Russball, Folge 37: Bier, das Getränk zivilisierter Fans

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Eins gleich vorneweg: Wir halten uns diese Woche nicht auf mit Stanislaw Manajew. Ja, der Mann aus dem Kader des FK Tosno hat sich tatsächlich mit einem 5000-Rubel-Schein die Nase geputzt. Ja, das ist komplett geschmacklos, wenn man bedenkt, dass jemand, der in Russland den gesetzlichen Mindestlohn verdient, im Monat gerade mal zwei solcher Scheine zur Verfügung hat. Mehr gibt es dazu nicht sagen, höchstens noch: Wer auf dem Platz nicht von sich reden macht, muss eben andere Wege wählen.

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⚽ Der Besitzer der russischen Supermarktkette „Magnit“, Sergei Galizki, ist gerade aus dem Unternehmen ausgestiegen und hat seine Anteile an die Staatsbank VTB verkauft. Warum diese Info in einen Newsletter zum Fußball in Russland gehört? Wegen der Antwort, die Galizki auf die Frage gab, was denn nun für ihn kommt: „Ich werde in Krasnodar leben und mich wohl dort um den Kinder- und Jugendfußball kümmern. Das ist alles, denke ich.“

Der FK Krasnodar gehört zu den Top-Vereinen der Premjer-Liga, Galizki selbst hat ihn vor zehn Jahren gegründet und ist noch heute sein Präsident. Und der Verein ist bemerkenswert, weil er sehr viel mehr Wert auf Nachwuchsförderung legt als seine Mitbewerber (mehr dazu hier). Darum ist der Ausstieg eines Supermarkt-Magnaten aus seinem Unternehmen eben auch ein Thema für Russlands Sportjournalisten: „Das Leben der Nachwuchsspieler des FK Krasnodar wird noch besser“, heißt einer der Kommentare.

⚽ Nicht nur fußballerisch ist die Zeit zwischen dem Confed-Cup im vergangenen Sommer und der WM in diesem Jahr eine Durststrecke, sondern auch ganz wortwörtlich: Abseits solcher großen Turniere darf in Russland kein Alkohol im Stadion verkauft werden, was die Fans naturgemäßig wenig begeistert. Sergej Prjadkin, Chef der obersten russischen Liga, hat darum jetzt mal einen Testballon steigen lassen.

Budweiser oder Klinskoje? In solchen Bechern wurde beim Confed-Cup Bier in den russischen Stadien verkauft.
Budweiser oder Klinskoje? In solchen Bechern wurde beim Confed-Cup Bier in den russischen Stadien verkauft.

Ja, der Kampf gegen den Alkoholismus sei weiter wichtig, so Prjadkin – aber Bierhersteller seien eben auch eine mögliche neue Einnahmequelle für die Fußballvereine. Die Premjer-Liga arbeite deshalb daran, dass Bier im Stadion und Biermarken als Sponsoren bald erlaubt sind. Schließlich, so Prjadkin, ist Bier „ein normales Getränk zivilisierter Fans“. Und die Fußballseite „Bombardir“ weist darauf hin, dass in Deutschland das Stadionbier eine lange Tradition hat. Randale, heißt es dort, werde mit Überwachungskameras verhindert.

⚽ Wo wir gerade beim Alkohol sind: Пробка, gesprochen [PROBka], hieß mal eine Fußballkneipe bei uns um die Ecke. Fußballfans trinken gerne, пробка bedeutet Korken, die Logik war halbwegs einleuchtend. Im übertragenen Sinne ist eine пробка aber auch ein Stau – der Korken also, der verhindert, dass der Verkehr fließt.

An das Themenfeld zwischen Korken knallen lassen und im Stau stehen musste ich bei dieser Meldung hier denken: Damit trotz Moskaus legendär verstopfter Straßen alle WM-Spiele pünktlich anfangen, dürfen die Mannnschaftsbusse auf den Spezialspuren fahren, die auch der ÖPNV in Moskau nutzt. Auch offizielle Delegationen und Journalisten bekommen dieses Privileg – vorausgesetzt, sie sind in Shuttlebussen unterwegs. (Die Regelung gilt auch in den anderen Gastgeberstädten, Details hier.)

⚽ Als Rheinländerin in Russland ist mir das Prinzip, dass vor der Fastenzeit eine Figur verbrannt wird, vertraut. In Köln stirbt für unsere Sünden der Nubbel in den Flammen. In Russland ist – nach den „Masleniza“-Tagen, in denen man so viele Pfannkuchen wie möglich isst – eine große Strohfigur fällig. Traditionell ist das meist eine Frauenfigur in traditioneller Tracht, die als „Frau Masleniza“ für den hoffentlich bald beendeten Winter steht.

In der Stadt Perm haben sich einige Menschen in diesem Jahr auf ein populäres Feindbild geeinigt: Sie zündeten eine Strohpuppe an, der sie das Gesicht von Grigori Rodschenkow angesteckt hatten, dem Doping-Whistleblower. Damit keine Missverständnisse aufkommen, hat der Puppe auch noch jemand ein „WADA“-Schild ans Hemd geheftet.

kscheib russball perm maslenitsa

Einen lebenden Menschen symbolisch verbrennen und dann um die brennende Figur tanzen. Wo ist das Facepalm-Emoji, wenn man es braucht?

⚽ Welcher russische Verein erreicht in der Europa League die nächste Runde? Sergei Andrejew, sowjetischer Nationalspieler und heute Trainer, macht sich wenig Illusionen: Spartak, Zenit und ZSKA sind nach seiner Einschätzung alle chancenlos, bloß Lokomotive Moskau kommt weiter. So weit, so offensichtlich – Loko ist der einzige Verein, der sein Hinrundenspiel gewonnen hat.

Als ich mir zu Andrejew ein wenig Hintergrund anlesen wollte, bin ich auf ein interessantes Detail gestoßen: Der Mann ist einer von knapp 75 russischen Fußballern im Grigori-Fedotow-Klub. Nun ist das nicht die Sorte Verein, deren Mitglieder sich einmal im Jahr treffen und bei Mineralwasser die Tagesordnung abnicken und den Vorstand endlasten.

Der Fedotow-Klub ist eher eine Liste, eine Art Hall of Fame. Alle russischen Spieler, die in ihrer Profikarriere mindestens 100 Tore geschossen haben, gehören dazu. (Wer Spaß an sowas hat, findet im Kleingedruckten viel Unterhaltsames: So zählen zum Beispiel Tore in der Liga, in der Nationalmannschaft und bei Spartakiaden. Für russische Spieler im Ausland gilt: Tore in der ersten Bundesliga zählen, in der zweiten leider nicht.)

⚽ Nicht ausgestrahlt wird die Fußball-WM in der Ukraine, aus politischen Gründen und vielleicht auch als als Reaktion darauf, dass der Eurovision Song Contest in Kiew nicht im russischen Fernsehen gezeigt wurde.

Für ukrainische Fußballfans dürfte das allerdings kein großes Problem sein – und das nicht nur, weil ihre Mannschaft sich nicht qualifiziert hat. Schließlich sind viele russische TV-Sender zwar in der Ukraine geblockt. Aber wie geübt die Menschen darin sind, solche Blockaden zu umgehen, hat gerade erst diese Statistik gezeigt: VK, Odnoklassniki, Yandex – alle offiziell gesperrt und trotzdem weiterhin unter den populärsten Websites in der Ukraine. Heißt für die WM: Was der Fernseher nicht liefert, liefern halt VPN und Livestream.

⚽ Fünf WM-Spiele werden in Rostow am Don stattfinden, nun lässt sich der stellvertretende Gouverneur dort ins Portemonnaie gucken und zählt auf: 38 Milliarden Rubel für den schicken neuen Flughafen, 18 Milliarden fürs Stadion, dazu noch diverse Brücken- und Straßenbauprojekte, Insgesamt hat die Stadt so laut eigenen Angaben mehr als 100 Milliarden Rubel investiert, um sich weltmeisterschaftstauglich zu machen. Umgerechnet sind das rund 1,4 Milliarden Euro.

⚽ Zum Abschluss noch eine kleine Übersicht, mit welchen neuen Gesetzen sich die russische Regierung auf die WM vorbereitet. Zum einen läuft bis Ende Mai ein Pilotversuch zum steuerfreien Einkaufen für Touristen – bei Erfolg soll es im Anschluss direkt auf alle WM-Austragungsorte ausgedehnt werden. Damit bekämt ihr also die Mehrwertsteuer auf eure WM-Handyhüllen und WM-Hoodies und WM-Federmäppchen und WM-Teekannen zurück (ja, das gibt’s alles wirklich).

Der Verkehrsminister möchte unterdessen bitte ein Gesetz bewilligt bekommen, wonach er (vermutlich nicht persönlich) während des Turniers Drohnen abschießen lassen darf, die zum Beispiel ohne Erlaubnis über ein Stadion fliegen. Es ist nicht die einzige Akte mit WM-Vermerk auf dem Schreibtisch des Ministers: Gerade hat er auch ein Bauunternehmen verklagt, das für zwei der Stadien zuständig war. Knackpunkt ist offenbar die Frage, warum die Projekte so viel teurer wurden als geplant: Lag’s, wie die Firma sagt, an der Inflation? Oder ist da doch der ein oder andere Rubel, na, sagen wir mal: versickert?

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Ein Update gibt es noch nachzureichen zur Russball-Folge 34 – das war die mit der Liste russischer Hotels, die versuchen, WM-Reisende mit überhöhten Preisen abzuzocken. Gerade wurde bekannt, dass sie dafür insgesamt rund 88.000 Euro an Bußgeldern zahlen mussten. Guckt man allerdings genauer, verteilt sich diese Strafe auf fast 400 Hotels bzw. Hotelbesitzer. Im Schnitt also vielleicht 250 Euro pro Fall. Ob das irgendeine abschreckende Wirkung hat?



 

Russball, Folge 22: Wir basteln uns einen Stadion-Rasen

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Echt, drei Tage in Tiflis, und du bist für Moskau komplett verdorben. Die freundlichen Menschen! Das grandiose Essen! Die fußgängertauglichen Straßen! Besonders cool an Fabrika, dem Ort, wo wir mit dem Team von Coda Story getagt haben, waren die viele Graffiti – mal schauen, vielleicht wird das noch mal ein separater Blogpost.

Eh das hier jetzt aber komplett in Richtung Georgien-Verklärung kippt, reden wir besser mal über Guram Kashia. Er spielt nicht nur für die georgische Fußball-Nationalmannschaft, sondern auch für den niederländischen Verein Vitesse Arnheim. Als sich unlängst alle Clubs der Eredivisie – also der obersten Liga in den Niederlanden – zusammentaten und ihre Kapitäne mit Regenbogen-Armbinde auflaufen ließen, sollte das ein Zeichen gegen Homophobie sein.

Für Kashia war es der Beginn massiver Anfeindungen. Georgische Fußballfans und Journalisten fordern seitdem, dass er nicht mehr für die georgische Nationalmannschaft spielen darf. Mehr zum Thema gibt es bei der Washington Post.

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⚽ Angriff ist die beste Verteidigung, das gilt auch, wenn sich die Fans daneben benehmen: Beim Europa-League-Spiel gegen Rosenborg Trondheim haben Anhänger von Zenit St. Petersburg den Gästeblock auseinandergenommen. 700 Zenit-Fans waren zu dem Spiel nach Norwegen gereist, 80 Sitze waren hinterher kaputt. Nachdem Trondheim sich bei der UEFA über den Vandalismus der russischen Gäste beschwert hatten, ging Zenit in die Offensive: 80 kaputte Sitze? Jahaaaa, aber der Gästeblock war ja auch gar nicht richtig ausgerüstet für eine Match dieser Klasse.

Da, heißt es weiter, seien schließlich spezielle, vandalismusfeste Sitze üblich. „Zenit will sich nicht der Verantwortung für von unseren Fans verursachte Schäden entziehen“, zitiert TASS aus einem Statement des Vereins. Von böser Absicht könne aber keine Rede sein: „Solche Dinge passieren, wenn die Gasttribüne nicht richtig vorbereitet ist.“ Anders gesagt: Unsere Fans sind keine Vandalen! Sie machen bloß Sitze kaputt, wenn die nicht vandalismusfest sind. (Die UEFA interessiert das übrigens nicht, sie ermittelt trotzdem.)

⚽ „Russische Nationalmannschaft wird Weltmeister im 7-gegen-7-Fußball“, schreibt Argumenty i Fakty – und ich muss erst mal recherchieren, was das ist. Das Ergebnis ist interessant und, mit Blick auf Russland, ermutigend: Bei dieser Fußball-Variante, die auf Deutsch „CP-Fußball“ heißt, treten Sportler gegeneinander an, die nach einer Hirnschädigung im Kindesalter oder nach einem Schlaganfall Probleme haben, ihre Bewegungsabläufe zu kontrollieren. Um Weltmeister zu werden, hat Russland die Nationalmannschaft von Guatemala 4:2 geschlagen.

Ein großer Fortschritt im Vergleich zu noch vor wenigen Jahrzehnten: Als Moskau 1980 die Olympischen Sommerspiele ausrichtete, weigerten sich die sowjetischen Offiziellen, auch die Paralympics zu veranstalten. Offizielle Begründung: Bei uns gibt es keine Behinderten! Auch heute ist das Thema Behinderung hier kein einfaches, aber immerhin: 2014 hat Russland in Sotschi sowohl die Olympischen als auch die Paralympischen Winterspiele ausgerichtet.

⚽ Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt. Er setzt seine Felder und den Rasen von Dynamo Moskau instand. Ja, man kann schon mal lyrische Anwandlungen bekommen bei den Motiven, die der Telegramm-Kanal „Historical Football“ so verbreitet. Dieses Motiv aus dem Frühjahr 1935 ist aber auch einfach zu schön, das muss hier einen Ehrenplatz bekommen.

Frühjahrsaussaat: Das Spielfeld im Dynamo-Stadion wird im nach dem Umbau für die Saison vorbereitet“, heißt die Bildunterschrift in der Sammlung historischer Aufnahmen auf der Internetseite des Vereins. Die lohnt ohnehin das Stöbern – auch wegen dieser Aufnahme der allerersten Dynamo-Mannschaft aus dem Jahr 1924.

⚽ Zur Halbzeit in der Premjer-Liga versucht sich Russian Football News an einer Zwischenbilanz. Leider ist das Ergebnis eher gut gemeint als gut gemacht – es sei denn, man steht auf stream of consciousness und atemlose Endlossätze. Aber gut, für den Fall, dass hier ein Hardcore-Fan von Achmat Grosny, Amkar Perm, Anschi Machatschkala oder Arsenal Tula mitliest: Hier findet ihr Teil 1 der Halbzeitbilanz.

⚽ Ein Update ist nötig, vielleicht sogar eine Korrektur zur Russball-Folge der vergangenen Woche. Dort hatte ich einen Bericht von RBK zitiert, wonach Russland rund eine Million US-Dollar bezahlt, damit Argentinien seine Nationalmannschaft zu einem Freundschaftsspiel nach Moskau schickt. Nun allerdings hat sich Witali Mutko zu Wort gemeldet, Russlands oberster Fußballfunktionär.

Russlands Fußballverband habe nichts für diese Begegnung gezahlt, zitiert ihn die staatliche Nachrichtenagentur TASS, und hätte Mutko an dieser Stelle aufgehört, es wäre ein hartes Dementi. Doch es folgt ausführliches Lavieren über Kosten für Unterkunft, Flüge, Trainingseinrichtungen, Transfers der Gäste, es ist die Rede von „einem gewissen System an Interaktionen zwischen den Nationalmannschaften“. Will sagen: Russland hat vielleicht (noch?) nichts bezahlt für das Freundschaftsspiel. Aber wenn so eine Aufwandsentschädigung für die Anreise, Unterkunft etc. sich nun auf eine Million Dollar summiert, na dann…

Die Argentinier, das steht jedenfalls fest, sind schon mal in Moskau eingetrudelt. Und dieses Twitter-Video, bei dem sie aus einem Minibus steigen, hat bei fußballinteressierten Russen schon viel Spaß ausgelöst. Schließlich gehört das Fahren mit solchen „Marschrutkas“ zum Alltag all jener Moskauer, die nicht im unmittelbaren Zentrum der Stadt unterwegs sind.

⚽ Nur noch 217 mal schlafen, dann ist auch schon Fußball-Weltmeisterschaft. Moskaus Stadtverwaltung hat direkt mal durchgezählt, wer denn da wohl alles anreist und woher. Ergebnis: Mehr als die Hälfte aller Hotelreservierungen in Moskau während der WM kommt von Menschen aus nur drei Ländern: den USA (22 Prozent), China (16) und Mexiko (15). Insgesamt sind rund 60 Prozent der verfügbaren Hotelzimmer in Moskau bereits belegt.

Heißt das also, dass die größten Fangruppen bei der WM aus diesen drei Ländern kommen werden? Nicht zwingend. Gerade in diesen letzten Wochen des Jahres, wo wir den Resturlaub verbraten, ist uns doch allen präsent, wie leicht sich ein reserviertes Zimmer auch wieder stornieren lässt – online oft sogar bis einen Tag vor der Ankunft. Auf solche Stornierungen müssen sich Moskaus Hoteliers sicherlich einstellen. Denn auch, wenn die Fans optimistisch geplant haben – weder die USA noch China haben sich für die Weltmeisterschaft qualifiziert.

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Falls ihr übrigens auch mit der Idee spielt, zur WM im nächsten Jahr nach Russland zu kommen: Es gibt neuen Infos zu den Zügen, in denen Fans kostenlos vom einen Austragungsort zum anderen fahren dürfen. Keine ideale Lösung, wenn man nach Jekaterinburg will, aber für kurze Strecken wie Moskau – St. Petersburg durchaus machbar; erst recht, wenn man mehr Zeit als Geld hat.

Besonders empfehlen kann ich nach meinen Zugerfahrungen hier in Russland die „Lastotschka“, übersetzt „Schwalbe“ – ein Schnellzug, neu, schick und oft sogar mit WLAN. Alles weitere hier – macht’s gut und bis nächste Woche!



 

Durchs wilde Kirgistan

Eine Jurte mit der kirgisischen Flagge, auf der wiederum ein Teil eines Jurtendachs abgebildet ist
Eine Jurte mit der kirgisischen Flagge, auf der wiederum ein Teil eines Jurtendachs abgebildet ist

Landschaftsformen: 5 bis 6

Was da alles drinsteckt, in diesem gar nicht so großen Land! Mal sind es Bergwiesen, satt und grün und lieblich, mit rauschendem Wasser, wilden Pferden und hier und da einer Jurte. Dann ein Canyon, knallrot und heiß, auf dessen staubtrockenen Felsen sich Eidechsen sonnen. Der Yssykköl, zweitgrößter Gebirgssee der Welt, ein paar Angler oder Badende am Rand und sonst nur Wasser bis zum Horizont. Steppe hier. Halbwüste dort. Und immer das Bedüfrnis: noch ein bisschen bleiben, noch etwas länger gucken, noch ein paar Fotos machen.

Im Skaska-Canyon sollen die Felsen an Märchenfiguren erinnern
Im Skaska-Canyon sollen die Felsen an Märchenfiguren erinnern

Mitgebrachte Infusionsbestecke: 3

Wenn auf der Kofferpackliste neben festen Schuhen, Fleecejacke und Sonnenschutz auch Einwegspritzen und Infusionsbestecke stehen, dann hat das Auswärtige Amt mitgeschrieben. Erst fühlte sich das ein bisschen übervorsichtig an – ich werd mir ja wohl nicht zwei Jahre in Folge im Urlaub was brechen. Dann saßen wir abends mit ein paar Freunden zusammen, die alle selbst gerne reisen und teilweise auch für Unternehmen arbeiten, wo Aufenthalte in Ländern mit nicht so guter ärztlicher Versorgung zum Job gehören.

„Spritzen und Infusionsbestecke, das ist ja gar nichts. Bei uns ist neulich ein Kollege nach Indien gereist, dem hat der Betriebsarzt ein komplettes sterilisiertes OP-Besteck mitgegeben.“ – „Ist bei uns auch so, und du kriegst das alles nur, wenn du auch gleichzeitig die Kondome mitnimmst, die er dir mitgibt.“ – „Stimmt, das hatte ich auch schon mal, drei Stück waren das damals.“ – „Nee, heute nur noch eines, wir müssen ja sparen.“

Die russisch-orthodoxe Kirche von Karakol
Die russisch-orthodoxe Kirche von Karakol

Gelesene Buchseiten: unter 100

Sonst war es immer so einfach: Einer fährt, der andere liest und guckt zwischendurch in die Landschaft. Wenn allerdings aus der Straße eine Schotterpiste wird, aus der Schotterpiste ein Trampelpfad und aus dem Trampelpfad irgendwann fast blanker Felsboden, ist er schwer, den Blick auf der Zeile zu halten. Einerseits.

Andererseits soll das nicht heißen, dass der Urlaub frei war von literarischen Stilmitteln, ganz konkret: dem inneren Monolog: Oh mein Gott, da sollen wir rauf? In einem Auto? Ist das nicht ziemlich steil, und schmal, und dann zur Seite plötzlich… okay, der da drüben macht das in einem alten Golf, und ich fahr hier einen Jeep. Aber der ist auch Kirgise! Der hat Übung, Gene… ach guck, hat doch geklappt. Und das da vorne über den Fluss, das soll also eine Brücke… aber… haben Brücken nicht normalerweise Geländer? Und eine ebene Oberfläche statt grob nebeneinander montierte Baumstämme? Das wird nichts. Das kann ich nicht. Wir werden alle sterben, oder zumindest umkippen, oder…

Und laut dann: „Oh Mann, der Blick hier oben. Toll, oder?“ – „Ja, toll.“

Felsen am Südufer des Yssykköl
Felsen am Südufer des Yssykköl

Gescheiterte Polizei-Abzocken: 1

Die Polizei in Kirgistan ist legendär korrupt. Autovermieter, Reiseblogger, Bekannte, alle waren sich einig in ihrer Warnung. Wir hatten uns also vorbereitet: bloß ein paar kleine Som-Scheine ins Portemonnaie und, Faustregel: Wir können heute leider mal so gar kein Russisch. Gesehen haben wir täglich zwei, drei Geschwindigkeitskontrollen, rausgewunken wurden wir erst am vorletzten Tag, in einer 40-km/h-Zone.

Ich wusste, mehr als 35 war ich nicht gefahren – schon wegen der Schlaglöcher. Der Polizeimann sah das anders, tippte Zahlen auf seinem Handy-Taschenrechner und erklärte auf Russisch: „Hier ist 40. Sie sind 52 gefahren. 3000 Som Strafe.“ Ich: „Why?“ Er: „Hier ist 40. Sie sind 52 gefahren. 3000 Som Strafe.“ Ich: „I don’t understand.“ Nächste Eskalationsstufe: Er malt die 40 und die 52 auf einen Zettel (vielleicht liegt’s am Medium, dass die komische Ausländerin nichts versteht?) und fordert nun auch nur noch 2000 Som.

Ein paar Runden haben wir das Spiel noch gespielt, er mit seinen Zahlen, ich mit „Why“, „I don’t understand“, „I don’t speak Russian“. Dann war es ihm irgendwann zu viel kostbare Zeit, in der man gefügigere, sprachkompetentere Autofahrer hätte abzocken können. Wir fuhren weiter. Mit 35, höchstens.

Der Strand in Bosteri am Nordufer, fotografiert aus der Gondel eines Riesenrads
Der Strand in Bosteri am Nordufer, fotografiert aus der Gondel eines Riesenrads

Staatstragende Motivationskampagnen: 1

Im Vergleich zu vielen anderen -Stanen ist Kirgistan etwas demokratischer, es gab hier seit dem Ende der Sowjetunion schon eine ganze Reihe Präsidenten, einmal sogar eine Präsidentin. Der aktuelle Amtsinhaber, Almasbek Atambajew, wird denn auch nicht so sehr wie seine Kollegen aus den Nachbarländern als omnipräsenter, sonnengleicher Führer inszeniert. Nur einmal ist uns eines seiner Porträts begegnet, am Zaun zu einem Museumsgelände.

Durchaus postsowjetisch fühlt sich dagegen die Plakatkampagne an, deren zahlreiche Motive an den größeren Straßen stehen: Mal sind es uniformierte Soldaten, mal ein Mähdrescher, mal Ärzte im OP, mal Frauen in der Landwirtschaft. Begleitet werden sie vom immer gleichen knappen Slogan, auf Kirgisisch und Russisch: „Wir arbeiten!“ Ob das nun eher „Komm, pack an!“ vermitteln soll oder „Es gibt auch hier Arbeitsplätze, nicht alle müssen nach Russland abwandern“ – schwer zu sagen. 

Frauen verkaufen Kurut auf dem Osch-Basar in Bischkek
Frauen verkaufen Kurut auf dem Osch-Basar in Bischkek

Tage, die mit Kascha begannen: 7

Tage, die mit Lagman – dicken Nudeln mit Gemüse, serviert im Sud und mit vielen Kräutern – endeten: 5. Auch sonst war beim Essen einiges neu fur uns: „Koreanischer Möhrensalat“ zum Beispiel, der ungefähr so koreanisch ist wie Spaghetti-Eis italienisch. Kurut, kleine harte Knubbel, für die Joghurt getrocknet, gesalzen und gerollt wird.

Geröstete Bohnen vom Basar, die man wie Pistazien aus ihrer Schale fischt und dann knabbert. Und Tschalap, ein Getränk wie Ayran, nur salziger und mit viel Kohlensäure. In Bischkek sitzt an jeder zweiten Straßenecke eine Frau mit einem Tschalap-Fass. Vor allem bei 36 Grad zu Beginn unserer Reise genau das richtige Getränk.

Das Ortseingangsschild von Rotfront
Das Ortseingangsschild von Rotfront

Deutsche Spuren: viele

Der Ort „Rotfront“, gegründet von deutschen Mennoniten im Jahr 1927 als „Bergtal“. Die vielen Marx- und Engels- sowie gelegentlichen Thälmannstraßen. Vor allem aber: Autos. Was in Deutschland fürchten musste, nicht mehr durch den TÜV zu kommen oder einfach durch neuere Modelle ersetzt wurde, fährt nun über die Straßen von Kirgistan.

Was haben wir alte Audis gesehen, die sich tapfer über Schotterpisten kämpften. Und die Klein- und Großlaster erst, oft noch mit den ursprünglichen Werbeaufschriften: „www.Reifers-Reisen.de“ – „Otte: Qualitätsgemüse frisch aus deutschen Landen – schmackhaft und gesund“. Nur der Mercedes Sprinter vom Hüpfburgverleih, der kam aus Holland.

Unterwegs mit zwei PS
Unterwegs mit zwei PS

Ungelöste Globalisierungsrätsel: 2

Alte Frachtcontainer sind hier als Baumaterial, sogar als Wohngebäude populär. Wir sind an großen Geländen vorbeigefahren, die komplett mit Containerwänden umzäunt waren, Kirchen mit einem Container als Nebengebäude, sogar ein Haus, das einfach aus sechs gestapelten Containern bestand. Ob das billiger ist als Mauern? Hier, wo doch an vielen Orten Ziegelsteine hergestellt werden?

Vor allem aber, Rätsel Nummer zwei: Warum sieht man hier ständig Plastiktüten von Morrisons, der britischen Supermarktkette? Obst auf dem Basar – in der Morrisonstüte. Mineralwasser im Laden – in der Morrisonstüte. Selbst im Hotelbadezimmer hängt eine Morrisonstüte im Mülleimer, eine obdachlose Frau in Bischkek trägt ihre Habseligkeiten in drei Morrisonstüten rum. Morrisons hat keine Filialen in Kirgistan, es reicht außerhalb der britischen Inseln gerade mal für Gibraltar. Also, werden die Tüten nebenan in China hergestellt und beim Transport über Land ist regelmäßig ordentlich Schwund? Oder kann es daran liegen, dass es alles Tüten mit dem alten Logo sind, die in Großbritannien keiner mehr haben wollte? Und dann wurden die irgendwie nach Kirgistan verramscht?

Angeln mit Bergpanorama
Angeln mit Bergpanorama

Fotografierte Bushaltestellen: 8

Ob alte deutsche Audis oder neue japanische Modelle: ein Auto ist etwas, das sich bei weitem nicht jeder in Kirgistan leisten kann. Tatsächlich sieht man ab und an noch Eselskarren, wirklich entscheidend für die Fortbewegung sind aber Marschrutki, die weißen Sammeltaxis. Egal, ob du vom Stadtzentrum von Bischkek schnell mal zum Basar willst oder von einer Stadt hunderte Kilometer in die nächste: Die Marschrutka bringt dich hin. Und wo Busse fahren, braucht man Bushaltestellen.

Die Exemplare an unserer Route waren, immer wieder, Kompromisse zwischen Beton und Spieltrieb. Seltsam, wie viele unterschiedliche Formen man finden kann für ein Dach mit Stützen und eventuell noch einer Rückwand. Fliesen, Mosaike, Putz, alles nicht mehr ganz neu. Aber in all seinem bröckeligen, verspielten Charme doch immer wieder ein Grund, langsam zu fahren, anzuhalten und etwas zu fotografieren, das in keinem Reiseführer als Sehenswürdigkeit vorkommt.

Jurtenlager in Bokonbajewo
Jurtenlager in Bokonbajewo

Die Fotos hat übrigens Markus gemacht, mehr hier.

Kleiner Architektur-Führer für Moskauer Bussitze

Ach weißt du, die Themen liegen ja auf der Straße. Oder besser: Sie fahren darauf herum. Immer, wenn ich im Bus sitze, starre ich auf diese Sitze mit ihren blau-gelben Bezügen und denke: „Man müsste eigentlich mal all die Moskauer Architektur-Highlights auflisten, auf die wir uns jeden Tag draufsetzen.“ Schon allein, damit man Gästen was Interessantes zeigen kann, wenn man mit ihnen im Bus in einem der vielen Staus hier feststeckt.

Also habe ich neulich die Mitfahrenden verwirrt, indem ich mich nicht gesetzt, sondern die Sitze fotografiert habe, während wir den Neuen Arbat runterfuhren. Mit ein bisschen Nachschlagen und Diskutieren mit Freunden (Moskau hat ziemlich viele Kirchen, es ist nicht immer einfach) ist nun diese Grafik entstanden. Wer wissen will, wie die einzelnen Gebäude heißen: einfach mit dem Mauszeiger über einen der Punkte fahren, dann werden die Infos eingeblendet.

Während das Bolschoi es gleich zweimal auf diese Rückenlehne geschafft hat (oben links und unten links), tauchen andere Glanzstücke der Moskauer Architektur weniger häufig auf. Zwei möchte ich deshalb noch nachreichen, weil sie zwar weniger bekannt, aber auch interessant sind: Das Mosselprom-Gebäude und die Schiwopisny-Brücke begegnen einem ebenfalls manchmal beim Busfahren.

kscheib architektur moskau bus

(Update: Weil die Anregung mehrfach kam, gibt es für internationale Moskau-Reisende das Ganze hier jetzt auch in Englisch.)

Alltagsrassismus, oder: Warum man nicht mit „City Mobil“ Taxi fahren sollte

Woran ich mich auch nach fast an einem Jahr in Russland nicht gewöhnt habe (und auch nicht gewöhnen möchte), ist der Alltagsrassismus. Du unterhältst dich mit jemandem, den Du seit Monaten kennst, über seine Wohngegend: „Wär ne gute Ecke, wenn die ganzen Tadschiken nicht wären.“ Jemand anderes, mit dem Du regelmäßig Zeit verbringst, fasst seinen Urlaub zusammen: „Gutes Wetter, aber das war voller Türken da, und du weißt ja, wie die stinken.“

Jedes andere Gespräch bis zu diesem Punkt war komplett normal, es sind Bekanntschaften entstanden, Freundschaften – und dann kommt so eine Aussage. Ansprechen hilft auch nicht: „Ach komm, Du weißt doch, wir Russen haben es nicht so mit der politischen Korrektheit.“ Als wäre das die Baustelle.

Von der Alltags-Homophobie („der Typ ist mir suspekt, sein Name klingt schwul“) und dem Alltags-Antisemitismus („in Wirklichkeit ist nicht Putin an der Macht, sondern die jüdische Weltverschwörung“) haben wir dann noch nicht mal angefangen; geschweige denn von der Tatsache, dass das keineswegs hinter vorgehaltener Hand geäußerte Meinungen sind, durch den Filtermechanismus gedrungen nach vier Glas Wodka.

Kein Innehalten, kein betretenes „das ist mir so rausgerutscht“, keine Anzeichen dafür, dass man gerade etwas Schlimmes oder auch nur Ungewöhnliches gesagt haben könnte.

Was genau der Punkt ist, denn solche Sprüche sind tatsächlich Alltag – auch von gebildeten Menschen, Menschen mit Auslandserfahrung. Menschen, bei denen ich einen weiteren Horizont erwartet hätte. Das geht Hand in Hand mit dem Hurra-Patriotismus, der um so sichtbarer ist, je mehr den Russen ein gemeinsames Feindbild präsentiert wird; sei es nun die Regierung in der Ukraine oder die westliche Sanktionspolitik.

Ich wünschte also, ich wäre überrascht gewesen, bei Facebook auf den folgenden Post zu stoßen. Er zeigt einen Screenshot aus der App, mit der man sich einen Wagen von „City Mobil“ kommen lassen kann. Auf der Liste der Zusatzleistungen: Klimaanlage, Kindersitz, Raucher-Auto, slawischer Fahrer.

 

Ja, tatsächlich, einen slawischen Fahrer kann sich der geneigte Passagier herbeirufen, sogar kostenlos, im Gegensatz zum Kindersitz, der immerhin 100 Rubel kostet. In der englischen Fassung der App ist von „slavonic“ statt „slavic“ die Rede, weshalb ich mich kurz gefragt habe, ob wohl „russischsprachig“ gemeint sein könnte.

Taxi City Moskau Rassismus 

Aber nein, das russische Original sagt eindeutig „slawisch“ – und bei einem russischen Taxi-Unternehmen ist die Wahrscheinlichkeit, dass man „russischsprachig“ extra buchen muss, ja auch eher gering. Bisher hat hier noch jeder Taxifahrer russisch gesprochen, viele waren aber keine Russen. Sondern Turkmenen, Usbeken, Kasachen.

Zentralasiaten fegen Moskaus Straßen, schaffen den Müll weg, ackern auf Baustellen – und sind hier die Hauptzielscheibe für Ausländerfeinlichkeit. City Mobil kennt also seine Kunden, wenn es ihnen anbietet, sich auf Wunsch lieber von einem Russen (Polen? Serben? Bulgaren?) fahren zu lassen.

Was bleibt, sind eine Frage und eine Antwort. Die Frage ist, wie Apple eigentlich Apps mit rassistischen Inhalten behandelt. Grundsätzlich gibt es durchaus Vorschriften, besonders stringent scheinen sie aber nicht zu sein.

Und die Antwort? Bei Bekannten entdeckt man manchmal erst nach einiger Zeit, woran man ist. Bei City Mobil wissen wir es jetzt alle. Die Antwort kann also nur heißen: anderswo bestellen.

(Hat tip an Grace, durch die der FB-Post in meiner Timeline erschienen ist, und an Sebastian für Infos zu Apples Regelungen.)

Moskaus Metro in Karten

Das Metro-Netz der Moskauer Innenstadt, Screenshot aus der "Metropolitan"-App
Das Metro-Netz der Moskauer Innenstadt (Screenshot aus der „Metropolitan“-App)

Moskaus Metro zeichnet sich durch vieles aus: Durch prunkvolle Stationen, durch WLAN auf viele Strecken, durch vorbeiwabernde Geruchsblasen aus Alkohol und verschwitztem Polyester zu beliebiger Tageszeit. Auch – hier liebevoll und im Detail dokumentiert – durch Fossilienfunde in den Steinsäulen, zum Beispiel in der Haltestelle Pawelezkaja.

Was ihr allerdings fehlt, sind Metropläne, jedenfalls die aus Papier. Was man in London an jeder Haltestelle nachgeworfen bekommt, gibt es in Moskau nicht mal auf Nachfrage beim Fahrscheinkauf. Auch auf den Bahnsteigen hängen selten Netzpläne – dann schon eher an die Wand geflieste Listen der nächsten Stationen. Online gibt es dafür Metro-Pläne satt, und viele von ihnen zeigen mehr als bloß Linien und Haltestellen.

Die offizielle Karte

Official Moscow Metro map

Ende 2012 hat die Moskauer Stadtverwaltung einen Wettbewerb fürs beste Design eines Metroplans ausgeschrieben. Gewonnen hat das Designstudio von Artemy Lebedev, der hier noch mal genauer erklärt, was er sich dabei gedacht hat. Geschwungene Linien, sanfte Kurven. Kreise statt bloß Punkte, wo sich mehr als zwei Linien treffen. Übersichtlich.

Die Partisanenkarte

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Im Jahr drauf klebte in einigen Metro-Wagen plötzlich die sogenannte „Partisanenkarte“- kein Spaßprojekt, sondern ein gezieltes Statement. Die Gruppe „Partisaning„, die Kunst im öffentlichen Raum und politische Inhalte kombiniert, wollte darauf aufmerksam machen, was ihrer Meinung nach in der Moskauer Verkehrspolitik alles falsch läuft: Dass zum Beispiel teure neue Metrolinien gebaut werden, anstatt andere ÖPNV-Möglichkeiten geschickter zu kombinieren, oder dass Autos die Moskauer Innenstadt und die Ausfallstraßen verstopfen.

Bei der Guerilla-Aktion plakatierten die Aktivisten darum ihre eigene Karte, auf der unter anderem angegeben war, wie schnell man zu Fuß von A nach B kommt – und wie langsam mit dem Auto. Finanziert wurde das Projekt nach Angaben der Macher mit Spenden aus Deutschland.

Die Aussprachekarte

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Käse an dein prüdes Ohr! Eiche heiß nah Ratte! Park kühl zu lesen! Was klingt wie eine Kombination aus Wodka und Dada wird deutlich sinnvoller, wenn man sich die englische Originalfassung anschaut. Denn auf dieser Karte sind alle Metrohaltestellen so geschrieben, dass jeder mit Englischkenntnissen sie aussprechen kann.

„Cheese to your prude ear“ statt „Chistye Prudy“ also, „Oak hot near rat“ statt „Okhotny Ryad“ und „Park cool to read“ statt „Park Kultury“. Eine Idee, genau mittig zwischen kreativ und bekloppt – und eng verwandt mit zwei Aussprache-Tipps, die ich immer klasse fand: „Hey, ya forgot la yoghurt“ und „I’m a dinner jacket.“

Die historische Karte

Схемы линий / Картинки / Схемы и карты метро

Keine drei Dutzend Haltestellen, ein paar gezeichnete Sehenswürdigkeiten, so sah der Metroplan kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Einige Haltestellen heißen heute anders, andere – Kurskaja, Taganskaja – haben bis heute denselben Namen. Irreführend ist höchstens, dass diese Karte im Gegensatz zur Gewohnheit den Norden rechts hat, also um 90 Grad gedreht ist.

Von den Dreißigern bis in die Gegenwart reicht die Karten-Kollektion auf Metro.ru – da kann man sich gut mal festlesen.

Die Zeitreise-Karte

Interactive History of Moscow Metro

Leider nicht richtig einbetten lässt sich diese Seite, aber das Anklicken lohnt: Hier geht die Übersicht an Moskauer Metrokarten noch mehr ins Detail. Wer den Regler ganz nach links schiebt, der sieht die allererste, rote Linie mit ihren 13 Haltestellen.

Zum Kriegsende sind es schon drei Linien, in den Fünfzigern ist die Ringlinie nicht mal ein Halbkreis… Selber gucken geht hier in der „Interaktiven Metro-Geschichte“.

Die Frauenkarte

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Andere gucken in die Wolken und sehen Schäfchen, Alexei Sobolevsky guckt auf den Metroplan und sieht Frauen. Posiert wie der Verlauf der Linien, mal stramm diagonal, mal geschwungen. Alle Bilder gibt es hier als Galerie oder auf Sobolevskys Instagram-Account.

Die Zukunftskarte

Moscow metro in 100 years map

Zum Schluss darf noch mal Artemy Lebedev ran, denn er hat in die Zukunft geblickt. Sicherheitshalber direkt bis ins Jahr 2100 – kürzer wäre auch fatal, 2033 treiben sich in der Metro ja noch allerlei Mutanten rum.

Moskau hat inzwischen dreimal so viele Haltestellen, dazu eine zweite Ringlinie, einen zusätzlichen Flughafen und eine Problem: Langsam werden die Farben für neue Linine knapp, inzwischen gibt es sogar eine regenbogenfarbene. Das Ergebnis sieht, sagt Lebedev zu Recht, „ziemlich verrückt und wunderschön“ aus.

(Hier gibt es übrigens die Metro-Systeme einiger Weltmetropolen im Größenvergleich. Gehört nicht ganz hierher, ist aber auch interessant.)

Krimmer geht’s nimmer

Während in Deutschland derzeit auf alles WM-Kram draufgedruckt wird, bleibt in Russland das Schlüsselwort „Krim“. In beiden Fällen ist das Prinzip dasselbe: Hier, komm – wir nehmen diesen Begriff, mit dem Du etwas Positives verbindest, um Dir was anderes zu verkaufen. Im WM-Fall zum Beispiel Grillwürstchen, Chips, Kredite oder Mittelchen gegen Sodbrennen.

krim probokIn Russland, wo eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Annexion gutheißt, ist „Krim“ ein Feel-Good-Zauberwort. Was erklärt, weshalb sie auch für Ziele herhalten muss, bei denen sich ein Zusammenhang nicht mal mehr an den Haaren herbeiziehen lässt. Wie bei dieser Plakat-Kampagne der Verkehrsinitiative Probok.net. Der Slogan ist an Schlichtheit kaum zu überbieten – aber Hauptsache, die Krim kommt vor: „Wir haben uns die Krim (zurück)geholt. Holen wir uns jetzt ein Moskau ohne Staus!“

Bergfest

Sich „um acht bei den Knoblauchschälern“ verabreden. Wissen, dass 50 Yuan für zehn Minuten Taxifahrt zu viel sind. Die Batterien im Dunkeln aus dem Roller montieren können. Endlich das chinesische Wort für „Sprite“ so aussprechen können, dass man auch eine Sprite bekommt. Mit einer Hand die Zahlen bis 10 zeigen können. Eine Atemmaske besitzen.

Nicht mehr darauf hoffen, dass einen die Leute auf dem U-Bahnsteig aussteigen lassen, ehe sie reindrängen. Wissen, dass sich alles, aber auch alles per Dreirad transportieren lässt. Zweimal täglich die Handtasche durchleuchten lassen. In jedem noch so kleinen Café Wifi erwarten. Seit sechs Wochen nicht ein Mal gekocht haben. Leute im Schlafanzug auf der Straße normal finden.

Ein kaltes Zimmer mit Luft aus der Klimaanlage heizen. Klopapier in einem Eimer neben der Toilette entsorgen. Feststellen, dass sich die chinesische Staatszensur und die Gema-Sperren bei Youtube nach demselben Prinzip umsurfen lassen. Vom Kellner aus dem Lieblingscafé abends in einem anderen Stadtteil erkannt und gegrüßt werden. Alleine ein Zugticket kaufen können. Ampeln als ausschließlich dekorative Elemente in der Stadtplanung begreifen.

Mit der Selbstverständlichkeit, mit der man zuhause „beim Italiener“ ist, am Telefon sagen: „Wir sind grad beim Uiguren, komm doch vorbei.“ Wissen, wo in der Nachbarschaft der nächste Schalke-Fan wohnt. Und wie man im Stadion den Schiedsrichter behutsam zu mehr Akkuratesse ermahnt.

Nicht mehr alles toll finden. Nicht mehr alles nervig finden.

Bergfest.

Die sechste China-Woche in Links

Keine Frage, das große Thema diese Woche war der Artikel in der New York Times über das Vermögen der Familie von Wen Jiabao. Mehr dazu hier und hier. In diesem Post zur sechsten Medienbotschafter-Woche in China folgt also eine Runde Links, bei denen es schade wäre, wenn sie durch den Wirbel um die Times-Berichterstattung unbeachtet blieben.

China’s ‘Leftover’ Women – Leta Hong Fincher über Chinas „alte Jungfern“, zu denen man bereits gehört, wenn man gar nicht mal so alt ist: „In 2007, the Women’s Federation defined “leftover” women (sheng nu) as unmarried women over the age of 27 and China’s Ministry of Education added the term to its official lexicon.“

Me and My Censor – so eine anschauliche Beschreibung, wie Zensur im chinesischen Redaktionsalltag funktioniert, habe ich bei Eveline Chao zum ersten Mal gelesen. „Occasionally, Snow would send something back with none of her colorful commentary or explanations, and simply write: ‚Wrong opinion.‘ “

Porsche vs Bicycle – mit welchem kommt man besser durch Pekings Berufsverkehr? Hier das Versuchsvideo von Bloomberg:

The mop haired British entrepreneur soon to become an official part of China’s first family – die Zeile ist ein bisschen sehr lockig, aber Tom Phillips, Malcolm Moore und Sam Marsden haben mit dem angeheiraten britischen Neffen von Xi Jinping ganz offensichtlich eine interessante Figur entdeckt. Eine Figur, die anfangs nur durch „Ihren Namen und ihre ’schlecht sitzenden Jacketts‘ auffiel“.

Time to loosen family planning policy: think tank – wenn die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua berichtet, dass ein Think Tank der Regierung für eine Lockerung der Einkindpolitik plädiert, dann tut sich was. „The CDRF said China will have an ultra-low fertility rate after 2026 and that the government should start encouraging families to have more children.

Warum Frau Liu allein in die Kantine gehen musste – Nina Trentmann porträtiert Mingming Liu, die das Asiengeschäft einer deutschen Papierfirma verantwortet. “ ‚In Deutschland sagte man mir, Sie können ja Sachbearbeiterin oder Sekretärin werden. Das kam natürlich nicht in Frage.‘ “

Wer zu spät eintritt, bleibt unten – Felix Lee hat mit drei berufstätigen Chinesen darüber gesprochen, was es ihnen bringt, in der Kommunistischen Partei zu sein. „Wer als Beamter oder auf sonst eine Weise in den Staatsdienst möchte, kommt um eine Mitgliedschaft nicht herum. Aber auch wer in einem Staatsunternehmen aufsteigen will – und davon gibt es in der Volksrepublik jede Menge – braucht ein Parteibuch.“