul Joyce, hat sich Zeit für ein paar Fragen genommen.

An wen denken Sie, wenn Sie twittern?

Gute Frage. Vergangenes Jahr habe ich dazu einen Vortrag an der Universität gehalten und unter unseren 3120 Followern 16 verschiedene Typen ausgemacht. Dazu gehören Studenten in Portsmouth, Sprachschüler in aller Welt, Übersetzer, Deutschlehrer und -dozenten, Journalisten, deutsche Botschaften und so weiter. Unser ursprüngliches Ziel war, unseren Studenten ein aktuelles Bild vom Leben in deutschsprachigen Ländern zu vermitteln. Seitdem hat sich unsere Zielgruppe ganz schön verändert.

Wir hoffen, dass wir der wachsenden Zahl an Germanophilen in Großbritannien und aller Welt interessante, manchmal auch lustige Einblicke in das moderne Deutschland bieten. Und so viele Beispiele für den Deppenapostroph, wie wir nur finden können…

Auf welche Tweets gibt es die meisten Reaktionen?

Wir haben festgestellt, dass es bei Tweets zu Berlin und zur DDR die meisten Reaktionen gibt. Das ist für uns außerordentlich wertvolle (und kostenlose!) Marktforschung, auf deren Grundlage wir auch schon unseren Lehrplan für den Bachelor-Studiengang angepasst haben. Es gibt immer eine Diskrepanz zwischen dem, wovon Menschen angeben, dass es sie interessiert, und dem, was sie wirklich interessiert. Aber unterm Strich gilt: „Klicks lügen nicht.“

Mir fällt auf, dass Sie viel Wert auf Bilder legen.

Optische Reize erleichtern denjenigen Followern den Zugang, die vielleicht von einem bestimmten Aspekt deutscher Kultur oder Geschichte fasziniert sind, aber noch nicht die Sprachkenntnisse für einen langen Artikel haben. Und Lehrer können Grafiken und Bilder nutzen, um in ihrer Klasse eine Diskussion in Gang zu bringen.

Auch über Retweets haben wir noch ein bisschen gesprochen – weil @GermanAtPompey da eine besondere Stärke hat. So viele Quellen, von denen ich noch nie gehört habe, deren Inhalte mir als Follower nun in die Timeline gespült werden. Dazu noch mal Paul Joyce:

Dank Twitter stecken wir inzwischen um einiges tiefer drin in unserem Themengebiet. Es gibt dort so viele Autoren, Lehrer, Kunstexperten, die faszinierendes Material mit einem Deutschland-Bezug liefern. Das ganze Medium ist immer noch weitgehend frei von Hierarchien: Man kann seine Ideen mit anderen teilen, und im Gegensatz zu den meisten Bereichen der akademischen Welt spielt dein Ruf keine Rolle.

Wenn ein Student über sein Auslandsjahr twittert, dann überzeugt das andere vielleicht eher davon, auch im Ausland zu studieren, als alles, was wir als Dozenten sagen. Und wenn ein enthusiastischer Amateur zum Beispiel über Ostdeutsche Bierdeckel oder über Kunst im Ostblock twittert, kann das innovativer und kommunikativer sein als bei einem etablierten Experten.

In der Praxis sieht das dann so aus (eine kleine Sammlung von @GermanAtPompey-Tweets, an denen ich in jüngster Zeit Spaß hatte, zusammengestellt mit Twitters „Collection“):

#twitspeare – jeden Monat ein neues Shakespeare-Stück lesen

#twitspeare Shakespeare Twitter 2016

Wir machen das jetzt einfach mal: Jeden Monat ein Stück von William Shakespeare lesen und drüber twittern. Ohne festes Ziel, ohne akademischen Anspruch, ohne Vorgabe, wie viele Tweets, wann oder in welcher Sprache. Es geht einfach nur um den Spaß daran, 400 Jahre nach Shakespeares Tod gemeinsam etwas von ihm zu lesen und sich darüber auszutauschen.

Bisher sind wir ein gutes Dutzend Leute, manche kennen sich, manche nicht. Wenn jemand das hier liest und mitmachen will – nur zu, es geht los mit „Much Ado about Nothing“. Oder, wie eine Moskauer Freundin es gestern so schön auf den Punkt brachte: „Ahhhhh, Ken and Em.“

Ja, auch für mich ist die Version mit Kenneth Branagh und Emma Thompson die Verfilmung. Müsste man direkt mal wieder… und dann gab es ja auch noch diese schwarzweiße von Joss Whedon vor ein paar Jahren… und den Theatermitschnitt mit David Tennant.

Hier schwört er (mit schottischem Akzent als Bonus-Feature) in der Rolle des Benedick, dass er sich nie verlieben wird.

Was passiert, wenn jemand sowas am Anfang der Handlung sagt, wissen wir alle. Wie es passiert, dafür nehme ich das Stück gerne mal wieder in die Hand – erst recht, weil Beatrice, das weibliche Gegenstück zu Benedick, von je her eine meiner absoluten Lieblingsfiguren in der englischen Literatur ist.


Mein Leben als Futterlieferantin für Twitters Fake-Accounts

Im Dezember waren wir ein Wochenende in Kasan, und auf dem Flug dahin gab es bei Aeroflot ein Sandwich, das aufgeklappt so aussah:

Seit Russland kaum noch Lebensmittel aus Westeuropa ins Land lässt, ist Käse hier ein beliebtes Seufz-Thema. Dass der Tweet einiges an Resonanz fand, hat mich also eher gefreut als gewundert. Einige Replies, so um die 180 Retweets und ein paar hundert Like-Sternchen Like-Herzchen – darauf hatte es sich nach drei, vier Tagen eingependelt, dann ließ das Interesse nach. Alles ganz normal.

Dann kam Silvester, und während ich mich aufs Raclette bei den Nachbarn freute, schien das olle Käsebrot plötzlich wieder neuen Leuten zu schmecken. Es hagelte Interaktionen, innerhalb von wenigen Stunden. Ins neue Jahr ging der Tweet schon mit mehr als 200 Retweets/1000 Likes, inzwischen sind es rund 300/2000. „Irgendwer mit vielen Followern muss den weiterverbreitet haben,“ dachte ich – und lag falsch. Alle durchgeguckt, kein großer Multiplikator dabei.

Stattdessen haben die Accounts, die sich neuerdings an diesem Tweet abarbeiten, einiges gemeinsam:

– extrem wenige Follower
– extrem wenige bisherige Tweets
– keine Twitter-Bio (den Bereich, wo Nutzer etwas über sich selber schreiben)
– oft kein Profilbild, nur Twitters voreingestellten Eierkopp
– die meisten haben Frauennamen – Viktoria, Lisa, Julia, Viktoria, Lisa, Julia
– die meisten ihrer Tweets sind Retweets

Die Schlagzahl, in der diese ganzen Accounts sich an dem Aeroflot-Käsebrot abreagieren, hat mehrere Folgen. Mir spammt es die Übersicht voll, weil alle paar Minuten neue Reaktionen gemeldet werden:

käsebrot 1

Die echten Twitterer, die aus ehrlichem Interesse auf den Tweet reagiert haben, bekommen ebenfalls einen Teil dieses Reaktionsmülls ab:

Und, wichtigste Folge: Es wird ziemlich schnell offensichtlich, dass hinter diesen Twitter-Nutzern keine Menschen stecken, sondern ein Automatismus. Einer, der reihenweise Accounts anlegt und sie mit minimalem Aufwand leidlich echt aussehen lässt.

Dazu füttert er sie mit einer Handvoll unverfänglicher Tweets, die sie automatisch retweeten. Kleine Stichprobe bei den ganzen ViktoriaLisaJulias, und man findet schnell die Übereinstimmungen. Einige (etwa sie und sie) haben das hier retweetet:

Andere (zum Beispiel sie und sie) das hier:

Sogar Tweets von einem der russischen Twitter-Mitarbeiter müssen als Füllmasse herhalten. Vor allem aber besteht die Timeline dieser Hunderte von Accounts aus Retweets einer Person (der sie natürlich auch so gut wie alle folgen): Sasha Spilberg.

Sie scheint hier eine große Nummer bei Youtube zu sein, fast drei Millionen Menschen haben ihren Kanal abonniert. Bei Twitter hakt es allerdings bei Sasha noch ein wenig, erst eine halbe Million Fans. Aber da scheint ja gerade jemand dran zu arbeiten, wie diese Statistik von Twittercounter zeigt:

sasha spilberg twittercounter

Bis zum 30. Dezember stetiges, organisches Wachstum, ab dem 31. dann ein unvermittelter Sprung in die Höhe. Das ist der Tag, an dem sie begann, die automatisierte Aufmerksamkeit für meinen Käsebrot-Tweet. Offenbar hat also jemand den Vorsatz, zum neuen Jahr Sasha Spilbergs Followerzahl künstlich hochzutreiben. Schwer vorstellbar, dass das ein professionelles Social-Media-Team so plump tun würde. Ein Fan also? Oder jemand, der ihr was will? (Wie war das damals noch mal mit den Fake-Fans der FDP?)

Bei Twitter gemeldet hab ich die Fakes, bisher hieß die Rückmeldung „wir untersuchen das“. Aber wer weiß: Wenn sie schon die Fake-Accounts nicht stillegen, basteln sie ja vielleicht zumindest an einer Funktion, die solche Aktionen weniger nervig macht: „Benachrichtigungen für diesen einen Tweet abschalten.“